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Todesküste: Hinterm Deich Krimi
Todesküste: Hinterm Deich Krimi
Todesküste: Hinterm Deich Krimi
Ebook381 pages5 hours

Todesküste: Hinterm Deich Krimi

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About this ebook

Auf dem Heider Marktfrieden, dem historischen Fest Dithmarschens, wird ein Mann getötet. Kriminalrat Lüder Lüders vom polizeilichen Staatsschutz in Kiel schaltet sich ein, da die außergewöhnliche Mordmethode auf einen politischen oder terroristischen Hintergrund schließen lässt. Als in der Husumer Marienkirche ein weiteres Opfer gefunden wird, bildet Lüders mit Oberkommissar Große Jäger ein Team, um den Geist zu jagen, dessen grauenvolles Aussehen jeden Zeugen erstarren lässt.
LanguageDeutsch
PublisherEmons Verlag
Release dateDec 12, 2011
ISBN9783863580483
Todesküste: Hinterm Deich Krimi
Author

Hannes Nygaard

Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er mehr als sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand. www.hannes-nygaard.de

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    Todesküste - Hannes Nygaard

    Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief« sowie die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine« und »Niedersachsen Mafia«. In der Emons-TATORT-Reihe erschienen »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.

    www.hannes-nygaard.de

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

    © 2008 Hermann-Josef Emons Verlag

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz

    Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin

    eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    ISBN 978-3-86358-048-3

    Hinterm Deich Krimi 7

    Originalausgabe

    Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:

    Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

    Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG,

    Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich (www.editio-dialog.com)

    Für Celine, Pepe und Anna-Lena

    Heute ist die Utopie vom Vormittag

    die Wirklichkeit vom Nachmittag.

    Friedrich Nietzsche

    EINS

    Lars Meiners sah, wie sein Vater Steffen einen Stoß in den Rücken erhielt, stolperte und dabei einem anderen Mann so nahe kam, dass dieser ihm einen bösen Blick zuwarf. Bevor Steffen Meiners sich umdrehen konnte, hörte Lars neben sich eine Männerstimme.

    »Entschuldigung. Aber bei diesem Gedränge … War nicht so gemeint.« Der Rest der Worte des grauhaarigen Mannes ging im Lärm der Menge unter, während er von seiner Frau am Ärmel fortgezogen wurde.

    »Manno, ist das ätzend«, beklagte sich Lars, der hoch aufgeschossene schlaksige Vierzehnjährige.

    »Wenn du mit deinen Freunden zum Heider Jahrmarkt gehst, ist es genauso voll«, entgegnete sein Vater.

    »Das ist ganz was anderes. Aber dies hier …«

    »Nun beschwer dich nicht ständig. Mama und Heike haben sich lange auf den Marktfrieden gefreut.«

    Lars suchte seine Mutter, die mit seiner zwölfjährigen Schwester durch andere Besucher des Volksfestes abgedrängt worden war. An dieser Stelle im »Dorf Tellingstedt«, wie der Bereich des Festplatzes genannt wurde, stockte der Besucherfluss. Die Ursache waren zwei Musikanten in historischen Gewändern, die mit ihren Dudelsäcken ein »Platzkonzert« gaben, während gegenüber das qualmende Holzfeuer einer Zinngießerei die Menschen ein wenig auf Abstand hielt. An einem Marktstand war ein großer Waschzuber aufgebaut, und ein Mann winkte fröhlich aus dem Gefäß, während eine junge Frau weitere Kunden für ihre Badestube anzulocken suchte, dabei aber schlagfertig einer Gruppe von jungen Leuten antwortete, die offenkundig ein wenig zu viel vom dargebotenen Met probiert hatten.

    Lars entdeckte den blonden Wuschelkopf seiner Mutter ein Stück in Richtung eines Standes, wo ein kräftiger Mann an der Spindel einer großen Druckpresse drehte und die Kunst des Buchdrucks vorführte.

    Das Bilderbuchwetter über Dithmarschen hatte zahlreiche Besucher aus der Stadt, aber auch von weiter her zum traditionellen Volksfest »Heider Marktfrieden« – »De vrie markede tho der Heyde« – angelockt, das den Eindruck und die Atmosphäre des Markttreibens im Spätmittelalter wiedergeben soll.

