Beneš als Österreicher: Essays III
By Jiří Gruša
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Book preview
Beneš als Österreicher - Jiří Gruša
GRUŠA • WERKAUSGABE BAND 9
JIŘÍ GRUŠA
WERKAUSGABE
DEUTSCHSPRACHIGE AUSGABE
HERAUSGEGEBEN VON HANS DIETER ZIMMERMANN
UND DALIBOR DOBIÁŠ
GESAMMELTE WERKE IN 10 BÄNDEN
Jiří Gruša
Beneš als Österreicher
Ein Essay
mit einem Vorwort
von Hans Dieter Zimmermann
und einem Nachwort
von Michael Frank
Die Herausgabe dieses Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung folgender Institutionen:
Wieser Verlag GmbH
A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12
Tel. + 43(0)463 370 36, Fax. + 43(0)463 370 36-90
office@wieser-verlag.com
www.wieser-verlag.com
Copyright © dieser Ausgabe 2015 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99047-016-9
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Tour d’Autriche
Die Kraft des Mütterleins
Eduard
Geschichten der Geschichte
Und es flogen die Fetzen
Mütterlein als Drache
Der Sozialismus wird national
Der junge Herr
Tour de France
Le secrétaire général
Anabasis
Der Tschechoslowakist
Hoch zu Ross
Die Erde schweigt
Fall und Aufstieg
Der Aktionist
Von Moskau nach Prag
Tribunal der Geschichte
Odsun
… und die Tribunale
Die Fertigstellung der Nation
Es stritt der Körper mit der Seele
Der Fall
Post scriptum
Anmerkungen
Nachwort:
In hilflosem Trotz
Jiří Gruša und der Rechtsnihilismus der
tschechischen Gesellschaft
Vorwort
Jiří Gruša wurde 1938 in Pardubice in Böhmen geboren. Als Kind lernte er noch die Schrecken der Besatzung und des Krieges kennen. Als die Kommunisten 1948 die Macht ergriffen, war er neun Jahre alt. Die stalinistischen Verfolgungen der fünfziger Jahre, die Schauprozesse gegen Demokraten, Priester und schließlich auch gegen Kommunisten erlebte er als Heranwachsender. Die leichte Lockerung in den sechziger Jahren ermöglichte es dem jungen Mann, seine ersten Texte zu veröffentlichen. Mit anderen gründete er 1964 die Zeitschrift Tvář (Gesicht), die erste nichtkommunistische Zeitschrift nach 1948; da war er 26 Jahre alt. Die Hoffnung auf menschlichere Verhältnisse im »Prager Frühling« wurde durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen im August 1968 zunichtegemacht. Es folgte eine neue Repression. Gruša hatte Berufsverbot. Er unterzeichnete die Charta 77, die für die Bürgerrechte eintrat. Er wurde wegen seines Romans Der 16. Fragebogen, der in Toronto erschien, verhaftet und schließlich 1981 nach dem Westen abgeschoben.
Die lange Liste der Leiden in aller Kürze, um verständlich zu machen, dass Jiří Gruša zeit seines Lebens die Frage umtrieb, warum das alles geschehen war, warum dieses friedliche Land im Herzen Europas vom deutschen Nationalsozialismus und vom russischen Kommunismus so brutal unterdrückt wurde. Ein Versuch, diese Frage zu beantworten, ist dieses Buch über den nach Tomáš Garrigue Masaryk wichtigsten tschechischen Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Edvard Beneš. Und die schmerzliche Erfahrung des Autors mag die manchmal scharfen Urteile erklären und seinen gerechten Zorn.
