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Schwarze Milch und bunte Steine: Der Komponist Erkki-Sven Tüür
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Ebook144 pages1 hour

Schwarze Milch und bunte Steine: Der Komponist Erkki-Sven Tüür

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«Bei meinem kompositorischen Schaffen handelt es sich ausschließlich um das Verhältnis zwischen geistiger und emotionaler Energie sowie um die Möglichkeiten, diese zu lenken, zu konzentrieren, zu liquidieren und wieder ansammeln zu lassen. Meine Stücke stellen abstrakte, klingende Dramen dar mit vielen agierenden Personen und extrem dynamischen Handlungssträngen …»

Der 1959 in Kärdla auf der estnischen Insel Hiiumaa gebürtige Erkki-Sven Tüür gehört zu den bemerkenswertesten Komponisten seiner Generation. Seine musikalische Ausbildung erfolgte zunächst autodidaktisch, später studierte er Komposition. 1979 gründete Tüür ein kammermusikalisches Rockensemble, das bald zu den beliebtesten Rockgruppen in Estland zählte. Sein erster durchschlagender Erfolg als Komponist in Finnland war «Insula deserta» von 1989.

Der Band versammelt die Beiträge eines Symposiums zu Erkii-Sven Tüür im Rahmen von «Auftakt 2007» der Alten Oper Frankfurt am Main.
Erkki-Sven Tüürs zwischen John Adams, Lennart Meri und Jean Sibelius.
LanguageDeutsch
PublisherSchott Music
Release dateMar 2, 2015
ISBN9783795786472
Schwarze Milch und bunte Steine: Der Komponist Erkki-Sven Tüür

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    Schwarze Milch und bunte Steine - Schott Music

    Harmonie und Irritation

    Zu Erkki-Sven Tüürs Chorwerken

    Jörn Peter Hiekel

    Die Chorwerke markieren einen wichtigen Teilbereich von Erkki-Sven Tüürs Gesamtschaffen. Die nachfolgende Sichtung der zu diesem Teilbereich gehörenden Werke versucht einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Werke zu zeigen. Ich werde mich dabei bewusst nicht in einem musikhistorischen Gänsemarsch durch die verschiedenen Schaffensphasen bewegen und zunächst auch offenlassen, ob es klar definierbare Schaffensphasen überhaupt gibt, sondern werde eher typologisch vorgehen – und den manchmal unscheinbaren, manchmal höchst evidenten Verknüpfungen der Werke untereinander zu folgen versuchen, um daran dann einige allgemeine Überlegungen anzuknüpfen, einschließlich einiger Seitenblicke auf verschiedene andere Komponisten.

    Bislang hat Tüür acht Chorwerke komponiert: das erste – ein Oratorium mit dem Titel Ante Finem Saeculi – bereits im Jahre 1985, das bislang jüngste – Salve Regina überschrieben – im Jahre 2005. Es ist gewiss mehr als eine buchhalterisch-äußerliche Feststellung, wenn man betont, dass schon in der Besetzung keines der acht Chorwerke einem anderen gleicht, sondern die Formate und Kombinationen eine sehr große Diversifizierung aufweisen. Das Spektrum der Besetzungen reicht von einem gemischten Chor a cappella – in Wanderer’s Evening Song von 2001 – bis zum eben erwähnten Oratorium, das drei Vokalsolisten, gemischten Chor und ein Sinfonieorchester verlangt, also insgesamt einen stattlichen Aufwand. Dazwischen liegen eine Komposition für Vokalstimmen und Orgel, Excitatio ad contemplandum überschrieben und 1996 entstanden, aber auch verschiedene Werke mit durchaus ungewöhnlichen Besetzungen: Dies gilt in gewissem Maße schon für Lumen et Cantus von 1989, wo ein Männerchor mit einem Sinfonieorchester kooperiert. Insbesondere aber gilt es für das 1994 entstandene Requiem für Kammerchor, Streicher, Klavier und Triangel sowie für die 2003 entstandene Komposition Meditatio, die einen gemischten Chor mit einem Saxofonquartett kombiniert. Bereits die Besetzungen lassen erahnen, dass es nicht – oder nicht nur – um Verschmelzung von Klängen, sondern auch um Kontrastierungen geht.

