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Winterdämmerung: Roman
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Winterdämmerung: Roman

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About this ebook

"Wenn Schöfer das Niveau dieses Romans vier Bücher lang durchhält, könnte seine Tetralogie als Maßstab in die Literaturgeschichte eingehen", schrieb Michael Sailer 2001 in München.
Der vorliegende Roman "Winterdämmerung", der vierte Band der Tetralogie, zeigt sieben Jahre später, dass die Erwartung des Rezensenten von "Ein Frühling irrer Hoffnung" Wirklichkeit geworden ist: Schöfers die "Die Kinder des Sisyfos" ist ein eigenwilliges und einmaliges Werk der modernen deutschsprachigen Literatur.
Die Geschichte der Achtundsechziger, der Kinder des Sisyfos, setzt sich fort in den achtziger Jahren: Der Betriebsrat Manfred Anklam wechselt auf die Seite der Unternehmensleitung und besetzt dann trotzdem mit seinen Kollegen die Villa Hügel der Krupp-Familie. Der berufslose Viktor Bliss kämpft gegen seine Feuerverletzungen und gegen seine Partei, der Journalist Armin Kolenda erlebt das schreckliche Verbrechen eines Freundes. Seine Liebe zu dessen
Freundin Lisa rettet die beiden völlig verstörten Menschen. Lena Bliss und Malina Stotz machen ernst mit ihrer Befreiung, verlassen ihre Männer und spielen ihr eigenes Leben.
Der Autor erzählt, wie die persönlichen Schicksale seiner Hauptpersonen verfl ochten sind in die sozialen Großereignisse des Jahrzehnts - in den Widerstand gegen die Startbahn-West in Frankfurt, die Raketenstationierung, gegen die Schließung des Stahlwerkes in Rheinhausen.
Die überraschend aus den USA auftauchende Ann zeigt mit ihrem Elan und ihrem frischen Blick auf die gesellschaftlichen Vorgänge in Deutschland ihrem Großvater Bliss, dass die Kämpfe für eine humanere Gesellschaft sich auch in anderer Form fortsetzen können.
In seinem witzig-rührenden Schlusskapitel führt Schöfer seine Hauptpersonen in der Silvesternacht 1989 zu einer privaten Party zusammen, während am Brandenburger Tor die große gesamtdeutsche Party gefeiert wird.
Kritiker haben Schöfers Werk mit Uwe Johnsons "Jahrestage" und Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" verglichen. Schöfer ist ein fulminanter Abschluss seiner Tetralogie gelungen. "Winterdämmerung" ist ein bewegender Roman, der, ebenso wie die anderen Bände, auch sehr gut als einzelnes Buch gelesen werden kann.
LanguageDeutsch
Release dateNov 15, 2012
ISBN9783943941142
Winterdämmerung: Roman

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    Winterdämmerung - Erasmus Schöfer

    1853

    SISYFOS ABSCHIED

    Überall hört er das irdische Grollen

    Schließlich bebt der Berg

    Wächst in den Himmel

    Feuerschein Aufruhr von Blitzen

    in den schwarz schäumenden Wolken

    Die Empörung der Erde

    Sonnendämmerung

    Sisyfos verlässt seine Kinder

    Im Nacken die steinerne Last

    klimmt er

    sprachlos

    wie träumend

    zum glühenden Krater

    in seine Befreiung

    NONNENSOMMER

    Ferien. Unglaubliche Ruhe. Das Theater ist leer. Gießen fast. Lauter kleine altdeutsche Feste für Lena Bliss die verhinderte Witwe. Radfahren wie in der Kindheit – vom Eisen befreit sind Straßen und Plätze. Plötzlich sind wieder Bäume da, nicht nur im Park. Einsame Fußgänger schlendern, haben ihre Ziele verloren oder vergessen. Ich hab Brunnen plätschern hören. Ein Arbeiter, dem ich beim Blumenwässern zuschaute, hat mir einen wunderschönen bunten Strauß gepflückt, auf Kosten des Gartenbauamts. Hab ihm einen Eisbecher gebracht, vom Italiener. Konnte kaum deutsch, der Mann. War aus Persien.

    Erdbeeren, Kirschen, Spargel sind gegessen und genossen. Jetzt sind Klaräpfel dran, junge Möhren, Erbsen, neue Kartoffeln, Tomaten. Die Bauern bringen sie zweimal die Woche aus ihren Gärten, und ich habe Zeit, über den Markt zu bummeln und ihre Delikatessen auch zu kochen. Himbeeren, ja, Himmelbeeren! zum Nachtisch, oder Johannisbeeren, schwarze, rote, Stachelbeeren.

    Versteh nicht, weshalb die alle weg wollen, weg, weg, nichts wie weg! Art Fluchtreflex, vorm Alltagstrott. Dabei ist hier jeder Tag Sonntag jetzt. Aber wahrscheinlich wärn wir auch gefahren, wie früher, Adria, Istrien, garantiert ohne Regen. Hätte ich nie gemerkt, wie schön ein hessischer Sommer sein kann. Ohne Zeitung. Ohne Theater.

    Das Fenster offen, Sonne auf dem Tisch, Tasse Kaffee, ganz zutraulich besuchen Hummeln meinen Strauß, am besten scheinen ihnen die Lavendelblüten und die Kornblumen zu schmecken. Kaum zu glauben, daß die draußen im Vorbeifliegen meinen Honig oder was riechen.

    Ich bin allein mit mir und meiner Kladde, an unserm Küchentisch, mit Hochhuth und Maxie Wander und einem halben Jahr neuem Leben, nämlich ohne meinen entflohnen Mann, aber mit einem andern der auch nicht da ist. Ich möchte wissen, was mit mir passiert ist.

    Es gibt ein paar ziemlich harte Fakten zu notieren, mit viel Arbeit und Seele in den Zwischenräumen. Franziska Just hat abgelehnt, weiter Geld für Unterricht von mir zu nehmen, ich sollte jetzt endlich sehn, daß ich auf die Bühne komme. Den Flop vor zwei Jahren vergessen. Du brauchst Lampenfieber Kind, unsre Arbeit ist Trockenschwimmen! Entweder du bewirbst dich bei einem Privattheater, wenn dein Mann dir das finanziert, oder du versuchst noch mal, beim Mettmann ein paar kleine Rollen zu bekommen, die du neben deinem Job spielen kannst. Hat mich quasi ins Wasser geschubst. Und das hat nun tatsächlich geklappt! In zwei Stücken hat der Jo mich besetzt, winzige Rollen, aber immerhin: In den Ratten stand ich zweimal doppelt im Programmheft: Frau Sidonie Knobbe – Lena Bliss, Kostüme – Lena Bliss! Und im Januar, im Zerbrochnen Krug, die Zweite Magd. Immerhin drei Auftritte. Hat mein seltener Mann nicht schlecht gestaunt. Gestaunt und geknurrt. Weil ich ihm zu viel im Theater war. Hat nicht begriffen, daß ich keine Lust hatte, nach der Arbeit in seinen Mißmut zu geraten, mich davon runterziehn zu lassen. Wo ich grade Erfolg hatte. Er hat sich immer mehr verbiestert, seit er aus der Schule raus ist und nur noch mit dem Prozeß und seinen Vorträgen zu Gange. Bei denen hat er sich vielleicht Bestätigung geholt. Wie oft sind wir früher nach Frankfurt, nach Köln, ins Theater, zu Ausstellungen! Keinen Bock mehr, abends noch mit mir wegzufahren oder am Wochenende. Und ich bin solidarisch zur Provinz – pommeranze geschrumpft. Hat nichts dagegen unternommen, hat wohl gedacht, ich bin zufrieden mit meiner Arbeit. Wurde ich dann ja auch.

