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Verurteilt im Iran: Der hohe Preis des Glaubens
Verurteilt im Iran: Der hohe Preis des Glaubens
Verurteilt im Iran: Der hohe Preis des Glaubens
Ebook515 pages6 hours

Verurteilt im Iran: Der hohe Preis des Glaubens

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About this ebook

"Ihr seid wie Engel an diesem Ort", so die Mithäftlinge. Maryam und Marziyeh landen in Evin, dem berüchtigsten Gefängnis des Iran, weil sie ihren christlichen Glauben nicht verschweigen. Doch obwohl Tod oder Folter drohen, bleiben sie standhaft. "Evin ist unsere Kirche", sagen sie und berichten von unglaublichen Begegnungen. Unerwartet werden sie freigesprochen und 2011 gelingt ihnen die Ausreise in die USA, wo ihnen politisches Asyl gewährt wird. Ein spannendes und sehr ermutigendes Buch.
LanguageDeutsch
PublisherSCM Hänssler
Release dateOct 21, 2014
ISBN9783775172363
Verurteilt im Iran: Der hohe Preis des Glaubens

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    Book preview

    Verurteilt im Iran - Maryam Rostampour

    Vorwort

    Vor einiger Zeit kehrte ich von einer Missionsreise nach Indien zurück, doch innerhalb von sechsunddreißig Stunden machte ich mich wieder auf den Weg. Dieses Mal fuhr ich zu einer Frauenfreizeit, die etwa neunzig Autominuten von Atlanta, Georgia, stattfand. Abends hielt ich einen Vortrag, und am nächsten Morgen suchte mich die Leiterin der Freizeit in meiner Blockhütte auf, um mir zwei iranische Frauen vorzustellen, die mich ihrer Meinung nach interessieren würden. Man stellte sie mir mit ihren amerikanischen Namen vor: Marcie und Miriam.

    Wir unterhielten uns einen Augenblick, und als ich erfuhr, dass sie aus einem muslimischen Land stammten, bat ich sie, mir zu erzählen, wie sie zum Glauben an Jesus gefunden hatten. Ich war nicht auf den Segen gefasst, der sich über mich ergoss, als sie von ihrem persönlichen Glaubensweg zu erzählen begannen. Sie waren nicht einfach von der Sünde errettet worden. Sie hatten sich nicht einfach zum Christentum bekehrt. Sie beide liebten Jesus über alles! Im Lauf der nächsten Stunde erklärten sie mir auch warum – diese Liebe war im Feuer von Verfolgung und Schmerz geschmiedet worden.

    Gegen Ende unseres Gesprächs traten ihnen die Tränen in die Augen, und sie machten eine Bemerkung, die mich bis heute nicht losgelassen hat: Sie meinten, es sei im Evin-Gefängnis leichter für sie gewesen, Gottes Frieden und Gegenwart zu erfahren, als hier in Amerika. Im Evin-Gefängnis! Dieses Gefängnis in Teheran hat einen schlechteren Ruf als Alcatraz oder Sing-Sing in den Vereinigten Staaten. Bei dem Gedanken an diesen Ort fängt selbst der Stärkste an zu zittern. Wie konnte das angehen?

    Ich musste meinen Flug erreichen, und deshalb blieb mir keine Zeit herauszufinden, warum sie das gesagt hatten. Oder um etwas von ihren Erlebnissen im Evin-Gefängnis zu hören. Oder wie sie Gott dort erlebt hatten. Oder wie ihr Glaube diese schrecklichen Erlebnisse nicht nur überlebt hatte, sondern sogar noch gewachsen war. Als ich einige Wochen später von ihnen einen Brief bekam, in dem sie mich um die Erlaubnis baten, mir das Manuskript ihres neuen Buchs zu schicken, damit ich ein Vorwort dazu schreiben konnte, sagte ich sofort zu. Ich konnte es gar nicht erwarten, die Einzelheiten ihrer Geschichte zu hören. Und ich wurde nicht enttäuscht.

    Die Lektüre fesselte mich, Seite um Seite, Geschichte um Geschichte. Doch was mich am meisten beeindruckte, waren nicht die Worte, mit denen sie das Leben hinter Gittern schilderten, sondern das, was ich zwischen den Zeilen las. Ich war und bin immer noch überwältigt von ihrer Kühnheit, ihrer inneren Stärke, ihrer Standhaftigkeit und ihrem furchtlosen Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes, dem Retter der Welt und dem auferstandenen Herrn und König. Liebevoll und unerschrocken erzählten sie den innerlich zerbrochenen Frauen von ihm, die mit Tränen der Verzweiflung darauf reagierten, sie erzählten den Gefängnisbediensteten und Aufsehern, die sie foltern lassen konnten, von Jesus, und auch den Richtern, die sie früher freigelassen hätten, wenn sie bereit gewesen wären, ihren Glauben zu verleugnen.

    In der finsteren Hölle des Evin-Gefängnisses zündeten Marziyeh und Miriam ein Licht an! In ihrer Liebe zu den Geringsten, ihrer Freundlichkeit gegenüber den Grausamsten, ihrer Sanftheit und ihrer Barmherzigkeit gegenüber den Rauesten, ihrer Bereitschaft, an dem verdrecktesten Ort, den man sich vorstellen kann, zu dienen, spiegelt sich der Jesus, den sie lieben, mit erstaunlicher Deutlichkeit wider, ebenso wie sich darin seine Gegenwart innerhalb der Gefängnismauern zeigt. Er trug sie nicht nur irgendwie durch – sondern im Triumph!

