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Urban Prayers: Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt
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Ebook445 pages5 hours

Urban Prayers: Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt

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About this ebook

Der vorliegende Band erkundet die Relevanz neuer religiöser Bewegungen für aktuelle urbane Konflikte und Transformationen in verschiedenen Städten und im globalen Zusammenhang. Er enthält einen Querschnitt von Texten und Gesprächen aus Forschungszusammenhängen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa zum Verhältnis zwischen Stadt, Religion und Politik, die einen möglichst präzisen Blick auf das Phänomen »Urban Prayers« werfen.
Herausgegeben von Jochen Becker, Anne Huffschmid, Stephan Lanz, Oliver Pohlisch, Katja Reichard, Erwin Riedmann und Kathrin Wildner.
LanguageDeutsch
PublisherAssoziation A
Release dateJan 15, 2014
ISBN9783862416028
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    Urban Prayers - Assoziation A

    Dussel

    »Keine Angst

      vor den Pfingstkirchen«

    Ein Gespräch über die Aktualität der Befreiungstheologie

    Als wir dieses Interview verabredet haben, haben Sie begeistert zugesagt und gemeint, die Theologie der Befreiung sei »heute ja aktueller denn je«. Das ist ja eine ungewöhnliche Aussage in Zeiten, in denen weder der Katholizismus noch ein Diskurs der »Befreiung« besonders hoch im Kurs zu stehen scheinen.

    Nach dem Ende der Diktaturen Mitte der 1980er Jahre, die ja in verschuldeten, frustrierten Demokratien endeten und nach dem Siegeszug des Neoliberalismus in den 1990er Jahren, beginnt ab 1999 in Lateinamerika eine politische Wende. Venezuela ist das erste Land, in dem eine Regierung an die Macht kommt, die man etwas ambivalent »mitte-links« nennen könnte. Denn die linken Regierungen sind ja nicht revolutionär auf die kubanische Art – und auch das kubanische Modell hatte ja bekanntlich so seine Probleme. Es war also ein neues Projekt, diese Etappe der Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika, die sich nach und nach so weit ausbreiteten, dass es heute – bis auf Kolumbien und Mexiko, und neuerdings auch wieder Chile – praktisch alle Länder des Kontinents umfasst. Manche mehr und manche weniger links, wenn auch alle mit einer mehr oder weniger neoliberalen Plattform. Wir haben immerhin drei Präsidenten, die früher Guerilleros waren: in El Salvador ein ehemaliges Mitglied der FLMN, der Präsident von Uruguay war bei den Tupamaros und eine junge linke Maoistin ist die neue Präsidentin Brasiliens.

    Diese neue Realität lässt sich nicht ohne die Befreiungstheologie erklären: Wenn etwa Hugo Chávez – auch wenn er des Populismus gescholten wird – sagt: »Ich halte es mit Jesus Christus, der war ein einfacher und armer Mann«, und seinen Eid auf die Bibel ablegt. Oder der ecuadorianische Präsident Rafael Correa: Der kommt von der Christdemokratie, die wiederum Überschneidungen mit der Befreiungstheologie aufweist. Oder natürlich Lula, der von den Basisgemeinden unterstützt worden ist; sogar Marina Silva von den brasilianischen Grünen, die jetzt ja Pfingstkirchlerin sein soll, stammt ursprünglich aus den katholischen Basisgemeinden. In der Biographie jeder wichtigen Figur in Lateinamerika werden wir solche Berührungspunkte finden. Das ist ein Zusammenhang, den die traditionelle, eher jakobinische Linke nicht wahrnimmt. Sie hat von dem Thema keine Ahnung und erkennt daher die Wichtigkeit nicht. Man kann sagen, dass die Kirche, und mit ihr die religiösen Massen, in allen Ländern schon von ihrem Imagionario¹ her eine starke Realität hat. Das ist hierzulande so, aber auch bei den islamischen Völkern. Dort ist es aber anders; in den islamischen Ländern hat es keine Theologie der Befreiung gegeben. Das heißt, dass es alternativ zur islamischen Rechten, also den Schiiten oder Islamisten, kaum eine andere Position eines islamischen Gläubigen in Bezug zur Demokratie geben kann. Dies gilt besonders für den islamistischen Fundamentalismus, der theokratisch ist, also Probleme mit einer authentischen Demokratie hat. Allerdings ist die Position eines muslimischen Theologen wie Tariq Ramadan durchaus demokratisch, eben weil sie nicht fundamentalistisch ist.