    Bei der Premierenfeier vom Zerbrochnen Krug war ich wirklich gut drauf. Vik hat meinetwegen seine Vortragsreise in Bayern nicht unterbrochen, hat mich erst geärgert, aber dadurch habe ich mich auch sehr frei gefühlt. Wunderbarer Abend wurde das, ich habe von der Arbeit mit Peter Stein an den Kammerspielen erzählt, das Feuer im Ensemble, damals, achtundsechzig, diese politische Offenheit zum Publikum und überhaupt zur Gesellschaft, bei höchstem künstlerischem Anspruch, davon ist heute im Theater kaum noch was zu finden, hat der Jo mit großen Ohren mir zugehört und mich nach Hause begleitet, haben weitergeredet an diesem Tisch beim Wein, über das Haus, das Ensemble, sehr offen, ganz ungeschützt der Jo über seine Schwierigkeiten, quasi kollegial, und daß wir dann zusammen ins Bett fanden war so selbstverständlich wie ein reifer Apfel vom Baum fällt. Kann sein, daß mein Ehefrust mitgespielt hat, daß ich wissen wollte, ob eine Frau Bliss mit ersten grauen Strähnen im Haar noch genug Charme entwickeln kann, einen jüngeren Mann zu faszinieren. Mehr Absicht war bestimmt nicht dabei.

    Gut, diese Nacht hat nach Wiederholung verlangt. Ich hab nicht gewußt, wie ausgehungert mein Körper war. Stimmt das? Es war jedenfalls anders als mit Vik. Phantasievoller. Stürmischer. Trotzdem hätte ich da noch nicht gedacht, daß sich so ein Erlebnis wiederholen lässt. Öfter als, na ja, ein paar Mal vielleicht. Im Grunde war es Vik mit seiner übersteigerten Eifersucht, der das Öl ins Feuer gegossen hat. Ohne seine Verrücktheiten wär das im Frühjahr vorbei gewesen, könnt ich wetten. Mit seinem Besitzanspruch hat er erst meinen Trotz geweckt.

    Wenn ich meine Wut über sein abschiedsloses Verschwinden vergesse, muß ich zugeben, daß er mir damit den Raum gelassen hat, in dem sich die Begegnung mit Jo erst zu diesem beglückenden Verhältnis entwickeln konnte. Inzwischen kann ich Viks Flucht tatsächlich als Befreiung empfinden. Er hat sie als Strafe gemeint, klar. Läßt mich hier sitzen als Witwe auf Zeit, auf Bewährung, hat, wer weiß, seine Beobachter in Gießen, die ihm melden, ob ich wieder brav geworden bin.

    Wenigstens hat er keinen umgebracht, sich nicht und mich nicht. Liest man jeden zweiten Tag in der Bild, von solchen Eifersuchtstragödien. Aber vier Wochen die Ungewißheit, ohne jede Nachricht! Und dann sein »Lebenszeichen«, die absenderlose Ansichtskarte aus Griechenland! Unverschämtheit! Das nach vierzehn Jahren halbwegs harmonischer Ehe. Wer hat denn unsre Wohnung bezahlt und das Auto und bezahlts weiter? Er vielleicht, mit seiner Sozialstütze? Hätte längst versuchen können, an einer Privatschule eine Stelle zu finden, seit klar war, daß er den Prozeß gegen das Land nicht gewinnt. Aber nein, die Partei braucht Märtyrer. Der Stachel im Fleisch der Herrschenden, heißt das. Habs im Ohr, unsern Brecht – Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang, diese sind unentbehrlich. Zu denen wollte er unbedingt gehören, sein Ehrgeiz. Hat nicht gefragt, wie lange seine Frau das aushält.

    Ich bin bitter. Die Galle kommt mir immer noch hoch. Bin ich ungerecht?

    Ich will mir klar werden, was dieses halbe Jahr 1980 Neues, Erstaunliches in mein Leben gebracht hat und stoße immer wieder auf meinen verlornen Mann. Als müßte ich mich rechtfertigen dafür, daß ich mich auf meine verleugneten, verdrängten Lebenswünsche eingelassen habe und auf einen Menschen, der mir das ermöglicht. Zehn Jahre lang habe ich an diesem Theater aus meinem freien Willen für die Ausstattung gesorgt. Mit Erfolg und anständig bezahlt. Der Spielplan hat meine Arbeit geregelt, aber der Vertrag mit dem Theater, der mir den Rahmen vorgegeben hat, war mit meinem freien Willen unterzeichnet und ebenso mehrmals verlängert worden. Wie unser Ehevertrag. Auch den haben wir noch immer wieder bekräftigt, mal aus Liebe, mal aus Solidarität. Dabei ist mir klar gewesen, daß er an der Universität, bei seinen Vortragsreisen, intressanten Frauen begegnet. Die haben seine erotische Phantasie angeregt, damit war zu rechnen. Hat mich nicht groß umgetrieben, hatte die Arbeit im Kopf. Mich hat selten ein andrer Mann in Versuchung gebracht. Die kleinen Eifersuchtskräche haben wir hinterher als Bekundungen unsrer fortbestehenden Liebe verstanden. Nie haben wir unsre Vorstellung gekündigt, einmal zusammen als Rentner auf einer Parkbank in der Sonne zu sitzen und in unsern Lebenserinnerungen spazieren zu gehn.

    Was da im Februar geschehn ist, das war ein Einbruch, ein Absturz, wie soll ich das nennen. Wie achtundsechzig in München, als sie mich rausgeschmissen haben seinetwegen. Erst sein hysterischer Nervenzusammenbruch nach dem vergeblichen Besuch beim Kultusminister und zwei Wochen später die Steigerung in seinen Überfall im Theater und seine Flucht. Wahnsinn.

    Diese Ängste erst und schlaflosen Nächte, daß er sich was angetan haben könnte! Ja, auch Verlustgefühle, Trauer. Hab versucht, sie in Arbeit zu begraben. Jo hat mich abgelenkt, hat versucht mich zu entschädigen, zu trösten. Hat mir Aufgaben gegeben. Und hat mich beschenkt mit den Genüssen, die für eine ältere Frau wohl nur aus der Begegnung mit einem jüngeren, sensiblen Mann sich ergeben können, erst nur mein Arbeitgeber, dann Entwicklungshelfer in Schauspielerei und inzwischen in Sachen Liebeskunst. Viks kopfloses Verschwinden, es ist wirklich wahr, hat es provoziert, daß meine flüchtige Theaterliebelei zu der kostbaren Beziehung geworden ist in den Monaten intensiver Arbeit und des dann fast täglichen Austauschs über die nicht endenden Probleme der Theaterleitung.

    Noch nie in meinem Berufsleben habe ich an dieser gottähnlichen Perspektive des Intendanten auf den wimmelnden Kosmos eines Ensembles teilnehmen können. So hat es angefangen und sich dann erst, im Frühjahr, entwickelt zu der Lust an unsrer körperlichen Vereinigung, über der ich Viktor und seine biederen Bettkünste vergessen konnte. Wem kann ich erzählen, daß ich dabei noch jedes Mal einen Orgasmus hatte, egal wie schnell und heimlich das manchmal passieren mußte? Euch pummeligen Hummeln?

    Und jetzt? Verbringe ich wirklich meine Ferien in Gießen, nur um die Stücke vorzubereiten und mir über die Veränderungen in meinem Leben klarzuwerden? Oder auch, um auf Post aus Spanien zu warten? Als Jo mir die Notwendigkeit erklärt hat, die Ferien mit seiner Frau und Tochter in Malaga zu verbringen, mein Verständnis erwartet hat für die selbstverständliche Pflicht des verheirateten Vaters, hab ich gemerkt, daß ich diesen Verzicht nicht so gelassen wegstecke wie seine beruflich bedingten Abwesenheiten. Zwei Ansichtskarten hat er geschickt, von der schwer erträglichen Hitze geschrieben, nichts von Entbehrung oder Sehnsucht. Immerhin von seiner Vorfreude auf die gemeinsame Arbeit in der neuen Spielzeit.