    Und ich fragte mich … hat Gott sie hierher nach Amerika gebracht, um ihre erstaunliche Geschichte zu erzählen, um die Menschen, die zu ihm gehören, auf das vorzubereiten, was uns erwartet? Damit wir wissen, dass Gott treu und wahrhaftig ist, in welcher Situation wir uns auch immer befinden? Denn wir alle haben Gefängniserfahrung, oder? Wir kennen das Gefängnis körperlicher Schmerzen, des finanziellen Ruins, emotionaler Zerbrochenheit, Demütigung durch den Ehepartner, ehelicher Untreue …

    Dieses Buch hat mich im Glauben gestärkt. Lesen Sie es, und ich glaube, es wird auch Sie im Glauben stärken.

    Anne Graham Lotz

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Kein Grund zur Sorge

    Bild

    Maryam

    Als ich vom Zahnarzt kam, war niemand zu Hause. Der Kiefer pochte. Während ich mir ein Glas Wasser eingoss, um ein Schmerzmittel einzunehmen, klingelte das Telefon. Es war meine Schwester Schirin.

    »Ich bin so froh, dass ich dich zu Hause erwischt habe«, meinte sie. Ihre Stimme klang ängstlich. »Gestern Nacht habe ich einen schrecklichen Traum gehabt. Ich habe geträumt, du wärst verschwunden, und eine Stimme erklärte mir, dass du an einem dunklen und furchtbaren Ort wärst und Angst hättest. Mit einem Mal öffnete sich der Himmel über dir, und an deinen Haaren wurdest du in eine wunderschöne grüne Landschaft hineingezogen. Dann sagte die Stimme: ›Das wird deiner Schwester zustoßen.‹«

    »Denk einfach nicht mehr daran«, meinte ich leichthin. »Du machst dir völlig grundlos Sorgen. Hier ist alles bestens. Über Neujahr wollen Marziyeh und ich zwei Wochen in Urlaub fahren, und dann können wir uns wieder unterhalten.«

    Marziyeh und ich wollten tatsächlich verreisen, allerdings nicht um Urlaub zu machen. Diese Geschichte hatten wir unseren Angehörigen und Freunden nur zu ihrer eigenen Sicherheit erzählt. Wir wollten andere Städte im Iran besuchen und dort Neue Testamente verteilen.

    Ehrlich gesagt machte mir Schirins Traum mehr zu schaffen, als ich zugeben mochte, denn vor einiger Zeit hatte ich selbst einen verstörenden Traum gehabt: Marziyeh und ich standen inmitten einer Gruppe von Jungen und Mädchen auf dem Hügel. Ein alter Mann, von dem strahlendes Licht ausging, hatte für jeden von uns eine Prophetie. Als er Marziyeh und mich anblickte, meinte er: »Ihr beiden werdet weggenommen werden.«

    Die kurz bevorstehende Reise und die beiden Träume so kurz hintereinander – zusammengenommen war das schon ein wenig beunruhigend.

    Was immer Gott geplant hat, wird auch so geschehen.

    Ornament

    Ich döste gerade ein wenig auf der Couch, als es an der Tür klingelte. Im Treppenhaus hörte ich Marziyeh und auch einige andere Stimmen, die ich nicht kannte.

    Eigenartig. Warum kommt sie nicht einfach hinein? Vielleicht hat sie ihren Schlüssel vergessen.

    Ich blickte durch den Spion und sah Marziyeh, eine weitere junge Frau im islamischen Gewand und zwei junge Männer.

    »Öffnen Sie die Tür«, befahl die junge Frau.

    Mein Mund tat weh, nach den Medikamenten konnte ich nicht mehr ganz klar denken, und ich brauchte Zeit, um meinen Verstand wieder auf Touren zu bringen.

    »Sie müssen warten, bis ich mich umgezogen habe«, sagte ich durch die Tür. Nach dem islamischen Gesetz musste ich eine strenge Kleiderordnung einhalten, wenn ein Mann, mit dem ich nicht verwandt war, meine Wohnung betreten wollte.

    »Keine Angst«, entgegnete die Frau. »Ich komme allein herein.«

    Als ich die Tür öffnete, drängte sich die Frau hinein und begleitete mich augenblicklich in mein Zimmer, damit ich etwas Angemessenes anziehen konnte. Als wir ins Wohnzimmer zurückkehrten, saß Marziyeh auf dem Sofa, das Haar züchtig bedeckt, und die beiden jungen Männer durchsuchten unsere Wohnung. Schockiert und verängstigt sahen wir zu, wie sie systematisch jeden Winkel jedes einzelnen Zimmers durchkämmten, Schubladen und Schränke ausräumten und unsere Bücher und CDs durchwühlten. Sie durchsuchten sogar den Vorratsschrank in der Küche.

    Natürlich konnten sie keinen Durchsuchungsbefehl oder irgendeine schriftliche Anweisung vorweisen. Sie waren Basidsch, organisatorisch zur Revolutionsgarde gehörig, und sie brauchten keine Genehmigung für das, was sie taten. Wie die meisten Basidsch waren diese beiden jung und arrogant, knapp zwanzig Jahre alt oder etwas darüber, halbstarke Rabauken, deren bunt zusammengewürfelte Kleidung ihren halboffiziellen Status widerspiegelte, irgendwo zwischen Milizen im Auftrag der Regierung und gewöhnlichen Ganoven. Sie trugen keine Uniform, und weil sie nicht aus der Menge herausstechen wollten, hatten sie sogar auf den Tschafieh verzichtet, das schwarz-weiß karierte Tuch, das manche Basidsch tragen, um damit zu symbolisieren, dass sie Anhänger von Ajatollah Ali Khamenei sind, dem politischen und religiösen Führer des Iran. Ihre Kleidung war so schmutzig wie sie selbst.

