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Neun Porträts der Seele: Die spirituelle Dimension des Enneagramms
Neun Porträts der Seele: Die spirituelle Dimension des Enneagramms
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Neun Porträts der Seele: Die spirituelle Dimension des Enneagramms

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Jeder Mensch nimmt die Realität auf eine ganz bestimmte Weise wahr - auf jene nämlich, die seinem Typus, seinem Punkt im Enneagramm entspricht. Es ist, als trügen wir eine Brille, die uns ein verzerrtes und gefärbtes Bild unser selbst aufzwingt, all unsere Handlungen und Verhaltensweisen bestimmt und uns daran hindert, die wahre Wirklichkeit zu erkennen. In der Arbeit mit dem Enneagramm lernen wir, diese Brille genauer zu betrachten und den Einfluss, den sie auf unser Leben ausübt, wahrzunehmen, zu spüren und als Hinweis oder Landkarte für unsere Befreiung zu nutzen. Die meisten Autoren behandeln das Enneagramm aus psychologischer Sicht - Maitri hingegen sieht und beschreibt es außerdem als Instrument für spirituelle Transformation. Alle Anteile unserer Persönlichkeit liefern Hinweise auf unser wahres Wesen. Wenn wir sie ehrlich anschauen, verstehen und umarmen, verwandeln sie sich in unsere Seelenqualitäten. Unsere ursprüngliche Freude, Lebendigkeit, Liebe und unsere Kraft stehen uns wieder zur Verfügung.
In ihrer sehr differenzierten, sorgfältig recherchierten und brillant dargestellten Studie des Enneagramms zeigt Sandra Maitri dem Leser einen Weg, sich selbst ehrlich zu begegnen und das, was er vorfindet, mit den Augen der Wahrheit und der Liebe zu betrachten. Das Buch hält dem Leser einen Spiegel vor, aus dem ihm hinter den Farben und Schatten seiner Persönlichkeit seine Seele zulächelt.
LanguageDeutsch
Release dateDec 9, 2014
ISBN9783899018738
Neun Porträts der Seele: Die spirituelle Dimension des Enneagramms

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    This is a good exploration of the Enneagram. Sandra Maitri participated at the beginning when Claudio Naranjo introduced Americans to the personality type analysis that had been developed by him and a little earlier by Oscar Ichazo. Following A.H. Almaas, Maitri concentates on the descrbing the Holy Ideas of the Enneagram, giving a different angle than those who look more at passions and fixation. She also describes the body types that go with each Enneagram number.

Book preview

Neun Porträts der Seele - Sandra Maitri

1

DAS INNERE DREIECK UNDDER FALL

Das Enneagramm ist eine Figur, die aus einem inneren Dreieck mit den Punkten Neun, Sechs und Drei sowie einer äußeren Form besteht, welche die Punkte Eins, Vier, Zwei, Acht, Fünf und Sieben verbindet. Diese beiden Formen stehen nicht miteinander in Verbindung (siehe Diagramm 4), wodurch das innere Dreieck eine gewisse Eigenständigkeit besitzt. Auf der Ebene des Enneagramms der Persönlichkeit stellt das innere Dreieck auslösende Faktoren und Stadien des archetypischen Prozesses dar, in welchem wir den Kontakt zu unserem grundlegenden oder essenziellen Wesen verlieren und schließlich eine Ichstruktur entwickeln. Wenn wir uns selbst frei von allen vergangenen Einflüssen wahrnehmen, sind wir identisch mit unserem essenziellen Wesen, unserem angeborenen und unkonditionierten Bewusstseinszustand. Es ist unser frühkindlicher Zustand, der mit der jeweiligen Eigenart unserer Seele wie Freundlichkeit, Aufgewecktheit, Robustheit und so weiter korrespondiert. Als Kleinkinder können wir unsere Erfahrung allerdings nicht als solche erkennen, weil wir noch nicht zur Selbstreflexion fähig sind.