    Seine Frau ist ziemlich hübsch und gut zehn Jahre jünger. Ob sie eine Entfremdung gespürt hat in ihrer Ehe? Ich weiß nicht, ob ich das fürchten soll oder wünschen. Mit Sicherheit sind ihr die Gerüchte im Haus von irgendwem zugeflüstert worden. Da wird sie in diesen Wochen alles aufbieten, um Jo neu an sich zu binden. Soll sie, ich will diese junge Ehe wirklich nicht zerstören. Aber außer ihren frischeren Brüsten und Hüften hat die ihm wohl kaum viel zu bieten. Nicht das tiefere Verstehen der Kunstprobleme und Schöpfungsprozesse, von denen das Theater lebt und die es nähren. Das ist der Humus, auf dem unsre Pflanze gewachsen ist. Und die soll nicht verwelken, noch nicht, nicht eh ihre Früchte ausgereift sind.

    Was wird, wenn Vik wiederkommt, womöglich genauso Hals über Kopf wie er abgehaun ist, weiß ich auch nicht. Sicher weiß ich, daß ich ihm nicht erlauben werde, wieder so in mein Leben einzubrechen.

    Inzwischen habe ich die erste richtige Rolle spielen dürfen, in Gogols Heirat die Heiratsvermittlerin. Jo hat nicht selbst Regie geführt, sondern der Rüdiger. Da gab es keinen Anfängerbonus für mich, der Mann hat mich wirklich gefordert. In Ordnung. Aber er hat mich regelrecht getriezt. Wahrscheinlich weil er eigentlich eine andre Besetzung wollte. Tränen hat er von mir nicht gesehn. Und Jo auch nicht. Franziska Just hat nach der Premiere gesagt, sie wär stolz auf mich. Kann es schöneres Lob für mich geben als diese Anerkennung einer Schauspielerin, die bei Kortner und Noelte geglänzt hat? Da können mir neidische Kolleginnen doch nicht die Freude vermasseln.

    Aber wichtiger waren für meine Entwicklung Rolf Hochhuth und Maxie Wander. Jo hat mir das Stück zum Lesen gegeben. Hätte ich nicht in Theater heute die Auseinandersetzungen um das Stück und die Dreifachpremiere im Frühjahr mitbekommen – mich hätte der Titel nicht neugierig gemacht – Juristen! Hochhuth hat sich an den Filbinger gewagt, hat ihn schon vor diesem Stück als einen Richter entlarvt, der im Mai 45 einen jungen Soldaten hinrichten ließ und es trotzdem in der CDU bis zum Ministerpräsidenten brachte. Das hat mir natürlich imponiert – mit Literatur einen solchen frommen Heuchler aus dem Amt zu schießen. Trotzdem mußte ich mich richtig überwinden, das Buch zu lesen, hatte keinen Funken Lust auf diesen trocknen Aufklärer Hochhuth. Konnte mir auch nicht vorstellen, was ein solch provozierendes Polittheater in unserm biederen Spielplan sollte. Ein Uraufführungsspektakel mit überregionaler Presse kann Jo sich davon nicht versprechen, im Gegenteil: nur provinziellen Ärger mit unsern konservativen Honoratioren wie in Heidelberg. Und jetzt muss ich mich wohl schämen für mein Vorurteil. Es ist ein tolles, wichtiges, mutiges Stück!

    Aber nicht nur das. Es ist auch mein Stück! Unser Stück! Was Viktor Bliss, und ich mit ihm, seit fünf Jahren in diesem Land erlebt haben an Angst und Aufregung und Hoffnungslosigkeit und verzweifeltem Aufbäumen gegen das von solchen Richtern und Beamten über uns verhängte Schicksal, das hat der Hochhuth in einem Bühnenabend zusammengedrängt und sichtbar gemacht! Der junge Arzt, der da den Minister bittet, seine Entlassung aus dem Krankenhaus rückgängig zu machen, ist nicht so ein standfester, politisch gebildeter Mensch wie Vik, hat nur vor Jahren ein paar Flugblätter geschrieben und demonstriert (wie wir alle damals) und will jetzt nichts weiter als seinen Beruf ausüben und Geld verdienen, ein normales, nützliches Glied der Gesellschaft werden, fast schon opportunistisch, könnte man sagen. Dadurch aber zeigt Hochhuth, welche zerstörende Wirkung, welchen Anpassungsdruck die Berufsverbote auf eine ganze Generation von jungen Menschen ausgeübt haben, die doch nur ernst nehmen wollten, was Willy Brandt damals gefordert hat: Mehr Demokratie wagen. Bei mir ja auch! Was ich vorhin in meiner Wut geschrieben habe, über Viks Starrsinn und Parteidisziplin, und was ich wirklich gedacht habe, manchmal zumindest, ist auch eine Folge davon, ganz klar.

    Ist das nun niederschmetternd oder hoffnunggebend? Da zeigt einer so deutlich, welcher nazistische Schmutz in den Köpfen unsrer Richter dieses Land mitgestaltet hat und weiter wirkt. Jetzt kann sogar dieser Strauß, der nicht mal die übliche demokratische Kreide gefressen hat, allen Ernstes als Kanzler kandidieren! Ein Horror, die Vorstellung! Die Wahrheit ist grausam, die Hochhuth ans Licht bringt. Aber daß er sie ans Licht bringen kann und viele Theater ihm helfen und sich noch beweisen als moralische Anstalt unsres Landes, ist ja doch toll. Ich bin so froh, daß Jo das Stück im Herbst spielen will. Vielleicht denkt er, wir können damit den Wahlkampf beeinflussen, hier in Gießen.

    Ich habe noch eine andre Vermutung. Oder eher Ahnung. Manchmal habe ich ihm erzählt von Viks Arbeit als Lehrer in Butzbach, wie zufrieden und ausgeglichen er in der Zeit war, weshalb er sich gegen seinen Rausschmiß wehrt. Damit Jo vielleicht versteht (und ich nicht vergesse!), weshalb Vik im Winter so auf dem Zahnfleisch ging. Könnte sein, Jo hat die Juristen gelesen und will mir zeigen, daß er etwas für den verfolgten Viktor Bliss tut? Mir zuliebe? Oder ist das zu weit her geholt, der Gedanke? Muß ich ihn fragen. Weil eigentlich ist er kein besonders politischer Mensch. Wie ich ja auch nicht. Ich bin ein ängstliches Huhn, immer gewesen. Der Hochhuth hat mich erinnert, was wir vor zehn Jahren wie selbstverständlich gewußt haben. Und verändern wollten. Ist ein Wahnsinn, wie man das verdrängt, einfach weil man seinen Beruf anständig ausfüllen will.

    Aber, ach! Maxie Wander! Dieses Echo von drüben, aus einer andern Welt, so vertraut, so anrührend und tröstlich. Nein, kein Echo – es ist ein Ruf, der in mir widerhallt, der eine verborgene Saite in mir zum Schwingen gebracht hat. Und jetzt, in dieser meiner kugeligen Ferieneinsamkeit, habe ich es noch viel deutlicher gehört als vor drei Jahren, als Vik mir Guten Morgen du Schöne aus der DDR mitgebracht hat. Da war es grade erschienen, kein Mensch kannte Maxie Wander – er hat es nur wegen dem Titel für mich gekauft, ein ganz unscheinbares Büchelchen, und dann wars eine solche Explosion von Frauenpower, diese ungeschminkten, rücksichtslosen Protokolle von Gesprächen mit DDR Frauen.