    Marziyeh und ich teilten uns diese einfache Wohnung nördlich vom Stadtzentrum in Teheran seit einem Jahr. Sie lag auf einem ruhigen Hügel, war mit einem Kamin im Wohnzimmer ausgestattet, hatte weiße Wände und dunkelrote Vorhänge. Die modernen Sitzmöbel waren mit einem Stoff in einem dunklen Orange bezogen, darauf lagen dicke weiche Kissen. Durch die Fenster in den beiden Schlafzimmern sah man das wunderschöne Darakeh-Gebirge, ein beliebtes Ziel für Bergsteiger. Vom Küchenbalkon aus konnte man auf die Straße unten sehen und auch auf die abweisenden hohen Mauern eines nahe gelegenen Gefängnisses.

    Dieses Apartment war unser Zuhause, unser Zufluchtsort, und darüber hinaus der geheime Treffpunkt einer Hausgemeinde von jungen Leuten und anderen, die Haft oder sogar den Tod riskierten, wenn sie mit uns Jesus Christus anbeteten und damit das Gesetz übertraten.

    In unseren Schlafzimmern bewahrten wir einen Stapel Stühle sowie Neue Testamente und andere Literatur auf. Von dieser Basis aus verbreiteten wir das Evangelium von Jesus Christus in dieser riesigen Stadt mit ihren mehr als sieben Millionen Einwohnern. Nun waren diese Fremden ohne Vorwarnung hier eingedrungen und erteilten Befehle.

    »Setzen Sie sich auf das Sofa«, herrschte uns einer der Basidsch an, »und reden Sie nicht miteinander.«

    Er war schlaksig und nervös, eher ein Junge als ein Mann, mit dichten Augenbrauen, vollem schwarzen Haar und einem dünnen, strubbeligen Bärtchen. Seine Position und das islamische Gesetz, das Frauen grundsätzlich der Autorität der Männer unterwirft, flößten ihm Selbstbewusstsein ein, und er ließ keinen Zweifel daran, dass wir lieber kooperieren und den Mund halten sollten.

    Der andere Basidsch – älter und höher gewachsen, mit heller Haut und grünen Augen – schien den Einsatz zu leiten und klang etwas versöhnlicher. »Keine Angst, meine Damen«, sagte er. »Bleiben Sie einfach dort sitzen und bewahren Sie Ruhe.«

    Obwohl die beiden Männer eindeutig das Sagen hatten, brauchten sie nach dem islamischen Gesetz eine weibliche Begleitung, um unsere Wohnung zu betreten, weil sie nicht mit uns verwandt waren. Die junge Frau trug einen Tschador, das lange, weite und leichte Gewand, das muslimische Frauen in der Öffentlichkeit oder in der Gegenwart von Männern, mit denen sie nicht verwandt sind, tragen müssen, wenn sie nicht mit einem Kopftuch und einem Mantel, der die Hüfte verdeckt, bekleidet sind. Darunter konnten wir ihre grüne Uniform sehen. Vielleicht war sie eine Art Polizistin.

    Während die Basidsch unsere Wohnung durchsuchten, gelang es Marziyeh und mir glücklicherweise, unsere Mobiltelefone zu verstecken. Die Adressbücher, SMS und Fotos konnten unsere Freunde mit uns in Verbindung bringen und sie dadurch gefährden. Auf unserem Computer hatten wir Bilder von unseren Missionsreisen nach Indien und Südkorea gespeichert. Unglücklicherweise hatte ich den Fernseher nicht ausgestellt, bevor die Eindringlinge unsere Wohnung betraten. Unser Fernseher war illegal, weil wir über Satellit unzensierte Programme empfingen, die die Reinheit des islamischen Staates bedrohten.

    Ornament

    Marziyeh

    Die Minuten dehnten sich zu einer Stunde und mehr, und die Polizistin behielt uns scharf im Auge, während die beiden Männer unser Hab und Gut in Kartons auf den Wohnzimmerfußboden warfen. Sie hatten vierhundert CDs mit christlicher Thematik und Neue Testamente in Farsi, der Landessprache des Iran, gefunden und auch Karten mit christlicher Botschaft auf dem Kühlschrank entdeckt.

    »Sind Sie Christin geworden?«, wurde Maryam vom älteren Basidsch gefragt, der, wie wir erfuhren, Mohammadi hieß.

    »Ja«, antwortete sie mit selbstbewusster und klarer Stimme. »Ich bin seit elf Jahren Christin.«

    Dann wandte er sich an mich. »Wann sind Sie Christin geworden? Was hat Ihnen unser Imam Hussein Schlimmes angetan?«, wollte er von mir wissen und bezog sich damit auf unseren hochverehrten dritten Imam.

