Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Der Weg nach Sacramento: Roman
Der Weg nach Sacramento: Roman
Der Weg nach Sacramento: Roman
Ebook226 pages3 hours

Der Weg nach Sacramento: Roman

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

"Der Weg nach Sacramento" ist nach Einschätzung des Autors sein bislang gelungenstes Werk. Der Roman malt ein ungeschminktes Bild von Bulgarien kurz nach der Wende, eine Zeit der Massenarmut, der Massenverstörung. Eine
Geschichte von jungen Menschen in der Hauptstadt Sofia, die, jeder Hoffnung und Zukunft beraubt, Drogen konsumieren und verkaufen. Und auch eine Geschichte der Vergangenheitsbewältigung und des Erwachsenwerdens, obwohl für den jungen Protagonisten am Ende nur die Emigration eine Lösung seiner Probleme verspricht. Der zwanzigjährige Pavel lebt nach Beendigung seines Militärdienstes bei seiner Großmutter in einem Plattenbauviertel Sofias, da er zu seiner Mutter, einer gestörten promiskuitiven Frau, nicht zurückkehren möchte. Pavel indes hat ein ganz spezielles Problem: Er ist noch Jungfrau, ein Zustand, den er so bald wie möglich beenden möchte. Er verliebt sich in die drogensüchtige Marianna und schließt sich, um sie zu gewinnen, ihrer Clique an, eine Gruppe von jungen Drogensüchtigen. Parallel zur Gegenwartshandlung wird die Geschichte des Vaters erzählt und dessen Leben im amerikanischen Exil seit seiner Flucht im Jahr 1970. Gegen Ende des Romans bringt sich Marianna um, als einer ihrer Geliebten von der Mafia ermordet wird. Pavel selbst wird von der Drogenmafia verfolgt. Da erfährt er, dass sein Vater in Amerika gestorben ist und ihm Geld hinterlassen hat, wodurch er die Möglichkeit bekommt, Bulgarien und dem organisierten Verbrechen zu entkommen - Richtung Sacramento.
LanguageDeutsch
Release dateJul 19, 2013
ISBN9783943941357
Der Weg nach Sacramento: Roman

Read more from Palmi Ranchev

Related to Der Weg nach Sacramento

Titles in the series (7)

View More

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Der Weg nach Sacramento

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Der Weg nach Sacramento - Palmi Ranchev

    www.dittrich-verlag.de/www.culturcon.de

    Er träumt noch immer seinen Danse macabre. Ringsherum drängen sich kleine Bengel. Nur kleine Bengel. Der Zeigefinger tanzt nicht mehr, sondern dirigiert die allgemeine Lebhaftigkeit – droht, verbietet, verweigert, ruft, zeigt und drückt am Ende den Abzug einer Pistole. Einer imaginären oder echten. Wichtig sind nur seine erneut lebhaften ausdrucksvollen Bewegungen. Gesättigt von Sinn. Manchmal gar magisch. Und sie stehen nicht im Widerspruch zu den bereits aufgezählten. Die Bewegungen eines riesigen Zeigefingers, unter dessen Diktat nicht nur seine Jugendjahre standen, sondern sein ganzes Leben. Seines und das der meisten seiner Freunde.

    An dieser Stelle war der Fluss ganz schmal. Mit Anlauf könnte er hinüberspringen. Er sah sich vom flachen Ufer aus die Wohnblocks ringsherum an. Sie ragten ohne Spiegelungen aus dem unbeweglichen, trüben, fast schwarzen Wasser hervor. Die Plattenbaukartons sahen unbewohnt aus, verlassen, kein Mensch war zu sehen. Wartete man still auf die nächste Verteuerung beim Brot? Das nächste große Unglück, das in viel zu kleinen Portionen kam? Nahm man es hin und wartete voller Hoffnung darauf, dass am Ende etwas Bedeutendes geschehen würde? Dann würden die Menschen die Fenster weit aufreißen, sich auf den Balkonen zeigen und schreien, schreien, schreien. Aber das Schlechte kam erneut in kleinen Portionen, jeden Tag. Mehrmals täglich. So oft, dass sie es schon nicht mehr bemerkten. Und alle schrumpften mehr und mehr. Wurden geradezu unsichtbar an einem frühen Abend wie diesem.