Der Prozess, in dessen Verlauf wir die Verbindung zu unserem wahren Wesen verlieren, ist universal: Jeder, der ein Ich entwickelt, macht ihn durch – im Grunde also jeder Mensch auf diesem Planeten, es sei denn, er wird als Heiliger geboren oder als Narr, das heißt als jemand, der keine Ichstruktur entwickelt. Jeder Enneatyp des Dreiecks „spezialisiert" sich sozusagen auf einen der drei archetypischen Verlustmomente und entwickelt sich in dessen Umfeld. Genauso könnte man sagen, dass die drei Typen die drei entsprechenden Phasen im Prozess der Ich-Entwicklung beleuchten und präzisieren, während die restlichen Punkte des Enneagramms diesen Prozess weiterverfolgen. Indem wir den durch das innere Dreieck dargestellten Prozess verstehen, gewinnen wir nicht nur tiefere Einsichten in das Enneagramm der Persönlichkeit, sondern erkennen auch, was wir in uns konfrontieren müssen, um uns wieder mit unserem essenziellen Wesen zu verbinden. Da ich hier die Phasen eines universellen Prozesses und nicht die drei Enneatypen als solche beschreibe, werde ich mich auf Punkt Neun, Sechs und Drei beziehen, anstatt die Namen der zugehörigen Enneatypen zu verwenden.

Diagramm 4

DAS INNERE DREIECK

Wie seine Position an der Spitze des Enneagramms schon andeutet, repräsentiert Punkt Neun das grundlegende Prinzip, welches die Ich-Entwicklung einleitet, den eigentlichen Verlust des Kontakts zu unserem wahren Wesen. Dieser Kontaktverlust wird in der spirituellen Literatur oft als Schlaf bezeichnet, der einen Zustand von Unwissen und Dunkelheit mit sich bringt. Der Prozess, in dem wir den Kontakt zu unseren angeborenen und noch nicht konditionierten Anteilen verlieren, vollzieht sich als allmählicher Vorgang während der ersten Lebensjahre, und im Alter von vier Jahren haben wir meist schon keinen bewussten Zugang zur Essenz mehr. Und damit, dass wir uns unseres wahren Wesens nicht mehr bewusst sind, beginnt der Bau des Gerüstes, der Aufbau unserer Ichstruktur.

Für unsere spirituelle Entwicklung ist der Aufbau dieser Struktur eine notwendige Vorbedingung, da das sich selbst reflektierende Bewusstsein eine Errungenschaft des Ich ist. Ohne es könnten wir keine Wahrnehmung unseres eigenen Bewusstseins entwickeln. Verschiedene Traditionen erklären diese anscheinend unvermeidliche und offensichtlich beklagenswerte Entwicklung auf ganz unterschiedliche Weise. In ihrem Kern bleibt sie ein Geheimnis, und unsere Vorstellungen über die Gründe, die dazu geführt haben, sind letztendlich bedeutungslos. Es ist einfach so wie es ist, und wir können uns entweder mit unserer Entfremdung auseinandersetzen oder weiterschlafen, ohne sie zu erkennen.

Es gibt eine Anzahl von Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass wir den Kontakt zur Essenz verlieren. Der erste hat damit zu tun, dass wir uns mit unserem Körper identifizieren und ihn für das halten, was oder wer wir sind. Nach Heinz Hartmann, dem Vater der Ich-Psychologie und einem der bedeutendsten post-freudianischen Psychoanalytiker, kann man unser Bewusstsein kurz nach der Geburt unter anderem als undifferenzierte Matrix beschreiben, in der die psychologischen Strukturen, die erst später in Erscheinung treten – das Ich, das Über-Ich und die Triebe –, weder eine Form angenommen haben noch sich voneinander unterscheiden. Rene Spitz, in etwa ein Zeitgenosse Hartmanns und einer der ersten, der sich der analytischen Erforschung der Mutter-Kind-Beziehung widmete, erweiterte dieses Konzept um den Begriff der Nichtdifferenziertheit, wo nicht zwischen Innen und Außen, dem Selbst und dem Anderen, Psyche und Soma unterschieden wird und demnach auch keine Wahrnehmung (kein Erkennen) stattfindet.