    Die Theologie der Befreiung ist ja letztlich die einzige, die die Aufklärung in sich aufgenommen hat. Jon Sobrino² hat einmal geschrieben, dass die zweite Aufklärung die von Marx gewesen sei. Dass die lateinamerikanische Befreiungstheologie auch diese zweite Aufklärung in sich aufgenommen hat, führt dazu, dass es heute in Lateinamerika – anders als in den USA – praktisch keine einzige fundamentalistische rechtskatholische Gruppe an der Macht gibt.

    Aber der Opus Dei ist doch auch in Lateinamerika einflussreich, und in Mexiko wurden in den 1940er Jahre die Legionäre Christi gegründet, die enge Verbindungen zur politischen Klasse haben.

    Ja klar, es gibt Opus Dei, aber die kommen eben nicht an die Macht – mit Ausnahme von Chile unter Pinochet vielleicht. Es gibt hier einfach nicht diesen Fundamentalismus. Der Opus Dei ist nicht volksnah und populär, sondern er ist ein Projekt der Eliten und zwar der bürgerlichen, kapitalistischen Eliten. Das hat damit zu tun, dass es in Lateinamerika mit der Befreiungstheologie eine christliche Strömung gab, die zunächst die Aufklärung und dann noch den Marxismus und auch die Demokratie assimiliert hat und daraus eine andere Art von Christentum entwickelte. Und außerdem hat sie es geschafft, sich mit dem Imaginario des Volkes (imaginario popular) zu verbinden. Dabei konnte man dann endlich auf die alten Denkmuster verzichten, dass man Atheist sein musste und seine indigenen Traditionen begraben musste, um marxistischer Revolutionär zu ein. Das war ein für alle Mal vorbei; die Befreiungstheologie hat damit Schluss gemacht. Sie hat gesagt, dass der Atheismus seine Berechtigung hat, wenn er gegen das Kapital in Stellung gebracht wird, aber nicht wenn er gegen die indigenen Traditionen agiert.

    Und so war es möglich, dass eine Rigoberta Menchú in ihrem Heimatdorf die Bibel in die Hand nehmen und die Dinge von ihrer eigenen indigenen Tradition aus überdenken konnte. Das ist in ganz Lateinamerika passiert. Das hat es auch möglich gemacht, dass Evo Morales vor seinem Amtsantritt zunächst zu der Ruinenstätte von Tiahuanaco fährt und dort seine Amtsmacht als Präsident von den indigenen Schamanen empfängt und erst danach in der Hauptstadt La Paz vereidigt wird³ – auch das ist ein Erfolg der Befreiungstheologie. Und zwar nicht als anthropologische Renaissance irgendwelcher überlieferter Traditionen; das hätte die Linke ja als nutzlos und historischen Rückschritt gewertet. Sondern die Befreiungstheologie hat festgestellt: Man kann an die Traditionen anknüpfen und zugleich revolutionär sein.