    Auf der Seite tauchten zwei Straßenköter auf. Sie schnupperten mit erhobenen Köpfen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er ließ sie nicht aus den Augen, während er auf die Anhöhe aus aufgehäufter Schlacke stieg. Er blieb auf dem höchsten Punkt stehen, die Hände in den Hosentaschen seiner ausgeleierten Hose. Die Hunde drehten sich abrupt um und rannten in Richtung des sumpfigen Ufers. Bald verschwanden sie hinter den herumliegenden Blechdosen. Auf manchen waren stilisierte rechteckige Käsestücke mit dunklen Löchern zu erkennen. Er hätte Lust gehabt, noch lange dazustehen und sich umzusehen. Er wartete darauf, dass es dunkel genug wurde. Nur die Dunkelheit verbarg das widerwärtige Bild. Plötzlich rief jemand nach ihm. Er sah den blauen Lada vor dem gegenüberliegenden Haus. Erneut hörte er seinen Namen.

    Zwei weitere Wagen – ein schlammbespritzter grüner Jeep und ein anderer Lada – hielten hinter dem blauen. Aus den Autos ergoss sich eine Schar junger Leute. Neue Bewohner der Wüste ringsherum. Sie sahen ausgesprochen lebensfroh aus. Sie ließen zwei Flaschen Wodka der Marke »Atlantik« die Runde machen. Aus dem blauen Lada stieg noch ein Mädchen. Eine schlanke Gestalt mit hoch aufragenden, spitz zulaufenden Brüsten. Sie schaukelte mit tänzelnden Schritten zu den anderen. Er erkannte in ihr Mariana, und es lief ein Schauer über seinen Körper, wie oft in letzter Zeit, wenn er an sie dachte.

    Wenn sie einander trafen, tauschten sie für gewöhnlich Banalitäten aus. Einzig und allein ihr Lächeln hatte Bedeutung. Der Blick, die übertriebenen Gesten. Ihre Handgelenke waren unnatürlich zart. Verrückt, dass er für dieses Mädchen so starke Gefühle verspürte. Einmal hatte er den Mut, sie aufzuhalten und nach ihrem Namen zu fragen. Es wunderte ihn, dass sie ihm antwortete. Er sah sie an und schwieg. Mariana, wiederholte sie, und brach in Gelächter aus. So verliefen fast all ihre zufälligen Treffen. Manchmal gelang es ihm, sich ein paar Sätze abzuquälen. Aber er zog es vor, schweigend neben ihr herzugehen.

    Beim letzten Treffen war er vorbereitet, gab sich angriffslustig, schlug vor auszugehen. Er habe es satt, sie zwischen den Blocks abzupassen. Er erklärte ihr, wie gern er mit ihr allein sein wollte. Aufgeregt wedelte er mit den Armen und achtete darauf, nicht wieder zu verstummen. Er begriff dann irgendwann, dass Mariana die Einladung freundlich ablehnte. Er sprach aus Trägheit weiter. Er lächelte noch immer, als sie auseinandergingen. Er hatte gesagt, was er sich zurechtgelegt hatte. Aber seither schien sie ihm aus dem Weg zu gehen. Nie traf er sie irgendwo. Einige Male am Tag ging er an ihrem Block vorbei und schaute zu den Fenstern im fünften Stock hinauf. Manchmal hatte er Lust, an ihrer Tür zu läuten, was war schon dabei? Er würde sie ja nicht fressen. Aber die Eingangstür war immer verschlossen. Die alten Frauen, die davor herumschlenderten, sahen ihn misstrauisch an. Sie öffneten die Tür nur so weit, dass sie sich hineinzwängen konnten und zogen sie sofort wieder hinter sich zu. Oft stellte er sich vor, wie sie ihn von oben beobachtete. Und sich über seine Bemühungen lustig machte.