    »Ich bin Christin geworden, weil ich Jesus kennengelernt habe«, erklärte ich. »Ich habe mich nicht von irgendeiner Religion abgewendet. Ich habe mich Jesus zugewendet, weil er in mein Herz gekommen ist und mich zu sich gerufen hat.«

    »Sie haben Jesus kennengelernt?«, fragte Mohammadi mit sarkastischem Unterton. »Wie hat er denn ausgesehen? Hat er schwarzes oder blondes Haar? Trägt er einen Bart?«

    Ich gab keine Antwort. Während ich zusah, wie man unsere Wohnung systematisch auseinandernahm, fielen mir wieder die Träume ein, dass ich eines Tages ins Gefängnis kommen würde, um für meinen Glauben zu kämpfen. Nur Maryam und einigen anderen Freunden hatte ich von dieser Vorahnung erzählt. »Jagt dir der Gedanke, hinter Gittern zu sitzen, keine Angst ein?«, wollten sie von mir wissen. »Hast du keine Angst, dass man dich dort foltert oder vergewaltigt?« Meine Antwort fiel immer gleich aus. »Gott ist mein Vater, und er würde niemals zulassen, dass mir so etwas Schreckliches zustößt. Und wenn er es doch täte, würde ich mich in seinen Willen ergeben, auch wenn ich es nicht verstehe. Es ist vielleicht unverständlich, aber ich werde dem Herrn immer vertrauen.«

    Inzwischen war es sechs Uhr abends, und die Basidsch hatten unsere Wohnung schon über zwei Stunden durchsucht. Wir baten um Erlaubnis, vom Sofa aufzustehen, gaben ihnen die CDs und Neue Testamente, die sie übersehen hatten, und halfen ihnen sogar beim Zählen: 190 Neue Testamente und 500 CDs.

    Maryam weigerte sich, sich einschüchtern zu lassen, und meinte: »Die müssen Sie uns wiedergeben!«

    »Ich bin sicher, Sie bekommen alles wieder«, versprach Mohammadi. Es klang nicht sehr überzeugend.

    Maryam griff nach einem Neuen Testament und überreichte es ihm. »Sie sollten eins davon nehmen und es lesen.«

    »Das habe ich schon«, entgegnete er. »Aber ich habe die wahre und richtige Fassung gelesen, nicht diese verfälschte.«

    Damit meinte er einen der verfälschten vermeintlichen Bibelteile, die auf Farsi gedruckt und im Iran in Umlauf gebracht werden, um das Christentum in Misskredit zu bringen, vermutlich das sogenannte Barnabasevangelium. Dieser Text wurde im achtzehnten Jahrhundert verfasst und stellt Jesus nicht als Sohn Gottes und den Retter der Welt dar, sondern als einen der unbedeutenderen Propheten, ganz im Einklang mit dem Koran. Viele Muslime halten dieses Buch für ein echtes Evangelium, da sie niemals die Möglichkeiten hatten, eine richtige Bibel zu lesen.

    Dann hielt er noch ein anderes Buch hoch, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. »Was wollen Sie mit diesem Buch?«, fragte er mich.

    »Man kann es in den Buchhandlungen im ganzen Land bekommen«, erwiderte ich. »Wir haben geglaubt, es könnte uns interessieren.«

    Als Mohammadi unsere Bücher durchblätterte, war ich nicht sicher, ob er überhaupt lesen konnte. Wenn ja, hatte er jedenfalls kaum Ahnung von Büchern, was für diese engstirnigen und ungebildeten Menschen, die zu Tausenden auf der Gehaltsliste der Regierung standen, typisch war. Er konnte die christlichen Bücher nicht von den anderen unterscheiden, und er erkannte auch nicht, dass eine unserer CDs von einer der beliebtesten Musikgruppen unseres Landes stammte.

    »Der Herr scheint in diesem Haus überall anwesend zu sein«, meinte Mohammadi schließlich.

    »Sie finden hier überhaupt nur den Herrn«, entgegnete ich, »weil wir mit dem Herrn leben.«

    Wir bewegten uns auf gefährlichem Terrain. Diese Leute hatten unsere Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht. Wahrscheinlich würden sie uns gleich ohne Haftbefehl verhaften. Theoretisch ist es kein Verbrechen, im Iran Christ zu sein. Praktisch jedoch nehmen Polizeibeamte, die Revolutionsgarde, Richter und andere Menschen mit Machtbefugnissen das Gesetz selbst in die Hand, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Diese beiden Jungen und die Frau konnten uns alles Mögliche zur Last legen oder uns ohne Grund in Gewahrsam nehmen. Und obwohl es kein Verbrechen war, Christ zu sein, wurde die Abkehr vom Islam und jegliche missionarische Tätigkeit zugunsten einer anderen Religion als Apostasie – Abfall vom Glauben – betrachtet, was mit dem Tod bestraft werden konnte.

    Zwar waren Maryam und ich tatsächlich in muslimischen Familien aufgewachsen und trugen islamische Namen, doch hatten wir uns als Kinder oder Jugendliche niemals zum Islam bekannt. Darum waren wir unserer Auffassung nach auch niemals vom Islam abgefallen, weil wir niemals wirklich daran geglaubt hatten. Wir hatten uns auf einer christlichen Konferenz in der Türkei kennengelernt und beschlossen zusammenzuarbeiten. Die letzten drei Jahre hatten wir in Teheran verbracht und in aller Stille jedem, der daran interessiert war, vom Evangelium erzählt. Auf dem großen Stadtplan, der bei uns an der Wand hing, hatten wir Planquadrate eingezeichnet. Zwei Jahre lang waren wir jeden Abend zwischen acht und Mitternacht aus dem Haus gegangen und hatten dabei jedes Mal ein Planquadrat besucht. Unsere Neuen Testamente verschenkten wir in Cafés und an Taxifahrer, manchmal ließen wir sie auch in den Taxis oder Cafés liegen oder steckten sie in den Briefkasten. Wenn wir einen Bereich abgearbeitet hatten, markierten wir ihn auf dem Stadtplan mit einem Kreuz. In diesen drei Jahren hatten wir so etwa zwanzigtausend Neue Testamente verteilt.