    Heute würde es in Lateinamerika keiner Linken mehr einfallen zu behaupten, dass man, wenn man das Feld der Politik betritt, die Religion hinter sich lassen muss, »da die Religion reaktionär ist und man als politischer Mensch automatisch Atheist ist«. Heute ist die Situation eher umgekehrt: Wenn jemand Atheist ist, so ist das seine Privatangelegenheit. Er sollte das nicht zum Politikum erklären, da wird er ins Fettnäpfchen treten. Früher hieß es »Ach, Sie sind gläubig? Das ist ihr Problem. Hier sind wir alle Atheisten«. Doch dieser Atheismus hat dazu geführt, dass man keine Verbindung zum Volk herstellen konnte. Und heute gibt es diese Verbindung, und der Schlüssel dazu liegt im Zutritt zum religiösen Imaginario – und das ist ja die reale Basis der Volkskultur (cultura popular)⁴ – und darin, diese Vorstellungen mit der politischen Transformation zu verknüpfen.

    Aber auch der Befreiungstheologie wird ja, gerade in ihren Anfängen, vorgeworfen, die cultura popular zu wenig zu verstehen.

    Aber das ist nicht wahr, wir haben die kulturellen Traditionen ja gerade nicht negiert. Schon 1968 habe ich ein Büchlein mit dem Titel »Catecismo popular en Argentina« (Volkskatechese in Argentinien) verfasst, als man noch gar nicht so recht wusste, was die Theologie der Befreiung sein sollte. Das beruhte alles auf volkstümlichen Liederbüchern, 500 davon hatte ich gesammelt; Lieder aus dem Spanien des 12. Jahrhunderts, die nach Lateinamerika gelangten und dort im 19. Jahrhundert gesungen wurden. Es ging also darum, sich mit den im Volk verbreiteten Traditionen vertraut zu machen. Und damit haben wir uns dann dem Volkskatholizismus zugewandt, der zuvor noch als furchtbar, verachtenswert und mythologisch galt, so ganz und gar nicht aufgeklärt. Aber dann haben wir gesagt: Achtung, das ist das Imaginario des Volkes, das ist unser Ausgangspunkt. Dem wurde später dann natürlich die Lektüre von Marx und alles Weitere hinzugefügt. Aber die Virgen der Guadalupe⁵ war immer mit dabei.

    Oder in Argentinien, da gab es die Jungfrau von Luján, die – so um 1780 – einem Goucho vom Pferd gefallen und dabei auf den Füßen gelandet sein soll, ein echtes Wunder. Heute pilgern zu dieser Basilica von Luján Millionen von Menschen. Ein echter Marxist hätte gesagt »Schluss damit, so können wir ja die Revolution gegen den Kapitalismus nicht machen«. Aber damals haben wir gesehen, dass die Leute auch gegen den Kapitalismus waren, doch auf ihre eigene symbolische Weise. Sie haben ihn sublimiert. Man musste also einen anderen Zugang suchen.

    Als anderer Zugang wurde dann ja in Argentinien die Theologie der Kultur entwickelt, die sich von der marxistischen Befreiungstheologie abgrenzte. War das als Konkurrenz gedacht?

    In den argentinischen Diktaturen waren es vor allem die »Priester der Dritten Welt«,⁶ die Position bezogen und Gesicht gezeigt haben. Und wer das klar und deutlich tat, wurde in jedem Fall verfolgt, vernichtet und ermordet. Es gab damals einen Prozess der Mimesis, der nicht direkt auf Konfrontationskurs mit der Regierung ging, sondern sich eher auf die Ebene der Volkskultur bezog, die damals gerade in den Blick geriet. Das geschah schon Ende der 1960er Jahre, also zeitgleich mit der Befreiungstheologie, und darauf griff man dann in den härtesten Zeiten der letzten Militärdiktatur⁷ zurück. So wurde etwa Juan Carlos Scannone, ein guter Freund von mir, in dieser Zeit zum großen, phänomenologisch orientierten Theoretiker der Volkskultur – und das ist durchaus eine Möglichkeit, sich zu behaupten und zu verteidigen. Was ich denen nur immer sage, ist, dass sie besser noch ein bisschen Marx lesen, damit sie nicht der Naivität verfallen. Viele von ihnen kennen Marx nicht, geschweige denn, dass sie ihn lesen, und das macht sie dann eben doch naiv.