    Gaukler und Musikanten liefen durch die Gassen und gaben ihre Kunst zum Besten. Mittelalterliche Handwerke boten ihre Waren und Dienste an und zeigten dem erstaunten Publikum, mit welchem Geschick auch Menschen von heute mit den alten Techniken und Werkzeugen umzugehen verstanden. Darunter waren historische Gewerke wie Korbmacher und Besenbinder, aber auch Glasbläser und Kunst- und Goldschmiede, die ihr Können nach traditioneller Art vor den Augen der Besucher darboten. Natürlich durften auch mittelalterliche Gaumengenüsse nicht fehlen, vom rustikalen Brot über den Spießbraten bis zum Met, selbst wenn das Bier aus der heutigen Zeit stammte und in Konkurrenz zu den Weinschenken stand, an deren rohen Holztischen sich die Leute drängten. Das lebhafte Treiben mit den fröhlichen Menschen und bunten historischen Gewändern wurde von einem unbeschreiblichen Duft von Holzfeuerrauch und Gewürzen begleitet.

    Über dem Ganzen thronte der Turm der alten St.-Jürgen-Kirche, die den Heider Marktplatz beherrschte, und selbst das nicht zum Mittelalter passende Gebäudeensemble, das von der alten Postelvilla geprägt wurde, wirkte nicht fremd.

    St. Jürgen, so hatte sein Vater ihm einmal erklärt, ist niederdeutsch für Georg. Und der Ritter St. Georg ist nicht nur der Pate der Kirche, sondern auch der Stadt Heide.

    Lars warf einen kurzen Blick auf das wunderbar restaurierte Gebäude, in dem sich heute die Volkshochschule der Stadt befand. Er wusste, dass insbesondere sein Vater die gemeinsamen Ausflüge mit der Familie liebte und einfach nicht verstehen wollte, dass Jugendliche andere Interessen hatten. Lars fand es öde, sich durch das Gedränge zu schieben. Lieber hätte er den Marktfrieden mit seinen Freunden besucht. Zu Hause hatte es deshalb Diskussionen gegeben. Schließlich hatte sich der Junge dem Wunsch des Vaters gebeugt. Es ist das letzte Mal, dass ich den Alten und Heike hinterhertrotte, dachte sich Lars. In der Menge entdeckte er Kevin, Manuel und Fathi.

    »Hey, Lars«, rief ihm Kevin zu. »Komm. Wir ziehen ein bisschen rum.«

    »Nee«, antwortete Lars missmutig und schluckte eine Erklärung hinunter, als sich sein Vater zu ihm umdrehte.

    »Was ist?«, fragte Steffen Meiners und sah dann Lars’ Freunde. »Hallo, Kevin«, rief er. »Wo sind deine Eltern?«

    Der rothaarige Junge lachte, dass die Sommersprossen in seinem Gesicht tanzten. »Die nehme ich doch nicht mit.«

    »Da siehst du’s«, maulte Lars. »Die müssen nicht mit ihrer Sippe losziehen.«

    Meiners stupste seinem Sohn kameradschaftlich in die Seite. »Verstehe ich ja. Aber Mutti und Heike finden es nun einmal schön, wenn wir gemeinsam etwas unternehmen. Und der Heider Marktfrieden ist doch etwas Besonderes für uns Dithmarscher. So eine Veranstaltung gibt es nur hier.«

    »Trotzdem. Und außerdem war es dein Wunsch, nicht Mamas. Meine blöde Schwester hat sowieso andere Interessen.«

    Meiners lachte vergnügt. »Mensch, Junge. Wir machen einen Deal. Irgendwann sind die beiden Frauen müde. Dann gehen wir etwas essen. Ich stecke dir noch einen kleinen Taschengeld-Bonus zu, und dann verdrückst du dich und ziehst mit deinen Kumpeln los. Einverstanden?« Steffen Meiners fuhr seinem Sohn durch die hochgegelten Haare.

    Lars zuckte halbherzig zurück. Er mochte diese Geste nicht. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Erwachsene behandelten sich untereinander auch nicht so. Im vertrauten Kreis war es etwas anderes. Zwar brummte er dann auch, aber insgeheim freute er sich über diese Art der Vertrautheit zwischen ihm und seinem Vater. Steffen Meiners hatte den schwierigen Spagat zwischen väterlicher Autorität und kameradschaftlicher Freundschaft zu seinem pubertierenden Sohn erfolgreich geschafft. Er wies Lars noch an den Stellen den Weg, wo der Jugendliche die Gefahren nicht selbst erkennen konnte, behandelte ihn auf der anderen Seite aber schon wie einen werdenden Erwachsenen. Insbesondere das Glas Bier, das er beim familiären Grillen seinem Sohn anbot, verlieh Lars das Gefühl, akzeptiert zu sein.