    Auf der anderen Seite des Flusses hatte Mariana jetzt einen bärtigen Typen umarmt. Sie hing geradezu an seinem Hals. Sie ließ ihn mit dem einen Arm los, griff sich die Wodkaflasche, nahm einen Schluck, den Kopf in den Nacken geworfen. Wieder blickte sie zu ihm hinüber und rief mit voller Stimme:

    »He, Pavel, wie lange soll ich noch auf dich warten? Seit einem halben Jahr willst du mir die Sterne vom Himmel holen. Was ist jetzt? Komm schnell, wir fahren gleich los. Du verstehst schon. Ehe du dich versiehst, ist dein Fallschirm aufgegangen.«

    Er ging ohne zu zögern zu der kleinen Holzbrücke und war erstaunt, dass der Pavel, den sie rief und dem sie Zeichen machte, er selbst war. Aber es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er versuchte, seinen Gang lässig aussehen zu lassen. Die Gruppe gegenüber geriet in Bewegung. Man verteilte sich wieder auf die Autos. Kein anderer beachtete ihn außer Mariana. Sie hatte die Flasche zwischen ihre Brüste gepresst und winkte ihm mit ihrer freien Hand zu.

    »Beeil dich!«, forderte sie ihn auf, »sonst werd ich dir keinen Tropfen geben. Nur dass du’s weißt.«

    Sie hielt ihm die Flasche direkt an den Mund. Damit er einen großen Schluck nahm.

    »Du kommst mit uns!«, ordnete sie lachend an. »Tu nicht so unschuldig! Du lebst nicht auf dem Mars. Das Leben ist ein Karussel. Wir müssen uns mit ihm drehen.«

    Der Wodka ließ ihn husten. Seit er aus dem Wehrdienst entlassen worden war, hatte er keinen Alkohol angerührt. Er sah sie hilflos an, sie ermunterte ihn, noch einen Schluck zu nehmen.

    »Los, nur noch ein klitzekleiner Schluck. Du willst doch ein freier Mensch sein. Ein Schlückchen noch, und wir steigen ins Auto. Sie warten nur noch auf uns. Die Party hat längst begonnen.«

    Er nahm noch einen Schluck und holte mit offenem Mund Luft. Innerlich stand er in Flammen. Sein Kopf füllte sich mit Nebel. Er folgte Mariana auf die andere Seite des Ladas. Er beugte sich hinunter, um einzusteigen, aber auf dem Rücksitz saßen schon vier. Mariana drängte sich hinein, ohne sie zu beachten. Jemand ächzte vor Schmerz auf, dann ein anderer. Am Ende setzte sie sich auf jemandes Knie, beugte sich zu ihm hinüber und reichte ihm die Hand.

    »Mach schon, nur Mut, wir machen uns dünn. Es sind höchstens zwanzig Minuten. Und Čiko ist der König des Lenkrads. Er kennt einen Schleichweg. Er kennt alle Schleichwege.«

    Mariana deutete mit einer übertriebenen Geste auf den schmalen Jungen am Steuer. Er war kahlrasiert. Man konnte deutlich drei Vertiefungen sehen, die der Länge nach über seinen dünnen Nacken liefen. Sie fuchtelte mit der Flasche vor ihrem Gesicht herum, überzeugte sich davon, dass noch genug drin war, und reichte sie Čiko.

    »Nicht jetzt, danke!«, lehnte er ab. »Ich habe den Jungs versprochen, nicht zu trinken, wenn ich fahre. Später werde ich es nachholen. Und wie!«

    Bald ermunterte sie ihn wieder, einen kleinen, einen wirklich nur klitzekleinen Schluck zu nehmen. Ihre Stimme war verführerisch. Verlockend. Aber Čiko schüttelte nur lächelnd den Kopf. Mariana trank, Pavel trank, die anderen tranken. Sie reichten die Flasche herum, lachten, zwinkerten sich zu. Mariana drehte die Flasche um, als der Wodka alle war.