    Ich kannte die Meulenbelt, die Häutungen von Verena Stefan, das waren starke Ichexpeditionen in das unerforschte Binnenland Frau, aber meine Erfahrungen habe ich da nicht wiedergefunden. Dagegen hier! Alle offenbar normale Frauen, namenlos, also nur die Vornamen, Junge, Alte, Berufstätige, Ehefrauen, Mütter, Alleinstehende, mit heftigen Männervergangenheiten die meisten, alle aber von einer solchen entschlossenen Ehrlichkeit sich selbst und den eignen Fehlern und Lebenserwartungen gegenüber, auch was die Gesellschaft angeht – ich habe gedacht: nie würde mich jemand zu solchen Geständnissen bringen! Mir war schleierhaft, wie Maxie Wander das geschafft hatte. Und das in der DDR! Wo doch jeder hier denkt, da ist alles Doktrin und graue sozialistische Eintönigkeit.

    Zwei Jahre vorher, Alice Schwarzers Der kleine Unterschied, hatte auch einen erheblichen Wirbel verursacht und die Frauenbewegung angefeuert, aber die Schwarzer hat sich ständig eingemischt mit ihren Fragen und Kommentaren in die Aussagen der Frauen, deshalb wirkte das eher gelenkt und absichtsvoll, jedenfalls auf mich, während die Maxie Wander offenbar nur still zugehört hat und dadurch die reichen Lebensberichte der DDR Frauen zu Tage gefördert hat, so wie sie für sich selbst sprachen. Ohne jeden Kommentar und Zeigefinger. Wenn ich die beiden vergleichen will würde ich sagen: die Schwarzer hat einen eingerosteten Wasserhahn aufgedreht, aber die Wander hat einen lebendigen Wasserfall entdeckt.

    Da hatte sie schon Krebs. Grade 44 Jahre alt. Und jetzt aber ist dieses zweite Buch von ihr erschienen, kurz nach Viks Verschwinden, genau richtig für mich. Ihr Mann hat es aus ihren hinterlaßnen Briefen und Tagebüchern zusammengestellt. Christa Wolf hat dazu geschrieben, es wäre das fehlende achtzehnte Protokoll, die Selbstauskunft der Autorin. Das stimmt. Die zwei Bücher sind im Grunde wie eins. Das zweite erklärt, warum Maxie Wander das erste zustande gebracht hat.

    Ich habe in diesem Frühjahr und erst recht jetzt in den Ferien mit dem Buch gelebt, immer neu fasziniert, beglückt, erschüttert auch, weil sie von ihrem Kampf mit der Krankheit erzählt, von ihrer Lebenssehnsucht – so schrecklich ist das und so schön! Wie arm, wie unaufmerksam dagegen mein eignes Leben.

    Jetzt laufen mir wieder die Tränen, ich kann nicht weiterschreiben.

    Draußen ist es dunkel geworden, tintenschwarze Wolken, es wird gleich ein Gewitter geben. Ich habe mir noch einen Kaffee gekocht, wenn man was schluckt kann man nicht weinen. Meine Hummelfreunde sind nach Hause geflogen. Hoffentlich werden sie nicht nass. Die Sturmböen peitschen die Bäume. Nicht die besten Flugbedingungen für dicke Brummer. Jetzt fallen die ersten Tropfen, gleich wirds losgehn. Muß das Fenster schließen, schade.

    Ich habe Jo gefragt, ob es nicht möglich ist, daß wir dieses Buch unserm Publikum irgendwie vorstellen. Er hat gesagt, im Studio können wir vieles versuchen, aber nicht ein ganzes Buch vorlesen. Man müßte es bearbeiten, hab ich gesagt. Und er: Wer in unserm Ensemble wäre dazu in der Lage? Extra kosten darf es nichts. Und ich, kühn wie die Jungfrau von Orleans: Ich könnte es versuchen. Und er: Dann tus Lena. Zwei Schauspielerinnen hast du zur Verfügung.

    Das war vor den Ferien. Nun verbringe ich meinen Sommer mit Maxie Wander in Kleinmachnow und Berlin und Wien, im Garten, an ihrem Schreibtisch und in der Charité. Boh – jetzt fallen aber draußen die Wolken runter! So ein Zauber. Kaum noch was zu sehn. Die Blitze! Einfach so zickzack durch die Gegend, ziellos. Und rumsbums der Himmelsdonner, da muß einer ganz schön wütend sein. Licht brauch ich jetzt.

    Der Titel, den Fred Wander aus einem Brief seiner Frau genommen hat, ist meine ich nicht richtig. Leben wär eine prima Alternative. Trifft zwar irgendwie den Grundton ihrer Existenz, aber der Konjunktiv kann sich nur auf ihr Jahr mit dem Krebs beziehn. Ihre ursprüngliche, sinnliche Lebenslust, die Bejahung ihres Lebens ist es doch grade, was diese Frau auszeichnet! Sie liebt und genießt ihren Mann und ihre Kinder und gleichzeitig kämpft sie mit denen und sich um ihre selbstbestimmte Freiheit. Obwohl sie (oder weil sie?) freiwillig in die DDR gezogen ist, als Österreicherin, rebelliert sie gegen die bürokratischen Fesseln und Engstirnigkeiten, wo sie sie trifft, besteht einfach darauf, sich als mündiger Mensch zu verwirklichen. Trotz der Selbstzweifel, mit denen sie sich rumschlägt, weil sie sich als unfertig und unentwickelt empfindet, gegenüber den Ansprüchen, die sie an sich stellt.

    Eine großartige Frau. Ich finde sie großartig. Auch deshalb, weil sie selbst sich überhaupt nicht so findet. Sie leidet an der Unvollkommenheit der Menschen wie an ihrer eignen, kritisiert sie und versteht sie doch. Ich könnte sie sein. Viele Frauen könnten sie sein, mit diesem Wunsch, etwas Wichtiges zu tun, um ihr Leben zu beglaubigen, etwas Größeres als nur das Normale – für die Erhaltung der Art zu sorgen (was ich nicht mal gewollt hab, bis jetzt). Es ist verrückt. Sie tut eigentlich etwas ganz Banales, Simples – sie hört ein paar Frauen zu, bringt sie zum Reden, schreibt das auf und heraus kommt ein Denkmal, eine Ruhmeshalle der Frauen in der DDR! Ohne jede Ideologie, ohne Schminke und Beschönigung, mit vielen dunklen, rostigen Stellen neben den schimmernden, und deshalb von erschütternder Wahrhaftigkeit. Und einem tiefen Optimismus. Vik hätte wahrscheinlich gesagt, das ist die Dialektik. In keinem Plan stand das, niemand hat sie beauftragt, diese Arbeit zu tun, aber kein Parteidokument und keine Honeckerrede könnte so zu Herzen gehn und so überzeugen wie dieses kleine Buch. Die SED sollte Maxie Wander posthum den höchsten Orden verleihen, den sie zu vergeben hat!

    Ja, ich werde Malina Stotz schreiben, sie soll denen das vorschlagen, wenn sie nicht von selbst drauf kommen. Oder wir ziehen eine Postkartenaktion auf, alle Frauen die zu der Lesung ins Studio kommen, schreiben an Margot Honecker, sie soll dem Erich das beibringen. Mal sehn. Als Titel hab ich bisher DAS WIRKLICHE LEBEN!, in Großbuchstaben, damit man den Doppelsinn merkt.