Faschismus und Kommunismus hatten in der Tschechoslowakei nie viele Anhänger. In den dreißiger Jahren war sie die einzige Demokratie in Mittel- und Osteuropa. In der Generation, die der Grušas voranging, gab es wohl einige, die sich vom Kommunismus eine goldene Zukunft für das Land versprachen oder sich selbst eine solche Zukunft, wenn sie mitmachten. Er gehörte so wie sein Freund Václav Havel zu denen, die nur Opfer waren, nicht auch Täter. Sie gehörten wie alle Unterzeichner der Charta 77 auf den Müllhaufen der Geschichte, so tönte die kommunistische Presse. Es war die Ironie der Geschichte, die nach der samtenen Revolution von 1989 den einen zum Präsidenten der Republik machte und den andern zum Botschafter der Republik – in dem Land, in dem er als Emigrant lebte, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland. Eine im Grunde tragikomische Situation von der Art, wie sie Havel in seinen Theaterstücken und Gruša in seinen Prosatexten konstruiert hatte. Gruša kam an die Spitze der Botschaft in Bonn, die ihn zuvor schikaniert und ausspioniert hatte.
Havel versuchte als Präsident an die Tradition der ersten Republik anzuschließen, die 1918 aus den Trümmern des Habsburger-Reiches entstanden war, an die Maximen des bedeutenden Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, der sie von 1918 bis 1935 führte. Und Grušas Schmerz war es, dass diese Maximen von Edvard Beneš, nachdem er nicht mehr als Außenminister unter dem Schirm Masaryks arbeitete, sondern selbst Präsident war, verraten worden waren. Und davon handelt dieser Text, in dem drei wichtige Gestalten der tschechischen Geschichte auftreten: vor Beneš eben Masaryk und vor Masaryk František Palacký. Eine vierte Gestalt erscheint bisweilen wie ein Menetekel an der Wand: der aus dem nahen Braunau stammende andere Österreicher Hitler, den Gruša gerne tschechisch schreibt »Hýdla« (das ý wird wie i ausgesprochen).
František Palacký (1798–1876), der bedeutende Historiker und wichtigste tschechische Politiker des 19. Jahrhunderts, gab den Tschechen mit seinem Werk in fünf Bänden Geschichte der Tschechen in Böhmen und Mähren, zwischen 1836 und 1867 erschienen, ihre Geschichte zurück; von da an war Jan Hus nicht mehr ein verächtlicher Ketzer, sondern ein unbeugsamer Held, um ein herausragendes Beispiel zu nennen. Und Palacký vertrat die tschechischen Interessen gegenüber der Wiener Regierung, immer maßvoll, immer verbindlich, immer vergeblich. Sein viel zitierter Satz von 1848: »Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen«, klingt wie eine Rechtfertigung des damaligen Österreich, weil man nicht die folgenden Sätze zitiert, aus denen hervorgeht, dass der Satz eine Forderung ist, keine Feststellung, eine Forderung, die Habsburg nie erfüllte: »Warum sahen wir aber diesen Staat, der von der Natur und Geschichte berufen ist, Europas Schild und Hort gegen asiatische Elemente aller Art zu bilden – warum sahen wir ihn im kritischen Momente, jedem stürmischen Angriff preisgegeben, haltungslos und beinahe ratlos? Weil er, in unseliger Verblendung, so lange her die eigentliche rechtliche und sittliche Grundlage seiner Existenz verkannt und verleugnet hat: den Grundsatz der vollständigen Gleichberechtigung und Gleichbeachtung aller unter seinem Scepter vereinigten Nationalitäten und Konfessionen.«
Dieser Forderung zu genügen, ist Österreich nie gelungen, es hat nicht einmal die Anstrengung dazu unternommen: Die Tschechen blieben bis 1918 ein Volk zweiten Ranges, und die Folgen der Versäumnisse des 19. Jahrhunderts wurden zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. 1872, vier Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Palacký sein Politisches Vermächtnis. Darin heißt es: »Ich selber gebe jetzt leider schon die Hoffnung auf eine dauernde Erhaltung Österreichs auf.« Die Tschechen, die im 19. Jahrhundert einen enormen kulturellen und ökonomischen Aufschwung genommen hatten, sahen keinen Sinn in der Erhaltung eines Staates, der ihnen wesentliche Rechte vorenthielt. Und hier tritt Tomáš Garrigue Masaryk auf, dem es gelang, mit der Hilfe des geschickten Edvard Beneš während des Ersten Weltkrieges, den fahrlässig die Wiener Regierung riskiert hatte, von der deutschen Regierung unterstützt die Tschechoslowakei als eigenständigen Staat aus der Habsburger-Monarchie herauszulösen.
Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) hätte es schon wegen einer Tat verdient, in den europäischen Annalen ein für allemal festgehalten zu werden: wegen seines Verhaltens in der sog. Hilsner-Affäre. Ein jüdischer Schustergeselle wurde verdächtigt, eine junge Frau bei Polná, einem böhmischen Städtchen, getötet zu haben. Es sei ein Ritualmord gewesen, hieß es. Wer auch immer diesen Unsinn des jüdischen Ritualmords in die Welt gesetzt hat, jahrhundertelang saß er in den Köpfen vieler Menschen. Eine Welle des Antisemitismus schwappte über Böhmen und Mähren und Österreich, die tschechischen und die deutschen Nationalisten waren sich einmal einig. Als Hilsner zum Tode verurteilt wurde, nahm sich Masaryk der Sache an. In zwei kleineren Schriften wies er die Fehler der Richter nach. Darauf wandte sich die Wut der Meute gegen ihn, er stand ziemlich allein, hielt aber stand. Es kam zu einer Revision des Prozesses. In einer anderen Sache hatte er auch schon den Unwillen der tschechischen Patrioten auf sich gezogen: Seine Zeitschrift Athenäum hatte den Aufsatz des Bohemisten Gebauer abgedruckt, der nachwies, dass die angeblich uralten tschechischen Handschriften von Königinhof und Grünberg romantische Fälschungen waren.
Masaryk, Professor der Philosophie an der tschechischen Karlsuniversität, die durch Abspaltung von der deutschen 1882 entstanden war, erst ab da konnten die Tschechen in ihrer Sprache ein Studium absolvieren, engagierte sich politisch und publizistisch. Er erstrebte die Selbstständigkeit Böhmens und Mährens im Rahmen der Habsburger-Monarchie, sah aber bald, dass dies kaum zu bewerkstelligen war. Der Erste Weltkrieg gab dann die Chance einer Neugründung des tschechischen Staates, der dreihundert Jahre, seit der Schlacht am Weißen Berg 1620, unter Österreichs Herrschaft gestanden hatte. Masaryk gelang es im Exil, die Zustimmung der Alliierten Großbritannien, Frankreich und USA zu gewinnen, wobei ihm der geschickte Diplomat Edvard Beneš zur Seite stand und der slowakische Politiker Milan Rastislav Štefánik, denn der neue Staat sollte Tschechien und die Slowakei umfassen. Masaryk kam nicht mehr mit leeren Händen. Die tschechische Legion, die sich in Italien, Frankreich und vor allem in Russland aus Überläufern und Gefangenen geformt hatte, kämpfte auf alliierter Seite.