    Aber in dem besonderen Kontext war diese Haltung durchaus eine Option gegen das kapitalistische System und die bürgerliche Elite. Denn indem sie nahe bei den ganz Armen, den Arbeitern und den Villas⁸ sind, stehen sie ja zwangsläufig in direktem Kontakt mit einer Linken, die sie an die entscheidenden Themen erinnert – etwa die Piqueteros⁹ oder die Mütter der Plaza de Mayo. Es handelt sich also schon um eine Art Theologie der Befreiung, nur in etwas verwässerter, versüßter Gestalt. Aber manchmal ist eben das entscheidend, was unmittelbar machbar erscheint – und es ist wichtig, dass dieses Machbare existiert. Sie könnten natürlich einen Schritt weiter gehen, man möchte ihnen manchmal einen Schubs geben, damit die Sache etwas klarer wird.

    Ist das Religiöse hier immer automatisch mit den Armen und den unteren Schichten verkoppelt?

    In Lateinamerika sind diese neuen sehr spirituellen Bewegungen, die Evangelikalen und Pfingstkirchler, heute sehr populär in den unteren Schichten, sie schaffen es aber nicht, sich unter der Mittel- und Oberschicht zu verbreiten – was dem Islam hingegen sehr wohl gelingt. Denn die Oberschicht praktiziert eine andere Art von rechtem Katholizismus – und wer dieses Band auflösen konnte, war eben die Befreiungstheologie. Und das deshalb, weil sie es ermöglicht hat, ein kritisches, soziales, demokratisches und modernes – oder mehr als modernes – Christentum zu schaffen, das zugleich an die Traditionen anknüpft.

    Das wiederum bringt die traditionelle Linke aus dem Gleis, die ja obendrein einer traditionellen Rechten gegenüber stand. Genau diese Schemata sind durch die Befreiungstheologie durchbrochen worden. Sie funktionieren nicht mehr, wie sie teilweise in der nordamerikanischen Welt oder in der muslimischen Welt noch funktionieren. Die Araber hatten zwar Befreiungstheologen, aber die wurden – von der einen oder anderen Seite – umgebracht. Man ließ nicht zu, dass sich diese Ideen ausbreiteten. Oder auch im Zionismus, da gibt es ja nicht wirklich einen linken Judaismus. Wenn es den gegeben hätte, wäre Israel heute wohl in einer anderen Lage. In Lateinamerika hingegen hatte die katholische Kirche, aber auch der historische Protestantismus der 1960er und 1970er Jahre allgemein einen positiven Rückhalt in der Gesellschaft, vor allem natürlich bei den Unterdrückten. Und sogar die Rechten können sich dieses Engagements für die Armen bedienen, auch wenn sie das als Almosen tun und es ihnen nicht um Veränderung der Strukturen geht. Aber sie tun es deshalb, weil die Befreiungskirche diesen riesigen Raum eröffnet hat, der einige zaghafte Schritte in diese Richtung erlaubt, was heute normal ist und früher gar nicht denkbar gewesen wäre. Die Kirche als solche wurde Referenz. Und auch das ist sie heute nicht mehr, sie ist wie vom Erdboden verschwunden.

    Aber dieser Monopolverlust der katholischen Kirche geht ja offenbar nicht notwendig mit dem Bedeutungsverlust des Religiösen einher, wenn man die Ausbreitung anderer Glaubensgemeinschaften betrachtet.

    Und dafür verantwortlich, für die Hinwendung des lateinamerikanischen Volkes zum Protestantismus oder zu den Evangelikalen, ist allein der Vatikan! Der hat ja Priester und Bischöfe eingesetzt, die komplett entkoppelt von der volksnahen pastoralen Arbeit (pastoral popular) waren. Um einen Bischof zu ernennen, musste man erst beteuern, dass der nichts mit den Kommunisten zu schaffen hat, kein Befreiungstheologe ist und auch nichts mit den Gewerkschaften zu tun hat, nur dann konnte er Kandidat werden – also eine Person, die offenbar völlig ungeeignet für eine volksnahe Praxis ist. Außerdem müsste es längst verheiratete Priester geben. Es gibt diesen unglaublichen theologischen Machismo und keinerlei Verständnis für die Frauen. Die katholische Kirche hat sich vom Volk abgewandt, und das wird dann eben protestantisch, ist doch logisch.