    Eigentlich ist er ganz in Ordnung, dachte Lars, drehte sich kurz zu seinem Vater um und zwinkerte ihm zu. Dann versuchte er, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ein paar Schritte weiter stieß ihn sein Vater an.

    »Sieh mal, da drüben. Der hat ja eine tolle Kostümierung. Sieht aus wie ein Leprakranker.« Lars versuchte, sich umzudrehen, wurde aber gleichzeitig durch seine Schwester abgelenkt, die mit ihrer hellen Mädchenstimme seinen Namen rief. Er konnte Heike im Gewühl nicht entdecken, sah aber den Blondschopf seiner Mutter.

    Plötzlich bekam er einen heftigen Stoß in den Rücken, erschrak und wollte sich zornig umdrehen, als auch die Menschen in seiner Umgebung trotz der Enge auseinanderwichen. Lars sah, dass sein Vater der Länge nach hingefallen war. Natürlich wurde hier geschubst und gedrängelt. Es war unvermeidbar, dass man unfreiwillige Berührungen anderer Marktbesucher erdulden musste, aber jetzt, am Nachmittag, wenn Familien die Besuchermassen dominierten, herrschte keine Bösartigkeit. Daher war Lars zunächst verblüfft, dass jemand seinen Vater so heftig angestoßen haben sollte, dass dieser gestürzt war. Sein Vater unternahm keine Anstalten, sich wieder aufzuraffen.

    »Eh, was ist?«, fragte ein Fremder, der etwa im Alter von Steffen Meiners zu sein schien.

    Ein anderer schüttelte missbilligend den Kopf. »Mensch! Das ist doch eine Schande, wenn man so besoffen ist, dass man nicht mehr stehen kann.«

    »Richtig«, pflichtete eine Frau aus der Runde der Gaffer bei. »Das ist kein gutes Beispiel für unsere Kinder.«

    »Mami, was ist mit dem?«, fragte neugierig ein kleines Mädchen an der Hand der Frau, die nicht daran dachte, ihre Tochter fortzunehmen.

    »Der ist betrunken«, erklärte die Mutter und fügte vernehmlich ein »Pfui« an.

    Lars beugte sich hinab. »Papa, was ist los? Komm, steh wieder auf«, sagte er und sah hilflos in die Runde der Leute, die sich um ihn geschart hatten.

    »Ist das dein Vater?«, fragte die Frau mit dem Kind an der Hand. »Der ist dir aber kein leuchtendes Vorbild.«

    »Der hat keinen Alkohol getrunken«, rief Lars zornig. Vorsichtig rüttelte er an der Schulter. »Mensch. Papa. Sag, was hast du?«

    Er starrte in die Gesichter der Gaffer, die ihn und seinen reglos auf dem Boden liegenden Vater neugierig musterten. Lars versuchte, seinen Vater aufzurichten. Es gelang ihm nur, den Oberkörper ein Stück in die Höhe zu ziehen und dabei den Kopf, der im Schmutz lag, mit anzuheben. Ein eiskalter Schreck durchfuhr Lars, als er das Blut sah, das in einem dünnen Rinnsal aus Steffen Meiners’ Mundwinkel lief.

    »Papa! Papa!«, rief Lars verzweifelt und zerrte am Oberkörper seines Vaters.

    Schlagartig war das Gemurmel der Neugierigen erloschen. Jetzt beugte sich ein älteres Ehepaar zu Steffen Meiners hinab. Deutlich war das Knacken in den Kniegelenken des Mannes zu hören.

    »Wir brauchen einen Arzt«, sagte der Grauhaarige, während die vorwitzige Mutter ihre kleine Tochter vor sich herschob und das Kind so zu positionieren versuchte, dass die Kleine das Geschehen auch gut beobachten konnte.

    »Was ist mit dem Mann?«, fragte das Mädchen.

    »Ich weiß nicht«, antwortete die Mutter etwas kleinlauter.