    Wir arbeiteten nicht nur in Teheran, sondern verteilten die Bibeln auch in anderen Städten. Sogar im Schrein der Fatima Masuma in Ghom, einer der heiligsten Stätten des Islam, die Nichtmuslime gar nicht erst betreten dürfen, ließen wir einige Neue Testamente zurück. Welcher Ort hätte sich besser geeignet, um Menschen mit der Wahrheit von Jesus Christus bekannt zu machen! Im Lauf der Jahre hatten wir gelernt, vorsichtig zu sein und uns immer darauf zu verlassen, dass Gott uns bewahren würde.

    Trotzdem hatte man an den offiziellen Stellen Verdacht geschöpft. Unter keinen Umständen wollten wir unseren Glauben verleugnen oder verbergen, doch nun, da uns die Regierung im Blick hatte, lag die Herausforderung darin, Christus treu bleiben und trotzdem unseren Dienst fortzusetzen, ohne festgenommen zu werden.

    Diese Gedanken und Erinnerungen rasten mir durch den Kopf, während Maryam und ich den Basidsch halfen, alles Gewünschte zusammenzupacken – die Neuen Testamente, CDs, unsere privaten Kalender, persönliche Habseligkeiten, Personalausweise und so weiter. Sie befahlen uns mitzukommen, erlaubten uns jedoch nicht, zusätzliche Kleidung oder andere Dinge mitzunehmen. Wir hatten keine Ahnung, wo sie uns hinbringen wollten oder wann wir wieder zu Hause sein würden.

    »Sollen wir Winter- oder Sommerkleidung mitnehmen?«, fragte Maryam, um die Stimmung aufzulockern. Niemand antwortete.

    Die junge Frau begleitete uns zu einem schmutzigen weißen Kleinwagen und nahm zwischen uns auf dem Rücksitz Platz. Die Männer folgten ihr mit den Kartons, in denen sich unsere Sachen befanden. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt, und es war ein kühler Wind aufgekommen. Die Straße vor unserer Wohnung war ruhig, doch als wir durch unser Viertel fuhren, wurde es belebter, denn viele Menschen besorgten ihre Einkäufe für das iranische Neujahrsfest, das in gut zwei Wochen stattfinden würde. Auf den engen Straßen drängten sich die Autos, und die Bürgersteige waren voller Menschen.

    Wir fuhren an den Gefängnismauern vorbei, die wir von unserer Küche aus sehen konnten. Es handelte sich um das Evin-Gefängnis, eine berüchtigte Haftanstalt, die unter dem Schah erbaut worden war, um hier Regimekritiker zu inhaftieren. Seit seinem Sturz 1979 sitzen hier unter anderem politische Gefangene ein, und wer als Feind des islamischen Staates gilt, wird oft in eine Einzelzelle gesperrt oder gefoltert. Fast jeden Tag kamen wir an den einschüchternden roten Backsteinmauern vorbei. Oft hatten wir uns gefragt, wer dort gefangen gehalten wurde und wie das Leben der Häftlinge aussah. Vielleicht würden wir das bald selbst herausfinden.

    Schließlich hielten wir vor einem Polizeirevier im Gischa-Viertel, einem dreistöckigen Backsteingebäude, in dem den ganzen Tag ein Kommen und Gehen herrschte, weil hier Kraftfahrzeuge angemeldet wurden. Wie immer herrschte am Eingang Hochbetrieb. Doch statt durch den Vordereingang zu gehen, befahlen uns die Basidsch auszusteigen und eskortierten uns in eine ruhige Nebenstraße, die den Blicken der Öffentlichkeit nicht ausgesetzt war. Hier standen mehrere Wachen. Dies war der Eingang zur Basis Zwei, dem Sitz der Sicherheitspolizei, die sich mit Verbrechen gegen den Staat beschäftigte.

    Ornament

    Diese unglaubliche und Angst machende Kette von Ereignissen hatte am frühen Morgen dieses 3. März 2009 begonnen. Als Maryam und ich uns fertig machten, um verschiedene Besorgungen zu erledigen, erhielt ich einen mysteriösen Anruf. Eine höfliche Stimme am anderen Ende der Leitung informierte mich, dass es ein Problem mit meiner Kraftfahrzeuganmeldung gebe, und bat mich, vor zwei Uhr zum Gischa-Polizeirevier zu kommen, um das in Ordnung zu bringen. Sofort rief ich den Vorbesitzer des Wagens an, um nachzufragen, ob er von irgendwelchen Problemen wüsste, doch dort nahm niemand ab. Dann rief ich einen befreundeten Anwalt an, um ihn zu fragen, ob ich mir deswegen Sorgen machen müsste.

    »Nein«, versicherte er mir. »Solche Probleme gibt es andauernd. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

    Trotzdem musste ich einfach daran denken, was mir vor einigen Tagen passiert war, als ich meinen Pass verlängern lassen wollte. Auf einem der Formulare musste ich meine Religion angeben, und ich hatte »Christ« angekreuzt. Als ich am Schalter an die Reihe kam, war der Beamte sehr ungehalten.

    »Wie ist das möglich?«, fragte er mich. »Sie haben einen islamischen Namen. Ihre Eltern sind Moslems. Wie können Sie denn nur Christ sein?«

    »Bei Gott ist alles möglich«, antwortete ich. Der Beamte warf mir einen strengen Blick zu, sagte aber nichts.

    An diesen Wortwechsel erinnerte ich mich, als ich aus dem Haus ging, um meine Schwester Elena zu besuchen, bevor ich schließlich gegen halb zwölf auf dem Polizeirevier eintraf. Am Eingang hielt mich ein Wachposten an.

    »Was wollen Sie hier?«, fragte er mich.