    »Leer!«, trällerte sie.

    Im Auto begann ein allgemeines Gekichere. Sie schüttelten sich geradezu vor Lachen. Pavel hing in der Luft zwischen den Beinen von irgendeinem hinter ihm. Er bemühte sich, ihn nicht zu berühren. Die Muskeln seiner Oberschenkel waren steif vor Anstrengung. Er bereute, dass er so unüberlegt in den Wagen gestiegen war. Er wusste nicht einmal, wer der Gastgeber war. Mariana war bestimmt eingeladen. Sicher hatte man ausgerechnet, wie viele Mädchen auf einen Jungen kamen. Bei Partys herrscht immer Frauenmangel. Er wollte nicht die Rolle eines aufdringlichen Typen spielen. Im Jeep erkannte er einige bekannte Gesichter. Sie spielten oft Billard im Café. Er sagte »Hallo« zu ihnen. Mehr nicht. Aber der Alkohol und das allgemeine Geplauder machten ihn bald lockerer. Er lachte mit den anderen. Er hatte den Gesprächen im Auto entnommen, dass die meisten sich nicht kannten.

    Es tauchte eine neue Flasche »Atlantik« auf, man hörte begeisterte Ausrufe. Sie prüften, ob auch wirklich Wodka drin war. Jemand öffnete den Verschluss und reichte die Flasche Mariana. Sie umschlang Pavel, bot ihm an, gleichzeitig zu trinken. Ihre vorgestreckten Lippen berührten sich. Wodka tropfte auf seine Hose.

    »Wenn wir erst da sind«, rief Čiko wieder, »werde ich alles nachholen, aber wie.«

    Er fuhr mit stocksteifem Rücken, beide Arme ausgestreckt. Das starre Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. Er gab Gas, ohne seine Miene zu verändern, und bog abrupt ab. Er schaltete in den zweiten Gang und überholte seitlich auf dem Gras den Jeep und den anderen Lada. Auf einer steilen Wiese endete der Weg. Dort stellte er den Wagen quer und hielt an. Die Autos hinter ihnen überholten sie, fuhren noch weiter hinauf. Sie bogen in die entgegengesetzte Richtung ab. Das Chaos beim Parken passte zur allgemeinen Stimmung. Die Türen gingen auf, alle stiegen erheitert aus. Man hörte »Auf-zur-Party«-Rufe. Sie stießen indianische Kampfschreie aus, zeigten auf das Wochenendhaus. Es war ein solides zweistöckiges Gebäude mit alpinem Dach und hölzernen Fensterläden. Zwei von ihnen rannten los, wetteiferten, wer zuerst am Haus wäre. Außer Atem versuchten sie, sich durch die Gitterstäbe des Zauns zu zwängen. Der Blonde, mit Haaren, die zu einem nach hinten abstehenden Schwanz gebunden waren, blieb mit seiner Lederjacke an den Metalldornen hängen. Der andere schlüpfte zurück. Er beugte sich über den Blonden und half ihm, sich zu befreien. Er beruhigte ihn, dass das Loch in der Jacke so gut wie gar nicht zu sehen sei.

    »Dreihundertfünfzig Dollar hab ich dafür hingelegt«, sagte der Blonde. »Aber scheiß drauf, das spielt keine Rolle.«

    Inzwischen hatten sich alle versammelt. Jemand entdeckte eine Eisentür. Dorthin zogen sie unter Lachen und Rufen. Ein fülliges Mädchen mit dicken Lippen wedelte mit einem großen Schlüssel. Sie gab ihn wie einen Staffelstab dem, der ihr am nächsten stand. »Aufmachen, aufmachen, aufmachen«, rief sie kichernd. Die Typen um sie herum hoben sie hoch und trugen sie über ihren Köpfen wie eine afrikanische Prinzessin. Sie stimmten den Hochzeitsmarsch an, bald sangen sie im Chor.