Basierend auf den Erfahrungen jener Menschen, die in die tiefsten Schichten ihrer Persönlichkeitsstruktur und zu den dort eingeschlossenen Erinnerungen vorgedrungen sind, gehen wir davon aus, dass sich der Säugling in einem Zustand der Einheit befindet, der sich aus Körperempfindungen, Emotionen, Gefühlen und essenziellen Zuständen zusammensetzt. Alle Inhalte des Bewusstseins sind in einer Art Ursuppe miteinander vermischt. Es ist wahrscheinlich, dass ein Kind die Unterschiede zwischen den Dingen zwar wahrnimmt, die Dinge aber nicht wirklich als getrennt erkennt. Es mag zum Beispiel die Wärme der Mutterbrust fühlen, die rote Farbe seines Gummiballs sehen und das Hungergefühl in seinem Bauch spüren, aber höchstwahrscheinlich unterscheiden sich diese Erfahrungen in seiner Vorstellung noch nicht voneinander. Die Wärme, das Rot und der Hunger hätten alle teil an der Einheit seines Erlebens.

Die erkennende Wahrnehmung beginnt, wenn wir zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen unterscheiden und die Erinnerungsspuren dieser Eindrücke allmählich in unserem sich entwickelnden zentralen Nervensystem gespeichert werden. Die Wiederholung dieser Eindrücke führt schließlich zur Gedächtnisbildung. Zu allererst unterscheiden wir zwischen Schmerz und Freude, und aus diesem Grund bildet das Freudianische Prinzip, demzufolge wir nach der Freude streben und den Schmerz zu vermeiden suchen, die Basis unserer Ichstruktur.

Allmählich bildet sich eine weitere Differenzierung heraus: Ein Gefühl des Innen im Gegensatz zum Außen beginnt, Form anzunehmen. Die gesammelten Empfindungen aus dem Inneren unseres Körpers werden als rudimentäres inneres Identitätsgefühl registriert und bilden die Basis für unser weiterhin vorhandenes Selbstgefühl. Das sich häufig wiederholende Erlebnis, von einer mütterlichen Bezugsperson berührt zu werden, führt schließlich dazu, dass die vielfältigen Empfindungen an der Peripherie des Körpers zu einem Gefühl für die Körpergrenzen zusammenfließen. Der Körper eines jeden Menschen ist vom Körper eines jeden anderen Menschen getrennt, und wiederholter Umweltkontakt über die Haut lässt das Gefühl entstehen, ein getrenntes und eigenes Wesen zu sein. Dieses Gefühl von Getrenntsein, diese Wahrnehmung unser selbst als etwas, das eindeutige Grenzen hat, bildet eine weitere fundamentale Überzeugung und wird zu einem Charakteristikum der Ichstruktur.

Das sich selbst reflektierende Bewusstsein hat seinen Ursprung also in körperlichen Empfindungen, und unser Gefühl dafür, wer und was wir sind, wird automatisch mit dem Körper in Verbindung gebracht. „Das Ich, sagte Freud, „ist vor allem ein Körper-Ich.¹ Diese Identifikation mit dem Körper und seiner faktischen Getrenntheit bildet die Basis für unsere Selbstdefinition, die uns von unserem frühkindlichen Bewusstsein abschneidet, in dem alles als eine Ganzheit erfahren wird – als genau jene Einheit, die auch in tiefen spirituellen Erlebnissen erfahrbar ist, wie wir den Berichten von Mystikern aller Zeiten entnehmen können. In Momenten, wo die vorgebliche inhärente Getrenntheit aufgehoben ist, erkennen wir, dass unser wahres Wesen mit dem Wesen von allem, was existiert, eins ist. Wenn wir jedoch mit unseren Körpern und daher mit unserer Getrenntheit identifiziert sind, erleben wir uns nicht mehr als einzigartige Manifestation eines Einen oder als verschiedene Zellen im einen Körper des Universums, sondern als endgültig getrennt und deshalb vom Rest der Wirklichkeit abgeschnitten.