    »Man hat mich angerufen, weil es ein Problem mit meinen Wagenpapieren gibt«, erklärte ich.

    »Sie sollten sich anders anziehen, wenn Sie hier hineingehen möchten.«

    Ich war sehr züchtig gekleidet und hatte mein Haar vollständig bedeckt, wie es im Iran in der Öffentlichkeit vorgeschrieben ist, doch den islamischen Tschador trug ich nicht, weil ich keine Muslima bin.

    »Aber mein Haar ist bedeckt«, erklärte ich.

    »Ich habe Ihnen das gesagt, weil es meine Aufgabe ist«, erwiderte der Wachposten. »Der Rest liegt an Ihnen. Aber wenn Sie so gekleidet hier vorsprechen, wird man Sie ignorieren und Ihnen nicht helfen.«

    Weil ich das Geheimnis mit meinen Fahrzeugpapieren aufklären wollte, kehrte ich in meine Wohnung zurück und zog mich um. Dann machte ich mich wieder auf den Weg ins Polizeirevier. Inzwischen hatte es wegen der Mittagspause und einem der vom islamischen Gesetz vorgeschriebenen Gebete geschlossen.

    Ich erklärte dem Wachposten, dass man mich angewiesen hatte, nicht später als zwei Uhr nachmittags hier zu erscheinen. Doch er beharrte darauf, dass das Revier geschlossen sei und mir niemand helfen könne. Nach einigen Minuten des Wortwechsels konnte ich ihn endlich überzeugen, mich hineinzulassen. Dem Beamten am Schalter erzählte ich von dem Anruf.

    »Unmöglich«, erwiderte er. »Ich glaube nicht, dass wir Sie angerufen haben. Da muss ein Irrtum vorliegen.« Er überreichte mir eine Adresse. »Versuchen Sie es hier einmal.«

    In diesem Augenblick kam ein übergewichtiger Mann mittleren Alters in Polizeiuniform vorbei. »Mein Name ist Haghighat«, meinte er freundlich. (Haghighat ist das Farsi-Wort für »Wahrheit«. Höhere Polizeibeamte, Richter und andere Angehörige der iranischen Verwaltung und Regierung benutzen nicht ihre richtigen Namen. Der Deckname dieses Beamten sollte sich bald als ironische Wahl herausstellen.) »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen«, sagte er. »Folgen Sie mir.«

    Er ging mir durch den Flur in einen spärlich eingerichteten Raum voraus, wo ein stämmiger Mann mit großem eckigem Kopf und kräftigem schwarzem Stoppelbart an einem Tisch wartete. Seine dunklen, tief liegenden Augen wirkten zu klein für sein Gesicht, die Stirn war zerfurcht, als müsste er sich dauernd über irgendetwas ärgern.

    Zu meiner Überraschung lächelte er und sagte: »Hier sind Sie richtig. Der Anruf heute Morgen kam von mir. Ich heiße Rasti.« (Rasti ist ebenfalls ein Farsi-Begriff für »Wahrheit«.) »Bitte nehmen Sie Platz.« Herr Haghighat verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb allein mit Herrn Rasti zurück.

    »Zeigen Sie mir Ihre Papiere«, forderte er mich auf.

    Ich reichte ihm meinen Personalausweis, den Führerschein und den Kfz-Schein. Nachdem er alles ausgiebig betrachtet hatte, begann Herr Rasti Fragen zu stellen, ohne auch nur einmal aufzuschauen.

    »Sind Sie verheiratet oder alleinstehend?«

    »Alleinstehend.«

    »Leben Sie allein oder bei Ihren Eltern?«

    »Ich wohne mit einer Freundin zusammen.«

    Er fragte mich nach meiner Adresse und anderen persönlichen Angaben. Dann machte er wieder eine Pause.

    »Sind Sie Christin?«

    Aha! Darum ging es also die ganze Zeit. Das Auto hatte überhaupt nichts damit zu tun. Sie haben mich herbestellt, weil ich einen Pass beantragt habe. »Ja, ich bin seit elf Jahren Christ. Warum fragen Sie mich jetzt?«

    »Kennen Sie die Bibel?«

    »Ja, natürlich. Ich bin Christin und ich kenne die Bibel. Ich besitze eine Bibel. Ist das ein Problem?«

    Herr Rasti gab keine Antwort. Stattdessen wollte er wissen, ob ich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Restaurant gewesen war. Es handelte sich um ein beliebtes Restaurant im traditionellen Stil, in dem die Gäste auf Sofas an niedrigen Tischen lagen. Auch Essen und Musik waren traditionell. Vor allen Dingen junge Leute kamen gern hierher, und das Restaurant wurde ständig von der Geheimpolizei überwacht.

    »Ich kann mich nicht erinnern«, erwiderte ich. »Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, was ich gestern gegessen habe. Ich glaube, ich kenne dieses Restaurant, aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, ob ich an diesem Datum da war oder nicht.«

    Endlich schaute Herr Rasti auf und durchbohrte mich mit seinem Blick. »Unsere Sicherheitsleute haben Sie und Ihre Freundin dort im letzten Monat gesehen, wie Sie Bibeln verteilt haben. Sie haben sich Ihr Autokennzeichen aufgeschrieben, und jetzt haben wir Sie gefunden. Haben Sie in diesem Restaurant Bibeln verteilt?«

    »Ich bin Christin«, wiederholte ich, »und ich glaube an die Bibel. Wenn mir jemand Fragen zur Bibel stellt, beantworte ich sie. Wenn mich jemand um eine Bibel bittet, gebe ich ihm eine. Es könnte schon sein, dass ich jemandem in diesem Restaurant eine Bibel geschenkt habe. Gibt es damit ein Problem?«

    Mit einem Schlag veränderten sich seine Stimmung und sein Gesichtsausdruck. Mit verärgerter Miene sprang er von seinem Stuhl auf und brüllte: »Ich werde Ihnen sagen, was wir damit für ein Problem haben! Wachen! Holt mir sofort zwei weibliche Wachen!«

    Die plötzliche Veränderung in der Gesprächsatmosphäre war erstaunlich, und einen Augenblick bekam ich Angst. Dann erinnerte ich mich an das Versprechen, das ich schon vor langer Zeit meinem Herrn gegenüber abgelegt hatte: Ich werde dich nie verleugnen. Ich vertraue darauf, dass du immer bei mir bist und meine Furcht überwindest.