    Und sie hat sich nicht nur vom Volk abgewandt, sondern auch noch die eigenen Leute attackiert, also eben die Befreiungstheologie, was einem Selbstmord gleichkam: Denn gerade die Befreiungstheologie hätte sie ja retten können. Aber das hat die katholische Kirche nicht verstanden. Und jetzt wird sie die Folgen spüren: Sie wird aufhören, die Mehrheit der Gläubigen in Lateinamerika zu repräsentieren. Und ich sage: recht geschieht ihr, weil sie so vieles so schlecht gemacht hat. Und wenn sie sich nicht bessert, dann wird sie ganz verschwinden.

    Die Nähe zum Volk hat die Kirche also aufgegeben und das Volk somit dem Meistbietenden überlassen. Denn dieses Volk arbeitet ja immer weiter an seinem Glauben. Auch Evangelikale oder Pfingstkirchler sind ja Produkte des lateinamerikanischen Volkes, das sich aneignet, was es auf dem Markt vorfindet.

    Nach dem Monopol kommt also eine Art religiöser Wettbewerb, bei dem die Befreiungstheologie nicht mithalten konnte – sind damit denn womöglich wenigstens die »Angebote« attraktiver geworden?

    Dieser Wettbewerb schafft seine eigenen Produkte, die sind Teil eines Bewusstseins, das auch durch die Medien ausgebildet wurde und sehr entfremdet oder entfremdend ist. Dagegen kam die Befreiungstheologie, so sehr sie sich bemühte, nicht an. Sie hatte ja die römische Kirche gegen sich, aber eben auch das nordamerikanische System. In Mexiko haben wir ein Fernsehen, das der Befreiungstheologie keine Sekunde Sendezeit einräumen wird. Es gibt da zwar Religions-Nachrichten, eine Señorita, die in Rom sitzt und irgendwelchen Blödsinn berichtet, ob der Pabst gerade dies oder jenes getan hat. Die Religion taucht zwar im Fernsehen auf, aber eben in einem völlig entfremdeten Modus, als Teil des Systems.

    Sehen Sie diese »anderen« Christen, die Evangelikalen, als Bedrohung?

    Diese Gruppen werden letztlich auch zu eigenen Kirchen werden, und dann brauchen sie eine Theologie. Und in dem Moment, wenn sie zu Kirchen werden, werden sie es letztlich auch mit der Theologie der Befreiung zu tun bekommen und sich mit dieser Theologie beschäftigen müssen. Ich habe vor alledem keine Angst, weil letztlich alle zusammen kommen werden: Katholiken, Lutheraner und alle Anderen. Wenn sie zu Kirchen werden und an einer Theologie arbeiten, dann stellen sich auch ihnen die immer wiederkehrenden Fragen und Probleme. Die Ausbreitung an sich macht mich also nicht beklommen. Was mir Sorge macht, ist, wenn sie den Menschen einen falschen Ausweg aus der jetzigen Situation versprechen, also die Aussicht auf Glück inmitten dieser furchtbaren Zivilisationskrise, und das, ohne die Dinge und Strukturen grundsätzlich zu ändern. Was diese Gruppen vorschlagen, ist, noch tiefer in die bestehenden Strukturen hineinzugehen, jetzt aber mit mehr Disziplin und mit ein bisschen mehr Freude, um bessere Arbeiter in einer Fabrik zu sein oder besser im System mitspielen zu können. Sie können das System nicht ändern und versuchen das auch gar nicht erst, sie benutzen es vielmehr – und das ist ein Jammer, eine Verschwendung von Zeit und Fähigkeiten.