    Sie gingen über den gepflasterten Pfad zwischen wucherndem Gras und hohen Brennnesseln. Die Prozession wurde von Lachen geschüttelt. Auch das Mädchen mit den dicken Lippen lachte und ruderte mit Armen und Beinen. Als sie den asphaltierten kleinen Platz erreichten, bat sie darum, sie herunterzulassen. Sie zog aus dem Leinenbeutel, der über ihren Brüsten hing, einen Schlüsselbund und klimperte damit über ihrem Kopf.

    Alle warteten, bis sie die Haustür aufgeschlossen hatte, und stürzten in den Flur. Sie rannten, stießen sich, wetteiferten, wer zuerst das Ende erreichen würde. Jemand fragte, ob es Strom in dieser Höhle gäbe. Einem anderen war es egal, ob es Strom gab. Die Ungeduldigen wurden gemahnt, dass es noch nicht an der Zeit war, miteinander zu knutschen. Die Lampen im Flur und in dem riesigen Zimmer in L-Form leuchteten gleichzeitig auf. Einige Hände versuchten wieder, das Mädchen mit den dicken Lippen hochzuheben. Es gelang ihm, sich zu befreien, und es begann, sich durch den Flur zu zwängen.

    »Jeder soll sich einen bequemen Platz suchen«, ordnete sie mit lauter Stimme an. »Und fühlt euch nicht wie zu Hause. Nicht jeder hat es ja gut zu Hause. Fühlt euch wie im Paradies. Aber macht nichts kaputt. Aber wenn etwas kaputtgeht, dann macht euch keine Sorgen.«

    Ich will dir erklären, warum ich gegangen bin, liebe Mutter, warum ich weggelaufen bin und warum ich auf dieser Pritsche herumhänge und versuche, nicht nachzudenken. Mir fehlen die Worte. Ich wiederhole immer nur »liebe Mutter, liebe Mutter«. Ich kann dir nicht erklären, warum ich gegangen bin, warum ich weggelaufen bin. Die Augen fallen mir zu, aber ich will standhaft sein. Ich will mich erinnern und standhaft bleiben. Ich werde nur auf der Pritsche sitzen und schauen. Ich erwarte, dass sie mich auf ein Schiff laden, in ein Flugzeug, in eine Weltraumrakete. Und dass sie mich irgendwohin schicken. Damit ich noch weiter weg bin, mich mit jeder vergangenen Stunde noch weiter entferne. So weit weg, dass es, wenn ich mich wie jetzt frage, warum ich gegangen bin, warum ich weggelaufen bin, keine Antwort mehr braucht. Oder die Erklärung findet sich in den Ozeanen, auf den Kontinenten, in den kosmischen Weiten.

    Liebe Mutter, ich sehe dich, wie du Kinder in der Grundschule unterrichtest. Ich weiß, dass du nie Lehrerin gewesen bist. Aber ich sehe dich, wie du durch die Reihen gehst, vor den ungehorsamsten Kindern stehen bleibst und ihnen erklärst, was sie nicht verstehen. Ich sitze ganz hinten, am Fenster, und du kommst nie bis zu meiner Bank, so sehr ich es mir auch wünsche. Obwohl auch ich nichts weiß, denn ich verstehe genauso wenig wie die anderen.

    Liebe Mutter, du nähst Reißverschlüsse an Hosen und willst nicht dazulernen. Es reicht dir, dass du mit den Reißverschlüssen zurechtkommst. Liebe Mutter, ich möchte gern lernen, wie man Hosen näht. Aber das, denke ich, ist keine Männerarbeit. Obwohl die besten Schneider Männer sind. Ich kneife die Lippen zusammen, würde dir gern Mut machen, Hosen zu nähen. Später, liebe Mutter, werde ich verstehen, wie recht du gehabt hast. Spielt es eine Rolle, ob du nur Reißverschlüsse annähst oder ob du Hosen schneiderst? Hat überhaupt irgendetwas einen Sinn, liebe Mutter?