    Die Titel der Werke von Tüür zeigen – das betrifft zumindest punktuell auch andere Bereiche seines Gesamtschaffens – eine Vorliebe für die lateinische Sprache. Dies konvergiert mit der bemerkenswerten Tatsache, dass sechs der acht Chorwerke lateinische Texte enthalten. Lediglich Inquiétude du Fini von 1992 und der schon erwähnte Wanderer’s Evening Song bilden Ausnahmen, Letzterer mit einem lyrischen Text in estnischer Sprache, der von Ernst Enno stammt, das zuvor genannte Werk mit einem französischen Text. Im Oratorium Ante Finem Saeculi schließlich wird ein lateinischer Text aus dem Liber Ecclesiastes mit einem Text in estnischer Sprache kombiniert.

    Ist diese Vorliebe für die lateinische Sprache ganz schlicht der Versuch eines Komponisten aus einem kleinen Land, vom bloß Regionalen, Heimatbezogenen möglichst weit wegzukommen und auf ein Terrain der Allgemeinverständlichkeit zu gelangen? Sofern dies der Fall ist, hat es wohl vor allem mit der geistlichen oder spirituellen Orientierung der Chorwerke von Tüür zu tun. Jedenfalls ist diese Orientierung, über manche Unterschiede hinweg, ein wesentliches verbindendes Moment aller acht Vokalwerke, einsetzend Mitte der achtziger Jahre, als Estland noch zur Sowjetunion gehörte, und bis in die unmittelbare Gegenwart reichend, in der Erkki-Sven Tüür längst als Komponist geistlicher Musik Anerkennung gefunden hat. Das Lateinische ist, wie mir scheint, vor 1989 wie auch bis heute als Anzeichen einer Unbeirrbarkeit zu werten, vielleicht sogar als Moment von Widerständigkeit. Auf diesen Aspekt wird noch zurückzukommen sein. Erwähnt sei überdies, dass es auch im Bereich der Instrumentalwerke Kompositionen mit geistlichen Bezügen gibt, denken wir etwa an das Passion überschriebene Werk für Streicher aus dem Jahre 1993.

    Die lateinischen Elemente von Tüürs Chorwerken rufen Traditionen auf. In Excitatio ad contemplandum bezieht sich der Komponist auf einen Ausschnitt aus der im 11. Jahrhundert entstandenen Schrift Proslogion (zu deutsch «Anrede») von Anselm von Canterbury. Dabei handelt es sich um jene Schrift, in welcher der berühmte «ontologische Gottesbeweis» formuliert wurde, ein in der abendländischen Philosophietradition der folgenden Jahrhunderte heftig diskutierter Ansatz. Kant und Thomas von Aquin lehnten ihn ab, Leibniz, Descartes und Hegel standen ihm positiver gegenüber. Und die Diskussionen reichen bis in die Gegenwart. Tüür griff mithin auf etwas zurück, das kein in sich ruhendes, unumstößliches Monument ist, sondern in sich eine Suchbewegung trägt. Dies wird durch die ausgewählten Ausschnitte besonders deutlich.

    Der Komponist selbst hob die literarischen Qualitäten von Anselms Text hervor¹ und schrieb ein Werk, in dem Textverständlichkeit fast durch-gängig in hohem Maße gegeben ist. Er entwickelte den Gesangspart aus Motiven, die in ihrem Duktus an gregorianische Gesänge erinnern, ohne ihnen indes exakt zu entsprechen. Man vernimmt einen quasi-mittelalterlichen, einfachen Duktus, der von Ferne an Motetten eines Guillaume de Machaut erinnert. Hier in diesem Werk führt dieser Bezug dazu, dass das Komponierte sich von jeder simplen Eingängigkeit weit entfernt, jener eben angedeuteten Suchbewegung entsprechend, die schon den Text kennzeichnet.

    Von jeder modischen Mittelalter-Sehnsucht, die zur Zeit der Entstehung dieses Werks längst ins Beträchtliche gewachsen war, ist diese vom Hilliard Ensemble in Auftrag gegebene Komposition erkennbar weit entfernt. Dafür stehen erstens die von Beginn an präsenten Dissonanzen und zweitens die sich im Laufe des Werks entfaltenden, zum Teil erheblichen Erregungspotenziale.