    Das Wetter hat sich schon ausgewettert. Eine Luft jetzt! Alles tropft noch von der Sommerwäsche. Ich muß unbedingt raus!

    Ach Vik. Ach Jo. Ihr Männer. Ob ihr verstehen könntet, warum ich jetzt glücklich bin? Ganz ohne euch?

    Der Teaterpförtner hat die Nachricht nicht in ihr Fach gelegt, reicht Lena den postalischen Umschlag ohne Briefmarke gleich durchs Fenster: Telegramm für dich! Hoffentlich nichts Schlimmes!

    Sie liest erst in der Schneiderei:

    LENA BLISS STÄDTISCHE BÜHNEN GIESSEN

    VIKTOR BLISS DURCH WALDBRAND ATHEN

    SCHWER VERLETZT STOP LIEGT IN

    KRATIKO NOSOKOMEIO ATHINAS STOP

    ZUSTAND ZEITLICH STABIL STOP

    TAKIS VAMVAKIS KOA ATHINAS

    VERANZEROU/VATHY

    Ist das eine echte Katastrofe oder eine fiktive? Diesen Text könnte einer erlügen, mit wer weiß welcher Absicht, sie hier rauszulocken rauszureißen aufzustören. Obwohl, von Lebensgefahr ist nicht die Rede. Lena Bliss fragt telegrafisch zurück ob Geld erforderlich für den Verletzten, nein, nicht der Fall, es wird für ihn gesorgt. Schnelle Antwort, mit Telefonnummer für weitere Auskunft. Beruhigend. Oder auch nicht: der Argwohn ist so widerlegt, kein Bluff, keine Provokation. Den hats erwischt wieder mal, mein Mann der Pechvogel. Gibts das dass einer einen Lockstoff hat für Unglück.

    Lena Bliss zeigt im Akropolis dem Bühnenarbeiter Panos die Telegramme, der übersetzt ihr Kratiko Nosokomio als Staatliches Krankenhaus, das beste in Athen wie es heißt, und der Absender ist das Büro der Athener Kommunisten, wenn die sich kümmern kann sie beruhigt sein. Bestellt ihnen ohne zu fragen Uso mit Eiswürfeln zum Trinken auf Viktors Gesundheit. Von den Waldbränden liest er täglich in der Elefterotypia, sind politische Brände, da soll Kaos geschürt werden vor den Wahlen, damits keine Linksregierung gibt.

    Und warum bist du noch hier, in den Teaterferien?

    Zu teuer, das Fahrgeld. Zu heiß, der Sommer. Im Herbst gibts Billigflüge vom griechischen Staat, zu den Wahlen, dann. Fragt zurück, nach dem zweiten Uso, warum sie allein in der verödeten Stadt, und das ist keine saloppe Frage, Panos arbeitet an diesem Teater fast so lange wie sie, ein stiller Beobachter, der die Ritzen und Geheimnisse dieses Mikrokosmos kennt, keine Quatschnudel. Einzelgänger. Mitwisser auch, dem aber sich auszuliefern durch heikle Eingeständnisse unvorhersehbare Folgen – weißt ja dass mein Mann mich verlassen hat, hast seinen tollen Auftritt mitbekommen, er hats nicht ertragen dass ich Erfolg am Teater hab, ist in der Versenkung verschwunden, irgendwo in deiner Heimat, mit wem soll ich da verreisen?

    Lässt den andern Teil der Wahrheit nicht frei, die der Grieche nicht kennt oder nur ahnt, wie sie mit Arbeit sich trotzig gegen Verlustgefühle gesperrt und abgelenkt und entschädigt mit den gestohlnen späten Stunden im Chefbüro und in der Schneiderei, nie ganz ohne Angst, die prickelnde Spannung als Reiz, die tollen Geheimnisse der nächtlichen Dusche, die sich jetzt nachfühlen lassen müssen mit selbst erregter Fantasie in einsamen Nächten zu Hause – eine Wohnung, die Jo nie mehr betreten hat seit der Begegnung mit dem tobenden Dr. Bliss im Teater.

    Panos ist ein geduldiger Zuhörer, auch wenn sie nichts sagt. Gibt nicht preis, was er weiß.

    Was redet man denn so über mich, in der Kantine, wenn ich nicht da bin?

    Panos lächelt freundlich, bietet ihr eine Zigarette, nein danke, raucht selbst eine an: Die Kollegen denken, die Frauen besonders, dass man bei dir aufpassen muss was man sagt.

    Ach wirklich?

    Weil du einen Draht hast zur Leitung. Man sieht dich oft in der Intendanz.

    Sie nickt. Mein Jugendtraum war Schauspielerei. Jo Mettmann hat mein Talent entdeckt. Das heißt entdeckt hab ich es selber, schon als junges Mädchen. Er hats verwirklicht, mir die Chance gegeben zu spielen. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, versuch ihm zu helfen wann immer ich wegkomm aus der Schneiderei, seit sie ihm nur noch ne halbe Sekretärin zubilligen weil die Stadt den Etat gekürzt hat. Du musst wissen dass ich außer schneidern auch Sekretärin gelernt hab, auf den langen Umwegen zu mir selbst.

    Bist du jetzt angekommen?

    Vielleicht. Sie lacht: Ich bin wohl ne Teaterhexe. Da weiß man nie.

    Panos, ernst, drückt die Zigarette aus: Glaubst du der Viktor kommt zurück?

    Mit der Frage hat Lena Bliss nicht gerechnet. Sie hebt die Schultern, tiefer Atemzug. Keine Ahnung, echt. Hat mir nie geschrieben, außer ner Postkarte ohne Absender. Vielleicht ist er emigriert aus Deutschland. Wie du aus Griechenland. Hast du auch eine Frau zurückgelassen?

    Panos nickt. Ich schick ihr Geld. Ich war Seemann. Ein Schiff was ihr Seelenverkäufer nennt. Ist abgesoffen in der Nordsee. Da hatte ich genug vom Wasser, verstehstu? Sie lebt ihr Leben in Chania. Braucht mich nicht.

    Der Mann weiß alles. Wahrscheinlich sogar dass ich in Gießen geblieben bin um auf Post mit spanischen Briefmarken zu warten.

    Sag mal Panos, ehrlich – sind die Kolleginnen neidisch, dass ich auf die Bühne darf bei uns, als Kostümbildnerin?

    Kann dich das wundern Lena? Die zwei kleinen Rollen zuerst warn nicht das Problem – jeder weiß dass unser Intendant experimentierfreudig ist. Hat sich erst geändert, als er dir im Gogol die Heiratsvermittlerin gegeben hat und die Kunze und die Reizenstein mussten die kleinen Rollen spielen. Da haben die gegiftet.

    Obwohl die Giessener Nachrichten geschrieben haben, mein Auftritt wär ein Kabinettstück gewesen.

    Deshalb Lena. Du warst zu gut.

    Klar. So ist das am Teater. Frag mich nur, ob ihr Groll über die Ferien reicht. Hab mich immer gut verstanden mit den beiden. Ob der Chef sich durchsetzen wird, wenn die weiter stänkern.

    Ich wünsch es dir Lena. Und wenn du anrufst in Athen, bestell dem Viktor auch von mir Grüße.

    Von dir? Kennst du ihn denn näher?

    Kaum. Hat sich manchmal zu uns an den Tisch gesetzt in der Kantine, wenn er auf dich gewartet hat. Abgesehn von der Nacht, als er zu dir wollte in der Intendanz.

    Mein Gott erinner mich nicht!

    Kannst mir doch mal ne Zigarette geben. Danke.

    Was hast du davon mitgekriegt?