    »Schämen Sie sich nicht, dem Kind so etwas zu zeigen?«, ereiferte sich eine resolute Frau. Und nachdem andere Leute eingestimmt hatten, drängte sich die Mutter mit dem Kind an der Hand gesenkten Haupts aus dem Kreis der Neugierigen heraus.

    Jemand hatte sein Handy hervorgekramt und rief den Rettungsdienst an. Ein anderer warf ein: »Es gibt hier doch Sanitäter auf dem Festplatz.« Doch weder er noch andere wollten den Ort des Geschehens verlassen, um Hilfe zu holen.

    »Was hat er, Fritz?«, fragte die Frau, die sich mit ihrem Mann hinabgebeugt hatte. Der Grauhaarige besah sich unschlüssig den reglos daliegenden Steffen Meiners.

    »Keine Ahnung«, murmelte er.

    Währendessen streichelte Lars vorsichtig über den Kopf seines Vaters. »Papa«, murmelte er dabei.

    Der Mann mit dem Handy hatte den Notruf beendet. Er ergriff Lars am Oberarm und wollte den Jungen fortziehen. »Komm, da kannst du im Moment nichts tun«, sagte er, aber Lars entwand sich dem Griff.

    »Lass mich los«, rief er trotzig.

    Steffen Meiners lag reglos am Boden. Aus dem Mundwinkel rann ein dünner Blutfaden. Er stöhnte leise.

    »Helft ihm doch.« Lars sah sich angstvoll um. Doch niemand der Umstehenden rührte sich. Inzwischen war auch der Grauhaarige mit seiner Frau wieder aus der Hocke hochgekommen. Der Mann kratzte sich verlegen den Hinterkopf.

    »Tjä«, sagte er gedehnt. »Da weiß ich auch nicht weiter.«

    Aus dem Hintergrund versuchte Dörte Meiners mit ihrer Tochter an den Ort des Geschehens zu gelangen.

    »Nun drängeln Sie doch nicht so«, fuhr sie eine Frau im mittleren Alter an.

    »Ich muss da durch. Das ist mein Mann.«

    »Trotzdem!«, empörte sich die Zuschauerin und gab nur widerwillig den Platz frei.

    »Was ist mit Papa?«, fragte Dörte und beugte sich zu Steffen hinab.

    »Ich weiß nicht«, antwortete der Junge mit erstickter Stimme. »Plötzlich ist er umgefallen.«

    »Hilf mir mal, ihn umzudrehen«, entschied die Mutter. Gemeinsam mit ihren Kindern packte sie ihren Mann und versuchte, ihn auf den Rücken zu legen.

    »Ich weiß nicht, ob das richtig ist«, warf der Grauhaarige ein.

    »Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

    »Nein, aber …« Der Mann verschluckte den Rest des Satzes.

    »Der gehört in die stabile Seitenlage«, sagte der Zuschauer, der den Rettungsdienst alarmiert hatte.

    »Dann packen Sie mit an«, forderte ihn Dörte Meiners auf.

    »Ich?« Der Mann sah in die Gesichter der Umstehenden. Dann zog er sich ganz langsam aus der ersten Reihe der Zuschauer zurück.

    Steffen Meiners starrte mit geöffneten Augen zum strahlend blauen Himmel. Unablässig floss ein dünner Faden Blut aus seinem Mundwinkel. Sein Atem ging röchelnd. Die Nasenflügel bebten.

    »Steffen! Hörst du mich? Kannst du mich verstehen?« Frau Meiners bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Es hatte den Anschein, als würde ihr Mann etwas sagen wollen. Es war aber nicht mehr als ein leises Röcheln.

    »Mama«, schrie Heike entsetzt auf. »Sieh mal. Papas Bauch. Da ist ganz viel Blut.«

    Jetzt sah auch Lars den roten Fleck, der sich auf dem Hemd seines Vaters ausbreitete.

    Dörte Meiners wollte zögerlich zur Wunde greifen, zog dann aber unentschlossen ihre Hand wieder zurück.

    »Hast du gesehen, ob Papa auf einen Stein gefallen ist?«, fragte sie ihren Sohn.

    Lars schüttelte den Kopf. »Er war hinter mir. Ich habe nichts mitbekommen.«

    In der Ferne war das Martinshorn des Rettungswagens zu hören. Kurz darauf bahnten sich zwei Rettungsassistenten mit ihrem Notfallrucksack einen Weg durch die Menschen.