Der zweite Faktor, der dazu beiträgt, dass wir den Kontakt zu unserem essenziellen Wesen verlieren, hat mit Unzulänglichkeiten im kindlichen Umfeld zu tun – zum Beispiel mit Grenzüberschreitungen und einem Mangel an Einfühlungsvermögen und Verständnis von Seiten der Umwelt, besonders der mütterlichen Bezugsperson. Da Kinder ihre Bedürfnisse noch nicht verbal mitteilen können, ist dieser Mangel an Einfühlungsvermögen größtenteils unvermeidlich – die Mutter kann nur raten, ob das Kind gerade Hunger, Blähungen oder Stuhlgang hat. Auf Schmerz oder Unwohlsein, die sich zunächst körperlich äußern, reagiert das Baby, indem es versucht, sich von ihnen zu befreien. Das wird durch die Angst um das Überleben noch geschürt, und das Baby steigert sich auf Alarmstufe eins, um sich vor dem Schmerz zu schützen und dessen Ursache abzustellen. Diese Reaktion führt zu einer Trennung von jenem nicht differenzierten Zustand, in dem es völlig eins mit der Essenz ist. Wenn das Unbehagen vorbei ist, löst sich auch das Bewusstsein des Kindes aufs Neue in Nichtdifferenziertheit auf.

Dieser Kreislauf von Reaktion und Entspannung wiederholt sich je nach Umfeld in bestimmten Abständen, wobei schwerwiegende Übergriffe wie zum Beispiel Missbrauch zu einer mehr oder weniger anhaltenden Reaktionslage führen. Und selbst wenn keine schweren Traumata vorliegen, empfinden alle normalen Neurotiker die Unterstützung, die ihnen ihr Umfeld zur Verfügung stellt, als mehr oder weniger unzuverlässig – was dazu führt, dass wir alle in gewissem Maße getrennt von unserer wahren Natur aufwachsen. Im folgenden Abschnitt beschreibt Almaas, wie das Individuum durch den Verlust der fortwährenden Einstimmung und Empfänglichkeit – oder, in psychologischer Terminologie, des Gehaltenwerdens (holding)² – der Umwelt zu misstrauen beginnt, was wiederum zur Reaktionshaltung im Kern der Ichentwicklung führt:

Das Kind muss auf den Verlust des Gehaltenwerdens (holding) reagieren, was dazu führt, dass es nicht mehr einfach ist und die spontane und natürliche Entfaltung der Seele unterbrochen wird. Gewinnt diese Reaktionshaltung die Vorherrschaft, dann bildet sie – anstelle der Kontinuität des So-Seins – die Basis der kindlichen Entwicklung. Ein Kind, dessen Entwicklung in einem unsicheren Umfeld auf der Reaktionshaltung aufbaut, wird sich getrennt vom Sein entwickeln, mit seinem Ego als wichtigstem Anteil. Entfaltet sich seine Entwicklung dagegen im Einklang mit der Kontinuität des Seins, dann wird sein Bewusstsein in seinem essenziellen Wesen beheimatet bleiben und seine Entwicklung die Reifung und der Ausdruck jenes Wesens sein.

Je weniger Fürsorge das Umfeld bietet, desto mehr wird die kindliche Entwicklung auf einer Reaktionshaltung basieren, die eigentlich dem Versuch des Kindes entspricht, mit einem unzuverlässigen Umfeld klarzukommen. Das Kind wird Mechanismen entwickeln, um in einem Umfeld zurechtzukommen, das nicht vertrauenswürdig ist, und diese Mechanismen bilden die Basis des sich entwickelnden Selbstgefühls oder Ich. Diese Entwicklung des kindlichen Bewusstseins gründet also im Misstrauen, das daher teilweise das Fundament für die Ich-Entwicklung bildet. Das kindliche Bewusstsein – seine Seele – verinnerlicht das Umfeld, in dem es aufwächst, und projiziert dieses Umfeld auf die Welt.