    Hatte Spätdienst. Hab das Schreien gehört, die Faustschläge an die Tür. Er war betrunken, hat sich nicht beruhigen lassen von mir. Bis die Polizisten kamen, zwei Mann. Mit gezogner Pistole der eine. Deren Terroristenfurcht wahrscheinlich. Hat er aufgehört zu schrein. Der andre hat ihm Handschellen angelegt. Dann ist der Chef rausgekommen, kreidebleich. Sie haben ihn gefragt, wer er ist, Johannes Mettmann, der Intendant, ob er den Mann kennt, ja, Dr. Bliss, eine hausinterne Sache, hat die Nerven verloren. Ob er Anzeige erstatten will, wegen Hausfriedensbruch, hat der eine gefragt und er hat gesagt, neinnein, sie sollten ihn mitnehmen zur Ausnüchterung oder nach Hause bringen.

    Schrecklich. Nie gedacht, dass mein Mann sowas – hat er sonst nichts gesagt?

    Doch Lena. Gib meine Frau raus du Hund, hat er gesagt. Und wie! Er war völlig außer sich. Hat geheult als sie ihn abführten, geschluchzt. Zu mir hat er gesagt, der Chef, ob noch jemand im Haus wär und es ginge niemand was an was ich gesehn hab. Ob ich das verstanden hätte.

    Lena legte die Hand auf seinen Arm. Danke, Panos. Schau, krieg jetzt noch das Zittern, wenn ich an die Nacht denke.

    Den Nachtpförtner muss der Chef auch verdonnert haben. Was mich am meisten gewundert hat war, dass die Zeitung nichts erfahren hat, aus dem Polizeibericht. Wär doch für die ein Fressen gewesen, so ein Vorfall.

    Meingott, ja. Dass ein Mensch so ausrasten kann. Seit fünfzehn Jahren kennich den Mann. Seine total übersteigerte Einbildung war das. Art Paranoia, glaubich. Im Grunde teaterreif, dieser Auftritt, findsdu nicht?

    Wie das Leben Lena.

    Na hör mal! Am nächsten Tag ist er abgereist. Verschwunden. Und ich saß da mit den Scherben.

    Wenigstens ist er nun wieder aufgetaucht.

    Schöner Trost Panos, in welchem Zustand! Weißt du was das heißt – schwer verletzt beim Waldbrand?

    Willstu hinfliegen?

    Mal sehn. Ich hab die Telefonnummer. Hoffentlich sprechen die deutsch. Ich steck voll in der Vorbereitung für die WanderProduktion.

    Als sie aufstand, zahlen wollte, ließ er das nicht zu, begleitete sie zur Tür. Lächelte still.

    Lena Bliss kann sich mühsam nur an ihre Winterwut erinnern. Der Kopf weiß sie noch, aber im Bauch und Herzen ist sie beherrscht von der wärmenden Lebensliebe der gestorbnen Maxie Wander und den fantasievollen, geheimnisumsponnenen Zärtlichkeiten ihres Liebhabers. Schmerz ist dabei, als ein herber, nachtschattiger Hauch von Trauer über das unwiderrufliche Verschwinden der fernen Verwandten und über das noch unabsehbare doch sichere Verlöschen des vom Teaterhimmel gefallnen Glücks.

    Im Arbeitszimmer des Mannes, das sie selten nur seit seinem Verschwinden betrat, liegt Stille. Die schwarze Wanduhr hat die Zeit verlernt. Tote Fliegen auf dem Fensterbrett. Die Fensterscheiben verschleiert von Schmutz. Staub. Auf der Schreibtischplatte. Auf den Büchern seiner Handbibliotek. Den zwei Fotos im Rahmen, die lächelnde, jung verheiratete Frau, die Tochter Jona vor dem kanadischen Blockhaus. Zwei Stapel Briefe, Zeitungen, aus den ersten Wochen. Die Post ging zurück ab dem Tag, als seine absenderlose Karte aus Griechenland ihn als lebend aber verschollen erwies. Sie hat die Fragen vertrieben, ob und wann er zurückkommen werde. Mit Arbeit. Mit Entdeckungen. Ich bin keine trauernde Witwe.

    Die Scham der verlassnen Ehefrau ist verschorft, die Fragen der Freunde sind verblasst in Schweigen. Auch Manfred der Intimus hat nur seine zornige Ratlosigkeit ins Telefon geknurrt, keine gemeinsame Gedenkveranstaltung in Düsseldorf oder Gießen.

    Das Telegramm der fernher geschleuderte Blitz in ihren gestillten Sommer.

    Auf der Tischplatte könnte man schreiben. Was denn? Du Armer? Aufgetaucht aus dem Eis. Ins Feuer gefallen. Viktor Bliss der Ausgestoßne. Der Verunglückte. Der Bestrafte? Von wem? Für was?

    Bringen sie ihn mir jetzt irgendwann zurück in diese Wohnung, die auch seine ist? In welchem Zustand?

    Die Stimme der Frau klang sehr jung. You need not come. No danger for his life. Its our best hospital. Absolute quarantine. Tried to save people in the burning wood. Viktor Bliss der Menschenretter. Mal wieder.

    Sie malt mit dem Zeigefinger wie träumend: Mein Mann.

    Ein Denkmal, in den Staub geschrieben. Sehr fremd. Sehr vertraut. Sehr flüchtig.

    Könnten wir uns unsre Verletzungen erklären? Unsre Bedürfnisse begreifen?

    Vik, ich kann kein andres Leben beginnen. Ich kann nicht zurück. Wirst du das verstehn?

    Wenn du zu mir ins Teater kämst, wie in München! Als dramaturgischer Berater, für den Hochhuth!

    Ach aber Jo – morgen Ensembleversammlung – mit welchem Gepäck im Kopf bist du zurückgekommen? Vier Wochen ist fast so lang wie ein halbes Jahr. Die Versprechen sind gegeben, mit den Worten, mit den Körpern. Gefühle und Töne, keine haltbaren Medien. Geheimtinte unsichtbar. Ich darf mich auch auf dich nicht verlassen Jo Mettmann, kam ein Vogel geflogen, schlank und schön und mit einem prächtigen Schwanz, für den bin ich kein Käfig, der fliegt wann er will weiter.

    Aber schön wärs doch ihr könntet euch freundlich ertragen, ihr neunmal klugen Männer. Ihr Paradiesvögel. Ihr Sumpfotter. Feuersalamander. Ihr Grottenolme. Stinktiere. Hornochsen. Brüllaffen. Wildschweine. Ihr Rammler. Ihr Schmusekater.

    ARBEITSFREIHEIT

    In der Betriebsversammlung musste nach wiederholten Protesten der Arbeitsdirektor persönlich den Blaumännern erklären, weshalb der Vorstand den Betriebsratsvorsitzenden Manfred Anklam fristlos zu entlassen gezwungen war, nachdem er an vorderster Stelle ein Flugblatt unterzeichnet hatte, durch das die Firma angegriffen wurde und letztendlich zur Stillegung der Stahlschmelze und zum Abbau vieler Arbeitsplätze gezwungen werden würde. Zurufer forderten, den geschassten Kollegen hier vor seinen Wählern auf die Vorwürfe antworten zu lassen, er sei in zwei Minuten zu holen. Abgelehnt. Müdes Lächeln der Herrn auf dem Podium, die Entlassung sei zum Wohl des Arbeitsfriedens in Betrieb und Belegschaft unumgänglich gewesen. Die Vertretung der Belegschaft habe ihr zugestimmt. Pfiffe die Antwort darauf.

    Willi und Hans meldeten dem in der Bahnhofskneipe feucht wartenden Anklam das Ergebnis der Versammlung und vernebelten selbdritt den Schmerz und die Wut und die Ratlosigkeit mit weiteren Bieren und Schnäpsen, die schließlich nur der Wirt noch zu zählen gewusst hatte. Unwiderruflich verloren schien da der Kampf um den einen und aber auch um die von den Stillegungsvorzeichen verschüchterte Belegschaft des Reisholzer Werkes.