    Aber dennoch sind die Gruppen ja ungeheuer populär, also offenbar recht nah dran an den Bedürfnissen des »Volkes«?

    Ja klar, die Menschen wollen ja leben und glücklich sein, auch in ihrer Armut und ihrem Unglück; ich verstehe das. Und die Gruppen wollen die Leute aus der Sinnlosigkeit unserer Gesellschaften erlösen und auch aus ihrem Unglück in der Armut – und damit erfüllen sie etwas, was dem, was ein authentisches Christentum tun müsste, sehr nahe kommt.

    Und wie man hört, wird dabei sogar Theologie produziert, etwa die »Theologie der Prosperität«?

    Ja natürlich, all diese Sekten – so spirituell sie auch sein mögen – hängen letztlich dieser Theologie der Prosperität an, auch die Pfingstkirchler. All diese Gruppen sind Prosperitätstheologen. Sie sagen: Seid gut und diszipliniert, trinkt nicht und glaubt an Gott – und Gott wird Euch mehr Frieden geben. Er wird euch die Möglichkeit für mehr Disziplin und mehr Liebe geben, dass ihr leichter Arbeit findet und besser lebt. Und das stimmt sogar, sie können das erreichen. Aber es bleibt trotzdem Zeitverschwendung.

    Doch wie gesagt, alle diese Bewegungen werden letztlich zu Kirchen mit einer Theologie werden und im selben Haus landen, deshalb habe ich auch keine Angst vor den Pfingstkirchen. Einmal hat mich eine apostolische Pfingstkirche eingeladen, ihnen einen einwöchigen Kurs zu geben. Ich hatte damals gerade mein Buch Etica comunitaria¹⁰ beendet, das war im Jahr 1985; das war ein sehr besonderes Buch für mich. Kurz zuvor hatte ich über die »Grundrisse« von Marx geschrieben und dabei hatte ich mir vorgenommen, eine Theologie mit den Marx‘schen Kategorien zu machen, so wie Thomas von Aquino es mit Aristoteles oder die Kirchenväter mit Platon gemacht haben. Das war für mich eine theologische Übung, Theologie mit einem Autor wie Marx zu praktizieren. Daraus entstand dann die Ética comunitaria. An die Stelle des »Mehrwerts« habe ich das »Mehrleben«¹¹ gesetzt und auch alle Kategorien auf diese Weise verkleidet. Man braucht keine besondere Bildung zu haben, um zu merken, dass das Buch von Marx spricht – aber er wird nie beim Namen genannt. Die Themen werden vorgeführt, ohne sie zu ideologisieren; ein sehr zentrales Werk für diese Arbeit ist die »Offenbarung« des Johannes, die Apokalypse. Ich beginne also den apostolischen Pfarrern, es waren etwa fünfzig, das alles zu erklären, und sie fangen langsam Feuer. Als ich dann an den Punkt komme, zu erklären, dass das Kapital der Antichrist ist, schauen wir uns die entsprechenden Bibelstellen näher an, und sie sind völlig überzeugt. Ich habe da also einer Gruppe von Pfingstkirchlern der apostolischen Kirche einen Kurs in der fortgeschrittensten Befreiungstheologie gegeben – und sie waren begeistert.

    Diese Gruppen gehen deshalb nicht weiter, weil ihnen keiner zeigt, wo lang. Deshalb verachte ich sie auch nicht, weil sie eben eine wichtige Funktion erfüllen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass da eine Ideologie dahintersteckt und die Menschen letztlich abgelenkt werden. Aber der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass die Leute ohne all das schlechter dran wären, da sich ja die großen Kirchen sich nicht um sie kümmern – und zwar aus politischen Gründen, weil nämlich ein volksnaher Bischof eine Gefahr für den Vatikan darstellt. Denn das ist ja nicht die Schuld der Befreiungstheologie, die wollte sich schließlich nie institutionalisieren und auch keine politische Partei

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