    Der Titel der Komposition Excitatio ad contemplandum markiert mit den Worten «Exzitation» und «Kontemplation» ein schönes Oxymoron – und passend dazu enthält dieses Werk vergleichsweise deutliche Konfliktmomente. Dazu trägt bei, dass Tüür hier mit verschiedenen Zwölftongruppen operiert. Hieraus erwächst ein rätselhafter Schwebezustand, eine Spannung gegenüber den tonalen Anklängen, die nicht zuletzt an das Spätwerk von Schostakowitsch erinnert und dem Stück eine gewisse spröde Strenge vermittelt. Alles dies sind Momente, die – kulminierend in einem eindringlichen, offenen Ende – den Eindruck des Nicht-Monumentalen dieser geistlichen Komposition deutlich unterstreichen.

    Gerade diese Tendenz, die als eine Gegentendenz zu jeder auf äußerlich-plakative Weise souverän auftrumpfenden Attitüde von Musik erscheint, erstreckt sich auf etliche Chorwerke von Erkki-Sven Tüür. Sie kann als eines der entscheidenden Motive seines Rückgriffs auf mittelalterliche Darstellungsformen bezeichnet werden.

    Im gewissen Sinne gilt dies auch für das 1994 entstandene Requiem. Andererseits ist dessen lateinischer Text bis tief ins 20. Jahrhundert hinein zum Gegenstand unterschiedlichster künstlerischer Konzeptionen geworden, dass jeder Komponist, der dieses ehrwürdige Textmodell heute verwendet, eine gewisse Kenntnis der mit ihm verbundenen Tradition voraussetzen kann. Diese Kenntnis kann oder sollte zumindest jene epochal zu nennenden Werke der sechziger Jahre einschließen, die der lateinischen Missa pro defunctis andere Texte kontrastiv entgegensetzen – so wie dies namentlich in Benjamin Brittens 1962 uraufgeführtem War Requiem oder in Bernd Alois Zimmermanns 1969 uraufgeführtem Requiem für einen jungen Dichter geschieht. Die Konzeption von Tüürs Requiem scheint diese Tradition der Entgrenzung ebenso auszublenden oder zu unterlaufen wie jene der Monumentalisierung, die mit Namen wie Berlioz oder Verdi verbunden ist und auf die punktuell zumindest ja auch Zimmermanns Requiem Bezug nimmt. Charakteristisch für dieses Werk – und im Sinne einer bewussten Gegenbewegung hierzu interpretierbar – ist seine konzentratartige Kürze. Trotz oder gerade wegen seiner klaren, übersichtlichen Gesamtdisposition wirkt es fast wie ein Requiem im Taschenformat, das den Text – wie schon Hans Werner Henzes drei Jahre zuvor entstandenes rein instrumentales Requiem – gewissermaßen als bekannt voraussetzt, um mit ihm in einer Weise umzugehen, die neue Perspektiven erschließt. Freilich werden innerhalb dieses integralen Ansatzes die markanten Charaktere der Missa pro defunctis sorgsam herausgearbeitet bzw. in eigenwillige Klang-charaktere übersetzt. Tüür denkt dabei zugleich in großen Spannungsbögen, die über die Grenzen der Werkteile hinwegreichen. Und sein Werk ist in seiner Intensität und Ernsthaftigkeit auch weit davon entfernt, mit der Requiem-Tradition bloß zu spielen.

    Ein Merkmal, das als Versuch der substanziellen Wiederbelebung mittelalterlicher Musik interpretiert werden kann, sind auch im Requiem einige quasi-gregorianische Wendungen, die fast immer am Sprachrhythmus orientiert sind und die essenziellen, schlichten Momente des Ganzen unterstreichen. Dabei werden solche Elemente allerdings, anders als in der zuvor erwähnten Komposition Excitatio ad contemplandum, von komplex gewobenen Klangnetzen im Orchester grundiert. Diese verbreitern sich mehr und mehr und entfalten einen quasi sinfonischen Duktus, ein immer mächtigeres und auch plötzlich im «Dies Irae»-Abschnitt aus den Fugen geratendes, überaus energiereiches Klanggebilde, das zumindest zeitweise von starken Dissonanzen geprägt ist. Der Komponist selbst sprach in seinem Kommentar zu diesem

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