    Die Schnapsköppe erwogen eine Protestfahrt zum Bundestag, einen Einmarsch beim Aufsichtsrat, eine Podiumsbesetzung beim Gewerkschaftstag, einen Brief des Vertrauenskörpers an Erich Honecker, an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – oder doch gleich auswandern nach Brasilien. Manfred Anklam klärten die Klaren das Hirn, brachten seine grauen Zellen zum Feuern. Schon ist uns die Stahlschmelze rausgebrochen aus Reisholz mit dreihundertsiebzig Kollegen und jetzt soll der Rest übern Jordan weil der Overbeck den kompletten MannesmannKonzern raustrixen will aus der MontanMitbestimmung, sonnenklar ist das, nach der Bundestagswahl wird der Aufsichtsrat den Beschluss unterm rauschenden Beifall von Gesamtmetall rauslassen und kein Parlament und keine Gewerkschaft wird den feinen Herrn die Faust unter die Nase reiben, die Rezession und die Stahlkrise nutzen die kalt, haun weg was sie noch stört, unsre paar Rechte aus der Zeit als sie Kreide fressen mussten weil wir ihnen die Buden wieder aufgebaut haben. Seit die roten Roben in Kassel ihnen die Aussperrung geschenkt haben können sie die Puppen tanzen lassen frei Schnauze und unser toller Gewerkschaftschef träumt von seiner Verantwortung für die deutsche Wirtschaft. Und was sind das für Träume, Freunde? Sind das Albträume? Lustträume sinds, jawohl! Kaum haben wir einen von uns dank Mitbestimmung in den Aufsichtsrat gehievt, versteht er die Logik der Bosse! Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender, unser Gewerkschaftschef, und wetten dass er im September wiedergewählt wird von fünfhundert unsrer delegierten Kollegen? Aber er hats gewusst, natürlich hat ers gewusst dass sie uns Reisholzer kaputt machen wolln, egal ob wir den besten Stahl in Deutschland schmieden, nur um aus Montan rauszukommen, kein Sterbenswort davon hat er uns wissen lassen, damit wir schön brav produziern bis zur letzten Tonne und keinen Stunk machen und er, ihr werdets erleben, in der nächsten Regierung Arbeitsminister wird, egal ob bei Schmidt oder Strauß, oder vielleicht gleich wie der Leber Verteidigungsminister, und die ganze IG Metall wird jubeln Einer von uns im Kabinett! Kein Wort mehr von Gegenmacht! Das ist die Konzertierte Aktion über die Hintertreppe meine Herrn, deshalb scheiß ich auf ihre Mitbestimmung, egal ob Montan oder nicht, mit der sie uns eingeseift haben, und ein ganzer stolzer Betriebsrat, vierzehn Mann und eine Frau, nickts ab wenn ihm der Vorsitzende weggeschossen wird! Hab ich mir denn meine Bude renovieren lassen auf Betriebskosten wie der Feckler von F&G? Hab ich unsre Ellie vernascht? Hab ich Lustreisen nach Brasilien gemacht mit Mannesmannknete wie der Loderer? Hab ich das? Wie?

    Anklam packte Willi mit beiden Fäusten an der Jacke, rüttelte ihn: Hab ich das? Oder was gibts noch im Angebot der Einkäufer?

    He Manni mach kein Scheiß jetzt. Frank und Jupp und ich haben gegen deine Entlassung gestimmt.

    Hans Wiedemann hielt ihm sein Glas unter die Nase dass er Willi loslassen musste: Weil du das Gegenteil von all dem gemacht hast, Herrgott weil du ihnen ihre Schweinerein versalzen hast, deshalb haben sie dich gefeuert! Das weißt du genau. Und es gibt einen Haufen Kollegen bei uns die wissen das auch. Aber jetzt redst dun Haufen Schnapszeug und außerdem mussich –

    So! Schnapszeug nennst du das! Wenn ich mal die Wahrheit sag! Bist auch schon eingekauft wie?

    Mensch Manni siehst du noch klar? Das ist der Hans!

    Ja der Hans! Hans bist du mein Freund? Besorgst du mir eine Knarre? Weißt du wo der Overbeck der Obergauner wohnt?

    Wiedemann blickte zum Wirt: Heinz ruf uns ein Taxi!

    Taxi? Wozu das denn? Mein Fahrrad steht draußen!

    Klar Manni. Aber bis zu Overbeck isses zu weit. Komm, wir fahrn zusammen!

    Wiedemann zahlte ihren Deckel. Sie nahmen Anklam rechts und links unter die Arme, zogen ihn auf die Straße. Das Taxi war gleich da. Der braunhäutige Fahrer schaute misstrauisch auf den Betrunknen: Kotzt der mir in Wagen?

    Fahr langsam Mustafa, dann kotzt er nicht. Sind nur fünfhundert Meter.

    Ihr zahlen mir Reinigung!

    Sie verstauten Anklam auf dem Rücksitz, setzten sich neben ihn. Zerrten den Fluchenden raus vor seinem Haus und in den Fahrstuhl, holten ihm den Schlüssel aus der Tasche, schubsten ihn aufs Bett.

    Hast du ne Aspirin im Haus? fragte Willi als er ihm die Schuh auszog.

    Haut ab ihr Knalltüten! Meldet euerm Overbeck dass ihr euern Vorsitzenden entsorgt habt! Holt euch eure Prämie! Los! Verschwindet!

    Da löschten sie das Licht, schlossen die Tür von außen zu.

    Der hat echt n Rad ab der Manni, sagte Willi.

    Den haben sie jetzt kaputt gekriegt, sagte Hans.

    Guckst du morgen früh nach ihm? Ich hab Frühschicht.

    Machich Willi.

    Der auf Griechenlanderlebnisse und Wochenendfreuden erpichten Uschi sagte Anklam das Stelldichein ab. Ich hab so was wie ne schleichende Tobsucht Uschi, gestern meine besten Kollegen zusammengeschissen wien Haufen Dreck, also lass mich besser in Ruh. Im Suff, ja, zum Glück ohne Überfallkommando. Rausgeschmissen, arbeitslos, ich! Der Betriebsratsvorsitzende! Keine Lust auf weiblichen Trost, von niemand – so tief in der Scheiße sitzt einer besser allein.

    Zergrübeltes, kopfschmerzgeplagtes Wochenende in der verluderten Wohnung. Vagabundierender Zorn zwischen Kemperdiek mit dem hörigen Betriebsrat und dem Kapitalistenpack im Vorstand und zwischendrin auch mit dem funktionslosen, arbeitslosen Menschen im Waschsalon, im Supermarkt, in der Apoteke. Kollegen sah er nicht. Erstaunlicherweise schien die Sonne. Als sei sie ihm von Athen nachgelaufen.

    Der Typ auf dem Arbeitsamt in der Altstadt las das Kündigungsschreiben mit sich furchender Stirn, verschwand, kam zurück mit offenbar seinem Abteilungsleiter, und vereint konnten sie mit Bedauern bei einer selbst verschuldeten Kündigung nicht anders als eine Sperrfrist von zehn Wochen verhängen, Bessres ließen ihre Vorschriften nicht zu, eine Prüfung der Begründung seiner Entlassung außerhalb ihrer Kompetenz, Sache des Arbeitsgerichts, im Fall der nachgewiesnen Bedürftigkeit würde jedoch das Sozialamt, tut uns außerordentlich, kein böser Wille Herr Anklam, bestimmt nicht, der Gesetzgeber hat uns die Hände gebunden. Der hatte sich Gelassenheit geschworen, ging grußlos.