Das Ich beinhaltet also implizit ein grundlegendes Misstrauen in die Realität. Weil das fürsorgliche Umfeld versagt hat, kann auch kein Grundvertrauen entstehen, was wiederum die Trennung vom Sein verursacht. Und dieses Getrenntsein führt zur Reaktionshaltung oder Ich-Aktivität.³

Wird unsere Verbindung zu unserem ursprünglichen undifferenzierten Zustand unterbrochen, entsteht eine Spaltung oder Dualität zwischen uns selbst und der Essenz. Diese Spaltung führt zu unserer Identifikation mit dem Körper und zu der Überzeugung, wirklich getrennt zu sein. Damit wird die Illusion der Dualität geboren, das spirituelle Thema par excellence, aufgrund dessen wir uns und das Sein für zwei unterschiedliche Dinge halten.

Der dritte Faktor, der dazu beiträgt , dass wir den Kontakt zum Sein verlieren, hat damit zu tun, dass unsere Eltern nicht im Einklang mit unseren Tiefen waren. Wir sind von Eltern großgezogen worden, die (falls sie nicht erleuchtet waren) sich selbst letztendlich für abgegrenzte Wesenheiten hielten. Das prägt unser Bewusstsein zutiefst. Sie waren selbst nicht auf ihr essenzielles Wesen eingestimmt und daher auch nicht in der Lage, unsere wahren Tiefen zu erkennen, zu würdigen oder zu spiegeln. Während der ersten Lebensmonate ist unser Bewusstsein mit dem der Mutter verschmolzen, und wir erleben uns genau so, wie sie uns erlebt. Margaret Mahler sagt dazu: „Während der symbiotischen Phase entsteht durch das wechselseitige wortlose Zeichengeben jene unlöschbar eingeprägte Konfiguration – das komplexe Muster – das zum Leitmotiv für die ‚Entwicklung des Babys zum Kind seiner spezifischen Mutter‘ wird⁴, das heißt, wir werden zu dem, was wir in den Augen unserer Mutter sind. Nicht nur Gesellschaft und Kultur werden von den Eltern auf uns übertragen, sondern auch die gesamte Weltsicht, auf der jene beruhen. Diese Weltsicht, die wir mit der Muttermilch aufnehmen, ist die Sichtweise der Persönlichkeit, in der das Körperlich-Materielle als die einzig wahre Dimension der Realität wahrgenommen wird. Die tiefere Dimension der Wirklichkeit – die Dimension unseres wahren Wesens – wird nicht fest genug gehalten und uns zurückgespiegelt, was dazu führt, dass wir allmählich selbst den Kontakt zu ihr verlieren.

Wie in der Einführung angedeutet, besitzt die Essenz – das Wesen unseres Bewusstseins oder unserer Seele – viele verschieden Eigenschaften, die als die Essenziellen Aspekte bezeichnet werden. Freundlichkeit, Stärke, Intelligenz, Freude, Frieden, Unfehlbarkeit und Erfüllung sind nur einige davon. Die wahre Natur unserer Seele ist also eine einzige Gegebenheit, aber sie nimmt entweder verschiedene Eigenschaften an, oder die Eigenschaft, mit der wir zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders im Kontakt sind, verändert sich. Welche Eigenschaft die Essenz zum Ausdruck bringt, hängt entweder von der äußeren Situation ab, in der wir uns befinden, oder davon, was in unserem inneren Prozess auftaucht. In Gegenwart eines leidenden Freundes wird vielleicht Mitgefühl in uns aufsteigen, während wir so etwas wie innere Unterstützung erfahren, wenn wir in Kontakt mit unserer Unsicherheit sind. Eine Sufigeschichte berichtet von fünf blinden Mullahs, die einen Elefanten berühren, weil sie wissen wollen, wie er aussieht. Jeder bekommt einen anderen Körperteil zu fassen, worauf sie alle einen unterschiedlichen Eindruck von dem Tier bekommen. Auf dieselbe Weise repräsentiert jeder Aspekt eine andere Eigenschaft unseres wahren Wesens, obwohl alle Teil derselben Sache sind. Die Essenz mag uns verschiedene Gesichter zeigen, aber dennoch bleibt sie immer eins.