    Ich kann jetzt nicht erklären, was der Grund ist. Ich verstehe ihn nicht, besonders nicht auf dieser Pritsche, wenn ich versuche, nicht an dich zu denken. Liebe Mutter, denk an alles, was du nicht leiden kannst. Das Warten auf eine Unterschrift – was für eine Unterschrift auch immer. Aber ohne sie geht es nicht. Vor der Tür, auf der »Chef« steht. Und du wartest, wartest, wartest. Aber jetzt gehst du nach Hause zurück. Und erzählst, wie du gewartet und gewartet hast. Ich wollte, dass sie mich als Gepäck auf ein Schiff laden, in ein Flugzeug, in eine Weltraumrakete und dass sie mich irgendwohin schicken, Hauptsache weit weg. Aber ich lauschte nicht nur deiner Erzählung über das Warten vor der Tür, die nicht die Güte hatte aufzugehen. Ich selbst wartete. Ich wartete und wartete, liebe Mutter, und füllte mich mit Unerträglichkeit an. Am Ende explodierte ich. Ich zersprang in tausend Stücke. Ich flog mit dem Wind, trieb im schmutzigen Fluss vor dem Wohnblock. In mir drängelten sich Wörter, Absichten, Versprechungen. Ich bemerkte nicht, dass ich in Stücke gegangen war. Nur in meinem Kopf lebendig, nur in der Brust, nur … nur … Ich bemerkte nicht, dass mich die Unzufriedenheit in Stücke gerissen hatte. Ich war explodiert, gesprengt. In Stücke gerissen, aber ich lebte, jeder Teil von mir war lebendig. Bereit zu überleben. Auch wenn ich weiß, dass es keinen Sinn hat, das hast du ja selbst gesagt.

    Liebe Mutter, ich versuche vergeblich, es dir zu erklären. Ich kann mich nicht erinnern, was genau, aber du hast es sicher verstanden, so wie auch ich, der ich es dir nicht sagen werde. Es bleibt das Wichtigste. Du bist viel zu weit weg, als dass ich den Versuch unternehmen könnte, dir zu helfen. Du nähst schon lange keine Reißverschlüsse mehr an. Du hast nie etwas angenäht. Und deshalb sehe ich dich, wie du den braven und weniger braven Kindern hilfst. Ich weiß, liebe Mutter, dass du nie Lehrerin gewesen bist. Aber ich sehe, wie du denen, die Fehler machen, hilfst.

    Du beugst dich zu den Köpfen der Kinder hinunter, führst ihre Hand, während sie angestrengt Buchstaben malen, die wie Häkchen aussehen. Und wie oft ich mich auch melde, du bemerkst mich nicht, siehst nicht, dass ich ebenfalls Hilfe brauche. Es gelingt mir nicht, dir die Hauptsache zu sagen, auch nicht das Nebensächliche, ich sehe nur, wie ich dir schon seit Jahren von der letzten Bank ein Zeichen gebe, aber du bemerkst mich nicht. Du bewegst dich zwischen den anderen Kindern, und ihnen hilfst du geduldig.

    Ich will dir nur das sagen: liebe Mutter. Es reicht, ich habe es jetzt verstanden. Da, ich gebe dir kein Zeichen mehr von meiner Bank, sondern wiederhole nur aus der Ferne: liebe Mutter, liebe Mutter … Ich interessiere mich nicht dafür, was ich falsch gemacht habe und wie oft ich es noch falsch machen werde. Ich habe das Heft mit den darin gemalten Häkchen endgültig zugeschlagen. Ich will dir etwas sagen, und du sollst mich dann ansehen und verstehen, dass ich, egal wie leise ich es wiederhole, wie weit weg ich auch sein mag, nur

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1