    »Was ist geschehen?«, fragte der Größere, ein hochgewachsener Mann mit blondem Haar.

    »Das wissen wir nicht«, entgegnete Dörte Meiners, und Lars ergänzte: »Mein Vater ist plötzlich umgefallen. Und jetzt blutet er.«

    Der Rettungsassistent fühlte den Puls. Er bemerkte die kaltschweißige blasse Haut und die blauen Fingerkuppen unter den Fingernägeln sowie die blauen Lippen.

    »Schocksymptomatik«, sagte er zu seinem Kollegen. »Ich vermute einen zyanotischen Volumenmangelschock. Wir legen einen Zugang.«

    »Den grauen?«, fragte der zweite Rettungsassistent zurück.

    Der Blonde nickte. »Ja, den großen.« Dann beugte er sich über Steffen Meiners. »Können Sie mich hören?«

    Er erhielt als Antwort nur ein Röcheln.

    »Wir brauchen dringend den Notarzt«, sagte er zu seinem Kollegen. »Dann geben wir Sauerstoff und eine Infusion, um das Volumen aufzufüllen.«

    »Was ist mit ihm?« fragte Dörte Meiners mit banger Stimme.

    »Hat Ihr Mann Vorerkrankungen?«, antwortete der Rettungsassistent mit einer Gegenfrage.

    Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Der ist gesund. Was hat er?«

    Der erfahrene Rettungsassistent vermied es, auch nur einen Verdacht zu äußern. Routiniert versorgten die beiden Männer in den orangefarbenen Jacken Steffen Meiners, der jetzt unter Sauerstoff ein wenig ruhiger zu atmen schien.

    Zeitgleich mit dem Notarzt erschien ein blau-silberner Streifenwagen der Polizei. Einer der beiden Beamten nahm von Dörte Meiners die Personalien auf, nachdem er sich kurz bei den Mitarbeitern des Rettungsdienstes erkundigt hatte, wie es Meiners ging und ob sie sagen könnten, was vorgefallen sei.

    »Ich kann überhaupt nichts sagen«, erklärte der Notarzt. »Es könnte aber ein Messerstich gewesen sein. Doch im Moment interessiert mich nur die Versorgung des Opfers.«

    Auch die Neugierigen in der Runde und Lars konnten auf die Frage des Polizisten keine Antwort geben. Nur der ältere Grauhaarige meldete sich zu Wort.

    »Ich habe gesehen, wie er da«, dabei zeigte er auf Steffen Meiners, der jetzt auf einer Trage lag, »mit einem kostümierten Mann zusammengestoßen ist. Der sah aus wie ein … wie soll ich sagen? Wie ein Gespenst. Der war toll geschminkt. Wie hießen die noch gleich im Mittelalter? Die, bei denen Teile vom Gesicht und vom Körper abgefault sind?«

    »Leprakranke«, half der Polizist nach.

    »Richtig. So sah der Mann aus. Er hatte auch so eine Art Sack umgebunden.«

    Inzwischen hatte der Notarzt noch einmal die Versorgung des Verletzten überprüft.

    »Ihr habt alles richtig gemacht«, lobte er die beiden Rettungsassistenten. »Jetzt aber mit Dampf ins Klinikum.«

    »Ich komme mit«, sagte Dörte Meiners. »Und die Kinder auch.«

    »Das geht nicht«, erklärte ihr der blonde Sanitäter. »Wir haben keinen Platz mehr im Wagen. Aber der Kollege im Notarztwagen nimmt Sie mit. Wir fahren ins Heider Krankenhaus.« Dann trugen sie Steffen Meiners zu ihrem Einsatzfahrzeug, das kurz darauf mit Blaulicht und Martinshorn zum Westküstenklinikum davonfuhr.

    Die Polizisten notierten sich die Personalien des Grauhaarigen und nahmen die Personendaten der Mitarbeiter der umliegenden Marktstände auf. Von den zahlreichen Neugierigen wollte hingegen niemand etwas gesehen oder bemerkt haben.

    *

    Die Leute wichen freiwillig zur Seite, als der Trupp von fünf Männern mit ausgreifenden Schritten durch das Gewühl auf dem Festplatz schritt. Gleichsam als Speerspitze wurde die Gruppe von einem durchtrainiert wirkenden Mann mittlerer Größe angeführt. Die wachen Augen, der gepflegte Dreitagebart und die markanten Zügen verliehen ihm eine natürliche Autorität, auch wenn er sich in der saloppen Kleidung nicht von den anderen Besuchern des Marktfriedens unterschied.