    Zwei Frauen im Tschador und langen Schleiern stürzten in den Raum. »Sie sind verhaftet«, verkündete mir Herr Rasti, während mir eine der beiden Frauen Handschellen anlegte. Er verließ den Raum und kehrte mit zwei weiteren Männern zurück, der eine jung und schlank, der andere ein wenig älter und mit heller Haut.

    »Wir haben den Auftrag, Ihre Wohnung zu durchsuchen«, erklärte Herr Rasti. »Sie müssen die beiden dafür begleiten. Was ist mit Ihrer Mitbewohnerin – wo hält sie sich gerade auf?«

    »Beim Zahnarzt«, entgegnete ich.

    »Beim Zahnarzt, soso, oder verteilt sie gerade irgendwo Bibeln?«, fragte Herr Rasti mit einem spöttischen Lächeln.

    Immer noch in Handschellen wurde ich in einen kleinen weißen Polizeiwagen verfrachtet, zusammen mit den beiden jungen Männern und einer Frau namens Zahra, die mich mit überlegener Miene anstrahlte. Auf der Fahrt zu unserer Wohnung beugte ich mich zu ihr herüber und flüsterte: »Ich bin Christin. Sie haben mich wegen meines Glaubens gefesselt, aus keinem anderen Grund. Es ist mir eine Ehre, Christus auf diese Weise zu dienen, und ich möchte Ihnen versichern, dass ich Ihnen nicht nachtrage, was Sie hier tun.« Zahras Lächeln schwand schnell von ihren Lippen, und im Verlauf der Autofahrt sah sie mich nicht mehr an.

    Ornament

    Maryam

    Vor dem Zahnarztbesuch hatte ich einen Teil des Vormittags damit verbracht, für die bevorstehenden Neujahrsfeierlichkeiten einzukaufen. Auf den Bürgersteigen drängten sich so viele Menschen, dass ich kaum vorwärtskam, und in den Schaufenstern waren die Waren aufgetürmt. Manches, wie zum Beispiel bemalte Eier, bekam man nur um die Feiertage herum.

    Als ich mir meinen Weg durch die belebten Straßen bahnte, dachte ich mir: Vielleicht kaufe ich mir nach dem Zahnarztbesuch noch zwei Goldfische, wie es zu Neujahr Brauch ist – einen roten für Marziyeh und einen schwarzen für mich.

    Ich hatte mitbekommen, wie jemand Marziyeh wegen der Autozulassung angerufen und sie den befreundeten Anwalt um Rat gebeten hatte. Die Geschichte machte mich misstrauisch, und ich hatte ein wenig Angst. Doch dann rief ich mir ins Gedächtnis: Was immer Gott für unser Leben geplant hat, um seine Ziele zu verwirklichen, wird auch geschehen. Es steht nicht in der Macht irgendeines Menschen oder Regimes, das zu ändern.

    Nach einer halben Stunde auf dem Zahnarztstuhl vereinbarte ich einen neuen Behandlungstermin. Weil ich mir immer noch Sorgen über Marziyeh und den mysteriösen Anruf machte, rief ich sie auf dem Handy an.

    »Ich bin zu Hause«, sagte Marziyeh, »aber nur, um mich schnell umziehen, damit mir der Beamte auf dem Polizeirevier auch hilft.«

    »Warte, bis ich zu Hause bin«, meinte ich. »Irgendetwas stimmt an der Sache nicht. Lass uns darüber reden und nachdenken, was wir tun wollen.«

    »Du hast recht, wir müssen vorsichtig sein«, entgegnete Marziyeh, »aber ich will so schnell wie möglich zur Polizei gehen und dieses Problem aus der Welt schaffen, damit ich noch meine Besorgungen erledigen kann. Ich schreib dir die Adresse auf und lege sie dir hin.« Ich ahnte nicht, dass Marziyeh in die Falle tappen und verhaftet werden würde. Unser Glauben an Gott würde bald auf die Probe gestellt.

    Nur zwei Tage zuvor hatten wir beide uns über Lukas unterhalten, der in gefährlichen Zeiten zum Nachfolger Jesu geworden war und dem Apostel Paulus bis zu dessen Märtyrertod treu geblieben war. Konnten auch wir so stark und so treu sein? Ja, das war möglich, da waren wir beide einer Meinung. Für Christus würden wir überall hingehen, nach Saudi-Arabien, nach Moskau, wo auch immer die Stimme unseres Herrn zum Schweigen gebracht werden sollte.