Das Baby erlebt offenbar unterschiedliche Essenzqualitäten, doch einige davon nehmen während bestimmter Entwicklungsphasen Vorrangstellung ein. In der von Mahler Symbiose genannten Phase, die etwa im Alter zwischen zwei und sechs Monaten stattfindet, steht der Aspekt der ekstatischen Liebe im Vordergrund, der sich durch eine schmelzende Süße ebenso wie durch das Gefühl auszeichnet, mit allem verbunden zu sein. Im Verlauf dieser Phase fühlen sich Mutter und Kind miteinander verschmolzen, und es ist eben dieses beglückende Gefühl der Einheit, das Erwachsene unbewusst wiederherzustellen versuchen, wenn sie sich verlieben. Wenn das Kleinkind etwa im sechsten oder siebenten Monat zu krabbeln und sich physisch von der Mutter abzulösen beginnt, entwickelt es damit auch ein inneres Unterscheidungsgefühl zwischen sich und der Mutter – es „schlüpft" aus der symbiotischen Eierschale. Zu dieser Unterphase der Differenzierung gehört ein Aspekt, der sich durch energetische Ausdehnung und ein Gefühl von Kraft und Kompetenz auszeichnet. Das Kind beginnt nun seine Welt zu erforschen und ergötzt sich an seiner Fähigkeit, zu berühren, zu schmecken und all die faszinierenden Menschen und Dinge zu beeinflussen. Dadurch tritt ein anderer Aspekt in den Vordergrund, der ein Gefühl des Entzückens ebenso mit sich bringt wie eine unerschöpfliche ziellose Neugier auf alle Objekte, denen das Kind begegnet. In jedem Stadium der Ich-Entwicklung, durch welches das Kind sich bewegt, steht der dazugehörige Aspekt im Vordergrund; und jedes Trauma oder jede Störung, die in einer bestimmten Entwicklungsphase auftreten und vor denen selbst die gut Angepassten nicht verschont bleiben, schwächen unseren Kontakt zum entsprechenden essenziellen Aspekt. Diese Störungen werden zu einem Kapitel der in unseren Körpern und Seelen gespeicherten Geschichte.

Dieser Kontaktverlust mit unseren Tiefen wird von einigen spirituellen Schulen als „der Fall" bezeichnet. Er ist kein einmaliges Ereignis, wie manche Lehren anzudeuten scheinen, sondern vollzieht sich allmählich in den ersten vier Lebensjahren, während wir die Entwicklungsstufen durchschreiten, in denen bestimmte Aspekte im Vordergrund stehen. Wie schon besprochen, führen Störungen und die mangelnde Spiegelung dieser Aspekte dazu, dass sie schrittweise aus dem Bewusstsein verschwinden – einige allmählich, andere unvermittelt. Irgendwann ist ein kritisches Gleichgewicht überschritten, und der gesamte essenzielle Bereich ist dem bewussten Gewahrsein nicht mehr zugänglich. Essenz ist das Wesen der Seele. Der Fall bedeutet also nicht den wirklichen Verlust der Essenz. Wir verlieren einfach nur den Kontakt zu ihr. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn sie bedeutet, dass der essenzielle Bereich zu allen Zeiten gegenwärtig ist – wir haben ihn nur „vergessen" oder aus dem Bewusstsein verbannt. Er ist in jedem Moment vorhanden und kann von dem, was und wer wir sind, nicht getrennt werden, er ist jedoch zu einem Teil unseres Unbewussten geworden. Das Wissen um diese Tatsache bildet die Basis für einige spirituelle Lehren, die behaupten, dass wir bereits erleuchtet sind. Das ist für die meisten von uns jedoch ein schwacher Trost, denn der essenzielle Bereich erscheint nicht einfach nur deshalb in unserem Bewusstsein, weil wir im Kopf wissen, dass er da

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