    Hauptkommissar Markus Schwälm gehörte zum K1 der zuständigen Bezirkskriminalinspektion Itzehoe, die von der Heider Polizei informiert worden war. Er war der Leiter der Mordkommission, wie das K1 im Volksmund genannt wurde, obwohl die Aufgaben des Kommissariats weitaus vielschichtiger waren.

    Schwälm schmunzelte stets ein wenig, wenn er neben Frauke Dobermann aus Flensburg, Thomas Vollmers aus Kiel und dem Lübecker Kollegen als einer von vieren bezeichnet wurde. Viele Kollegen in der Landespolizei wussten, dass sich mit Christoph Johannes und seinem Team aus Husum eine inoffizielle weitere Mordkommission etabliert hatte, denn zum Leidwesen der engagierten Flensburgerin ließen die Nordfriesen keine Gelegenheit aus, entgegen aller formellen Zuständigkeiten bei Todesfällen, in denen Fremdeinwirkung nicht ausgeschlossen war, selbst zu ermitteln. Doch Heide war das Zentrum Dithmarschens. Und hier hatten die Nordfriesen nichts verloren. Die Rivalität war nicht minder groß als zwischen Köln und Düsseldorf, und niemals hätte ein Kölner behauptet, Düsseldorf sei für ihn die schönste Stadt der Welt.

    Über die Köpfe der Menschen hinweg erkannte Schwälm die Polizeimütze des uniformierten Kollegen und steuerte die Stelle an.

    »Moin«, grüßte er. »Kripo Itzehoe.« Er gab dem Streifenbeamten die Hand. »Markus Schwälm.«

    »Behrens, Heide«, erwiderte der uniformierte Polizeihauptmeister und wies auf einen nur noch schwach erkennbaren Fleck versickerten Bluts vor seinen Füßen. »Hier ist es geschehen.« Er erklärte Hauptkommissar Schwälm, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatten.

    »Niemand hat etwas bemerkt. Und der Notarzt hat gesagt, es könnte ein Messerstich gewesen sein.« Der Beamte sah sich suchend um. »Mein Kollege klappert die umliegenden Stände ab und fragt, ob jemandem etwas aufgefallen ist. Das Einzige, was der Sohn und ein weiterer Zeuge bemerkt haben wollen, ist ein als Leprakranker Kostümierter. Mehr Leute haben wir allerdings nicht finden können, die diese merkwürdige Gestalt gesehen haben wollen.« Erneut zeigte der Polizist auf den Boden. »Ich habe in diesem Gedränge, so gut es ging, versucht, diesen Bereich abzusichern. Wir sind allerdings erst nach dem Rettungsdienst eingetroffen. Ich kann nicht sagen, wer inzwischen hier herumgetrampelt ist.«

    Schwälms Mitarbeiter waren den Ausführungen des Uniformierten schweigend gefolgt. Ohne dass der Hauptkommissar etwas erklären musste, schwärmten drei von ihnen aus, um ebenfalls nach Zeugen zu suchen und die Suche nach dem mysteriösem Unbekannten aufzunehmen.

    »Der Mann im Kostüm muss nicht zwangsläufig etwas mit der Sache zu tun haben, aber er könnte ein wichtiger Zeuge sein, da er sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat«, sagte Schwälm mehr zu sich selbst, während die beiden anderen Männer seines Teams mit der Sicherung der dürftigen Spuren begannen.

    »Wer ist das Opfer?«

    Polizeihauptmeister Behrens sah in sein kleines Notizbuch.

    »Steffen Meiners, vierzig, wohnhaft in Stelle-Wittenwurth, Dorfstraße. Der Mann ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Frau und Sohn und Tochter sind mit ins Krankenhaus.«

    »Heide?«

    Der Polizist nickte.