In seinen Gesprächen mit dem tschechischen Autor Karel Čapek entwickelte Masaryk seine demokratische Konzeption auf christlicher Basis. Er hatte die Demokratie in den USA kennengelernt, als er dort seine Frau heiratete und bei späteren Besuchen. Es gelang ihm schließlich auch, einen Ausgleich mit den deutschsprachigen Bewohnern Böhmens und Mährens zu erreichen, die nach der Gründung der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 sich abspalten und mit Österreich verbinden wollten. Ab 1926 saßen immer zwei deutsche Minister in der Prager Regierung und die nationalistischen Deutschböhmen waren eine kleine Minderheit, die erst seit dem Jahre 1933 anschwoll, kräftig von Nazi-Deutschland unterstützt. »Wir brauchen noch 30 Jahre«, sagte Masaryk zu Čapek; diese 30 Jahre waren der Republik nicht gegönnt. Sie ging nicht an inneren Schwierigkeiten zugrunde, die hatte sie gelöst und die hätte sie gelöst, sie ging durch den Angriff Nazi-Deutschlands zugrunde, das in der Henlein-Partei der Böhmendeutschen einen Verbündeten fand, der sich landesverräterisch gegen den eigenen Staat und die eigene Regierung wandte. In den Kommunalwahlen des März 1938 stimmten 90 Prozent der sog. Sudetendeutschen für Henlein, der sich offen zu Hitler bekannte; sie votierten also nicht für die wie auch immer unvollkommene Demokratie ihres eigenen Landes, sie votierten für das verbrecherische System Hitlers. Nirgends hat Hitler solche Wahlergebnisse erhalten. Selbst in der nur halbfreien Wahl vom März 1933 erhielt die NSDAP nur 43,9 Prozent der Stimmen, etwa die Hälfte der Deutschen hatte gegen sie gestimmt.
Hier setzen die Erfahrungen von Edvard Beneš ein. Und der Impuls zur Vertreibung wenigstens eines Teils dieser rebellischen Deutschböhmen. Das muss zu seinem Verständnis gesagt werden. Vielleicht liegen die größten Verdienste von Beneš für sein Land vor 1918 in seiner Tätigkeit für die Herstellung der Tschechoslowakei. Aber auch als Außenminister leistete er gute Arbeit. Er war ein demokratischer Politiker und Demokrat, geschickt, bisweilen auch gerissen, immer im Interesse seines Landes handelnd, aber auch zu Kompromissen bereit, die einem Interessenausgleich dienten. Im Genfer Völkerbund bewies er seine Fähigkeiten am besten. Sein Unglück war, dass er auf die beiden schrecklichsten Politiker traf, die Europa je hervorgebracht hatte: 1938 auf Hitler, 1948 auf Stalin. In Hitler und Stalin traten ihm zwei Diktatoren entgegen, die sich an keine Verträge hielten, für die Zusicherungen nur auf dem Papier standen und die nur die Sprache der Waffen verstanden. Bei Hitler erkannte Beneš das früh, bei Stalin spät, was Gruša ihm mit Recht vorwirft. Und hier liegt sein Versagen. Hitler hätte die Tschechoslowakei zerschlagen, das hätte kein Zugeständnis verhindern können. Henlein musste von der Prager Regierung immer mehr fordern, als sie gewähren konnte.
Die Tschechoslowakei scheiterte am Verrat ihrer Bundesgenossen Frankreich und Großbritannien, die sie Hitler auslieferten, weil ihnen der Frieden wichtiger war als ihre Bündnisverpflichtungen. Wie dürftig dieser Frieden war, den sie mit würdeloser Nachgiebigkeit erreicht hatten, zeigte sich bald: eine Lehre für die Zukunft. Die Tschechen und Slowaken waren bei den Münchener Verhandlungen mit Hitler und Mussolini nicht zugelassen, die Großen bestimmten im September 1938 über den Kleinen, der nichts zu sagen hatte. Da hätte auch eine andere Stimme als die von Beneš nichts ausgerichtet. Doch zwei Punkte der Kritik: Warum hat die Tschechoslowakei nicht gekämpft? Die Bevölkerung drängte danach, Beneš verhinderte es. Auch die sichere Niederlage hätte das Selbstbewusstsein der Nation gestärkt. Und warum unterschrieb Beneš das Münchener Abkommen, bevor er nach London floh? Das war unnötig und ebenfalls würdelos.
Schlimmer jedoch ist das Verhalten von Beneš gegenüber Stalin, dem er sein Land auslieferte. Gewiss war er enttäuscht von den westlichen Alliierten, gewiss hoffte er auf den östlichen Bündnispartner und war dafür zu Zugeständnissen bereit, die jedoch zur Selbstaufgabe führten. Im Dezember 1943 hatte Beneš