    Aber konnten wir das wirklich? Würden wir Jesus wirklich überallhin folgen und uns für ihn einsetzen? Das kam uns einfach genug vor, wenn wir uns in unserer Wohnung allein darüber unterhielten. Doch nun hatte man uns verhaftet, wir befanden uns in Polizeigewahrsam, und die Situation war ernst. Aus Marziyehs Miene schloss ich, dass sie genauso empfand wie ich: Sie versuchte nach außen hin selbstbewusst zu wirken, doch innerlich hatte die Angst sie versteinert. Mein bereits empfindlicher Magen fing an sich zu verkrampfen, und mein Mund fühlte sich so trocken an wie die Wüste Dasht-e Lut, doch durch meine Adern schoss das Adrenalin.

    Ich versuchte gegen die aufkommende Panik anzukämpfen, denn ich wusste, dass wir schwach waren, nicht mutig. Sogar Petrus, der engste Freund Jesu, hatte seinen Herrn verraten, als Gefahr drohte. Würden wir Christus verleugnen, um uns selbst in Sicherheit zu bringen? Wenn wir versagten, so wie Petrus versagt hatte, wie könnten wir uns dann jemals selbst vergeben? Ich bat den Herrn, dass er uns stärken möge. Nur wenn wir uns auf seine Stärke verließen und nicht auf unsere, konnten wir mutig sein und widerstehen. Ohne Christus waren wir nichts. Doch mit ihm hatten wir Anteil an seiner Stärke, und er würde uns bewahren.

    Diese Gedanken trösteten mich, als Marziyeh und ich durch dasselbe Gebäude geführt wurden, wo sie sich nur einige Stunden zuvor aufgehalten hatte. Die Männer, die unsere Wohnung durchsucht hatten, begleiteten uns in ein kleines Büro mit nackten Wänden, einem großen Schreibtisch mit einem Fenster dahinter und vier Stühlen. Auf dem Schreibtisch und dem Fußboden häuften sich verschiedene Gegenstände, die man offenbar konfisziert hatte. Wir setzten uns und sahen zu, wie sie alles, was sie bei uns mitgenommen hatten, auf dem Schreibtisch neben den andern Dingen aufstapelten.

    »Still sitzen und nicht miteinander reden«, befahl uns ein weiblicher Wachposten.

    Wir gehorchten. Dann hörten wir Schritte im Flur.

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    Schuldig

    Bild

    Marziyeh

    Herr Rasti betrat den Raum. Er musterte uns mit seinen kleinen Augen und begann unsere Habseligkeiten auf dem Schreibtisch zu untersuchen. Ein kleines Neues Testament hielt er gegen das Licht und wühlte sich durch einen Stapel CDs. Plötzlich runzelte er die Stirn und blickte den Beamten namens Mohammadi an.

    »Haben Sie alle Beweismittel gesichert?«, fragte er streng. Mohammadi und sein Partner traten von einem Fuß auf den anderen und nickten.

    »Sie hatten doch einen Laptop, oder?«

    Mohammadi schreckte auf und weitete die Augen. Eingeschüchtert meinte er: »Tut mir leid. Ich hatte geglaubt, wir hätten ihn mitgenommen. Wir müssen ihn wohl im Haus vergessen haben.«

    »Schnappen Sie sich eins der schuldigen Mädchen und holen Sie ihn. Sofort.«

    Erst vor einigen Minuten hatte man uns in Gewahrsam genommen, und schon waren wir die »schuldigen Mädchen«. Immer noch in Handschellen und mit pochendem Kiefer, da die Wirkung der Schmerzmittel nachgelassen hatte, ging Maryam mit Mohammadi und der jungen Polizistin los, um den Laptop von zu Hause zu holen.

    Ich blieb mit Handschellen gefesselt im Raum mit einem Wachposten zurück. Seit dem Morgen hatte ich weder etwas gegessen noch getrunken und zitterte nun, weil ich mich schwach fühlte. Ich bat um Wasser, denn ich wollte unbedingt zeigen, dass ich lediglich erschöpft war und keine Angst hatte. Herr Rasti verließ kurz den Raum, kam wieder hinein und setzte sich mit strenger Miene hinter den Schreibtisch.

    »Von nun ab sagen Sie mir die Wahrheit«, fuhr er mich an.

    »Ich habe Ihnen immer die Wahrheit gesagt«, entgegnete ich scharf. »Sie aber nicht! Sie haben heute Morgen in der Sache mit dem Auto gelogen, um mich hierherzulocken. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich schon elf Jahre Christin bin. Ich habe in dem von Ihnen erwähnten Restaurant Neue Testamente verteilt. Ich hätte alles leugnen können, doch ich habe Ihnen ehrlich geantwortet. Und jetzt befehlen Sie mir, von jetzt ab die Wahrheit zu sagen?« Ich spürte, wie ich immer lauter sprach.

    »Ich war verpflichtet, Ihnen gegenüber zu lügen«, erklärte Herr Rasti.

    »Und Sie haben meine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht«, fuhr ich fort. »Sie hatten überhaupt kein Recht dazu. Ist das etwa richtig? Steht das im Einklang mit dem Gesetz?«

    »Wir haben einen Durchsuchungsbefehl«, widersprach mir Herr Rasti. »Hier ist er.«

    Er warf mir ein Blatt Papier über den Schreibtisch zu. Mir blieb nur ein Moment, um einen kurzen Blick darauf zu werfen. Trotzdem merkte ich sofort, dass das mit unserem Fall überhaupt nichts zu tun hatte. Irgendjemand hatte auf dem unteren Rand eine Notiz hinterlassen, dass unser Haus durchsucht werden sollte, und dann seine Unterschrift und einen Stempel daraufgesetzt.

    »Das ist kein amtlicher Durchsuchungsbefehl«, meinte ich. »Das ist überhaupt nichts. Das ist eine Fälschung.«

    Mein Widerstand schien Herrn Rasti aus der

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