    »Beruf?«

    »Sorry, das habe ich nicht aufgenommen. Die Angehörigen waren ziemlich durch den Wind. Da habe ich nicht mehr als Name und Anschrift aus ihnen herausbekommen.«

    »Weitere Zeugen?«

    Erneut blätterte Behrens in seinem Notizbuch. »Nur noch einer. Gerhard Bohnsack, dreiundsechzig, Rentner, wohnhaft in Windbergen. Der Mann hat mit seiner Frau Klärchen den Marktfrieden besucht. Er will die verkleidete Person auch bemerkt haben, allerdings nicht im Zusammenhang mit der Tat. Davon hat er nur mitbekommen, wie das Opfer gestürzt ist. Warum und ob es eine Berührung durch eine dritte Person gegeben hat, will er nicht gesehen haben. Seine Frau hat überhaupt nichts mitgekriegt.«

    »Das ist nicht viel«, murmelte Schwälm, während der uniformierte Beamte bedauernd die Schultern zuckte. »Man ist immer wieder überrascht, wie wenig die Leute selbst im dichtesten Gewühl von dem mitbekommen, was direkt neben ihnen geschieht. Der Arzt meinte, es könnte ein Messerstich gewesen sein?«

    Behrens nickte. »So hat er sich ausgedrückt.«

    Der Hauptkommissar ging ein wenig abseits, stellte sich hinter einen Korbflechterstand und musste zwei vorwitzige Gaffer verscheuchen, die ihm dreist gefolgt waren und ihn bei seinem Telefonat belauschen wollten. Er rief das Klinikum an und ließ sich mit der chirurgischen Notaufnahme verbinden.

    »Schwälm, Kripo Itzehoe. Bei Ihnen ist ein Mann mit einer Bauchverletzung eingeliefert worden. Können Sie mir dazu etwas sagen?«

    »Erstens bin ich kein Arzt, zweitens geben wir am Telefon keine Auskunft, und drittens haben wir im Moment alle Hände voll zu tun und überhaupt keine Zeit«, erklärte eine resolute Frauenstimme und legte wieder auf, ohne die Antwort abzuwarten.

    »Wie viele Kollegen können Sie noch mobilisieren?«, fragte Schwälm, nachdem er zu dem Streifenpolizisten zurückgekehrt war.

    Der lachte bitter auf. »Wissen Sie, was heute für ein Wochentag ist? Wir sind schon in der Woche unterbesetzt.«

    »Wir brauchen Unterstützung«, sagte der Hauptkommissar. »Falls Meiners wirklich mit einem Messer angegriffen wurde, ist nicht auszuschließen, dass der Täter die blutverschmierte Tatwaffe irgendwo auf dem Festplatz weggeworfen hat.«

    Behrens ließ seine Hand kreisen. »Sie sehen, was sich hier abspielt. Der Reiz der Veranstaltung ist die Nachbildung mittelalterlichen Handwerks. Da werden Sie viele Messer und Schneidwerkzeuge finden.«

    Schwälm kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Das ist eine vertrackte Situation. Wenn wir den Festplatz räumen lassen und sich hinterher herausstellt, dass Meiners nur unglücklich gestürzt ist, dann wird es schwierig sein, das der Öffentlichkeit zu erklären, zumal das Fest nur alle zwei Jahre stattfindet und Besucher von weit her anlockt. Eine solche Maßnahme wirkt auch auf künftige Veranstaltungen nach. Andererseits dürfen wir nichts unversucht lassen, um beim Vorliegen einer Straftat alle möglichen Beweise zu sichern.«

    »Da gäbe es noch etwas zu bedenken«, sagte Behrens zögerlich und fuhr fort, nachdem ihn der Hauptkommissar fragend angesehen hatte. »Einer der Höhepunkte des Marktfriedens ist das Hochzeitszeremoniell. Unter vielen Anwärtern wird ein glückliches Brautpaar ausgewählt. Ein echtes Brautpaar. Die gültige Trauung findet nach altem überliefertem Brauch traditionell am Sonntag, also heute – am letzten Tag –, statt.« Er sah auf die Uhr. »In etwa einer halben Stunde. Wenn wir die Veranstaltung jetzt abbrechen, dann …« Der uniformierte Polizist ließ die Konsequenzen unausgesprochen.

    Schwälm überlegte einen Moment. »Ich werde ins Krankenhaus fahren.« Er wandte sich an seine Mitarbeiter, die sich mit der Spurensicherung beschäftigten. »Hier braucht ihr mich im Moment nicht.«

    »Geht in Ordnung«, brummte einer der beiden Kriminaltechniker.

    Schwälm drängte sich zum Ausgang und fuhr zum Westküstenklinikum, dem größten Krankenhaus an der Westküste, das schon seit Jahren einer Baustelle glich und an dem immer wieder angebaut wurde.

    An der Ecke Esmarchstraße und Gartenweg fand sich gegenüber der Rettungswache ein kleiner Parkplatz, der aber zur Besuchszeit im Krankenhaus hoffnungslos überfüllt war. Schwälm fuhr im Schritttempo auf die Schranke zu, die den Weg zum Haupteingang versperrte. Links und recht drängten sich an seinem Fahrzeug Menschen vorbei, die mit Blumensträußen und Taschen bewaffnet zum Eingang des akademischen Lehrkrankenhauses der Uni Kiel und Lübeck strebten.

    »Müssen Sie hier stehen?«, beschwerte sich ein robuster älterer Mann lautstark, und seine ebenso kräftig gebaute Frau schob hinterher: »Junger Kerl. Kann der nicht auch ‘nen paar Schritte laufen – so wie wir?«

    Über die Gegensprechanlage nahm Schwälm Kontakt zu einem unsichtbaren Pförtner auf. »Ich bin von der Polizei. Würden Sie bitte die Schranke öffnen?«

    »Tut mir leid. Erstens darf ich das nicht. Und zweitens geht es am Sonntagnachmittag nicht. Sie sehen es ja selbst.«

    »Es ist ein Notfall.«

    Aus dem Lautsprecher drang ein kehliges Lachen. »Dafür sind die Kollegen vom Rettungsdienst zuständig. Nee, mein Lieber. Solche Tricks kenne ich.«

    Schwälm blieb nichts anderes übrig, als vorsichtig zurückzusetzen und es erneut auf dem kleinen Parkplatz gegenüber zu versuchen. Er hatte Glück und fand eine Lücke, aus der gerade ein anderes Fahrzeug mit einer älteren Frau am Steuer umständlich herausrangierte, dirigiert von drei anderen Frauen, die voneinander abweichende Ratschläge erteilten und die Fahrerin dadurch noch mehr verwirrten.

    »Nix da. Das ist unser.« Eine Frau mit künstlich blondiertem Haar und einer brennenden Zigarette stürmte auf Schwälms Auto zu, zeigte mit ausgestrecktem Arm irgendwo zum Straßenrand, wo vermutlich ihre Begleitung mit dem Auto wartete, und wollte den frei werdenden Platz verteidigen.

    »Entschuldigung, aber ich bin von der Polizei, und dieses ist ein dienstlicher Einsatz.«

    »So eine Frechheit«, schimpfte die Blonde und beruhigte sich auch nicht, als Schwälm ihr den Dienstausweis unter die Nase hielt.

    Der Hauptkommissar überquerte die Straße und warf einen kurzen Blick auf den Pesel, aus dem bierseliges Stimmengewirr auf die Straße drang.

    Mit dem kleinen Weg zur Pforte hatte man sich viel Mühe gegeben und in den Beeten und Pflanzkübeln leuchtend rote Sommerblumen gepflanzt. Schwälm warf einen raschen Blick zur Turmuhr über dem Gebäude, die einer Sonnenblume glich. Überhaupt ähnelte das Ganze vom Baustil mehr einer Hotelanlage als einem Hospital.

    Schwälm fragte sich zur chirurgischen Notaufnahme durch und wurde von einer Frau im weißen Kittel abgefangen, bevor er die Tür mit der Aufschrift »Zutritt verboten« passieren konnte. »Schwester Elke« las er auf dem Namensschild.

    »Können Sie nicht lesen?«, herrschte ihn die dunkelhaarige hagere Frau an. An der Stimme erkannte er seine Gesprächspartnerin wieder, die ihn zuvor so abrupt am Telefon abgehängt hatte.

    »Kripo Itzehoe«, sagte er und zog seinen Dienstausweis hervor.

    »Na und? Dies ist ein Krankenhaus.«

    »Es ist aber wichtig. Ich muss dringend mit einem Arzt sprechen. Es geht um …«

    Sie musterte ihn von oben bis unten. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, aber Schwälm taxierte sie seiner Altersgruppe zugehörig. »Junger Mann. Dies ist ein Krankenhaus. Hier ist alles wichtig. Und in welcher Reihenfolge die Sachen erledigt werden, bestimmen einzig

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