    Schorsch Eupers, Ortsbevollmächtigter der Metaller in Düsseldorf, wusste genau über den ungestümen Kollegen Anklam und seine letzten Husarenstreiche Bescheid, versicherte ihm, dass er gern bei der Betriebsversammlung für ihn in die Bütt gegangen wär, aber da wars zu spät und den Bach runter, euer Betriebsrat hat uns nicht informiert vor seiner Zustimmung zu der Kündigung oder der Kollege Kemperdiek hats nicht gewusst, dass der Betriebsrat mehrheitlich zustimmen würde, seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit wärs gewesen, das mit der Verwaltungsstelle abzustimmen, greift scheints um sich, dass die Betriebsräte ihre Gewerkschaft nicht mehr fragen, betriebsegoistisch entscheiden, wär alles garantiert anders gelaufen, wenn du Jeck nicht so knallfall vierzehn Tage an die Costa brava, jetzt sind Fakten in der Welt, gegen die ist nicht leicht anstinken Manfred. Ehrlich gesagt – ein gewisser Leichtsinn von dir, muss man schon sagen, hast ihnen Angriffsflächen geboten mit dem Flugblatt, wusstest doch dass du nicht nur Freunde hast im Betriebsrat. Dass der Mannesmann-Vorstand dich ganz oben auf der Abschussliste hatte war dir auch klar. Jetzt willst du wegen Gemaßregeltenunterstützung, kein Problem mit mir, aber du bist ein Grenzfall, bist nicht wegen deiner Arbeit als Betriebsrat geflogen, sondern weil du außerhalb des Betriebs gegen diese verdammte Treuepflicht, diesen Vasallenparagrafen aus der Nazizeit, und das Bundesarbeitsgericht hat da Urteile gefällt mein Junge, gegen Arbeitnehmer, da grausts dir, aber mächtig! Also kurz: ich muss bei der Zentrale anfragen, deren liebstes Kind bist du bekanntlich auch nicht, aber wird schon klappen, deine Beiträge hast du ja satzungsgemäß gelöhnt. Den Rechtsschutz der IG Metall kriegste, keine Frage.

    Den allerdings lehnte Anklam dankend ab, hatte genug gehört von den kompromissfreudigen juristischen Kämpfern der Gewerkschaft, wollte Volker Götz als Rechtsbeistand, auch wenn das sein eignes erschuftetes Geld kosten sollte. Gute Worte und eine faustvoll Empörung waren von den Funktionären der Düsseldorfer Verwaltungsstelle allemal in Empfang zu nehmen, aber den Antennen seines Argwohns entging nicht die Wirkung des Makels, der ihm, dem fristlos aus der Arbeitswelt Verstoßnen, selbst hier anhing: die Augen der angestellten Kolleginnen an ihre Arbeit geheftet, ihre Blicke verhuscht eher als anteilnehmend, und seine starke, raumfüllende Betriebsratstimme, die seine Anwesenheit in den Büros der Gewerkschaft sonst unüberhörbar machte, schien ihm selbst fremd, unnatürlich gedämpft. Als wäre gestern der große Vorsitzende persönlich gestorben.

    Volker Götz empfing den Betriebsvertriebnen in seiner kleinen Garather Anwaltskanzlei lachend. Hier herrschte juristische Kampfbereitschaft. Auch das StaeckPlakat mit den hochgerüsteten Bereitschaftspolizisten unter der Balkenüberschrift F. J. Strauß kommt hing über seinem Kopf an der Wand. Anklam knallte ihm die Kopie des Kündigungsschreibens auf den Schreibtisch. So sieht ein Stück Scheiße aus Volker. Du lachst und ich bin der Angeschissne. Der Betrieb ist ein Friedhof, da rührt sich kein Schwanz für mich. Große Trauergemeinde. Ums Stahlwerk. Nie führt ein Herr Kollege Kemperdiek die Truppe auf die Straße!

    Der Berufsoptimist Götz lachte verstärkt: Du bist kein Fall fürs Leichenschauhaus Manfred, sondern einer für den Kadi, mit dessen Hilfe wir den Weißen Kragen von Mannesmann zeigen werden, dass man in diesem Land nicht mehr nach Gutsherrenart Menschen heuern und feuern kann.

    Götz gab sich souverän, siegessicher, verstand vielleicht das Flugblatt der Mieterinitiative, das auch seine Unterschrift trug, als ausgelegten Köder, in den die Konzernleitung sich verbissen hatte und nun festhing, wehrlos auf seinen juristischen Fangschuss warten musste. Kein Problem die Finanzen, mit Lust wollte er Manfreds Sache ausfechten. Als Arbeitsloser könne er außerdem Prozesskostenhilfe beantragen.

    Beantrag du lieber ne einstweilige Verfügung, dass ich wieder reinkomm in die Bude!

    Da sagst du was Manfred. Aber der ist in unserm Staat noch nicht erfunden, der Paragraf der das möglich macht.

    Er griff sich, ohne auf Anklams Zustimmung zu warten, sein Diktafon, verkündete fröhlich: jetzt pass auf, wie sich das anhört, was wir den Herren in aller Höflichkeit zu sagen haben. Er schaltete das Gerät ein und legte los: An das Arbeitsgericht Düsseldorf undsoweiter Absatz

    Klage des Betriebsratsvorsitzenden Manfred Anklam undsoweiter, Klägers, Prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt Götz, gegen die Firma Mannesmann Stahl- und Röhrenwerke AG Düsseldorf-Reisholz undsoweiter, vertreten durch den Vorstandvorsitzenden undsoweiter, Beklagte, wegen Kündigungsschutzklage gegen außerordentliche fristlose Kündigung. Absatz.

    Ich bestelle mich zum Prozessbevollmächtigten des Klägers und beantrage festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom – wann genau?

    26. Juli!

    vom 26.7.1980 nicht aufgelöst ist, sondern ungekündigt fortbesteht. Absatz. Begründung. Die Beklagte führt als Entlassungsgrund die Unterschrift des Klägers auf einem Flugblatt der Mieterinteressengemeinschaft Reisholz an, in dem die gesundheitsschädigende Staub- und Abgasbelästigung der Reisholzer Wohnviertel durch das von der Beklagten betriebene Stahlwerk Henkelstraße, insbesondere ihres Stahlschmelzwerkes, kritisiert wird. Diese Unterschrift des Klägers kann nicht als eine Verletzung der Treuepflicht eines bei der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber gewertet werden, da der Kläger ausschließlich in seiner Eigenschaft als Bewohner des fraglichen Wohngebiets seine Stimme für die Behebung der gesundheitsschädlichen Emissionen abgegeben hat. Der Kläger ist nicht dadurch verantwortlich für den Inhalt des Flugblattes, dass sein Name der erste von zehn Unterzeichnern ist. Er ist vielmehr nur aus alphabethischen Gründen an diese Stelle gerückt. Es fehlt auch jeder Hinweis auf seine Betriebszugehörigkeit und dortige herausgehobene Stellung. Absatz. Die Auflage des Gewerbeaufsichtsamtes der Stadt Düsseldorf, den Betrieb der Stahlschmelze der Beklagten durch den Einbau einer Filteranlage schadstoffrei zu gestalten, beweist hinlänglich, dass das in dem Flugblatt vorgebrachte Anliegen der Anwohner berechtigt war und nur auf die Beseitigung eines durch die Beklagte verursachten ordnungswidrigen Übels zielte. Absatz. Der Kläger ist daher zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.

    So mein Lieber. Das geht morgen raus ans Arbeitsgericht. Einverstanden? Anklam nickte skeptisch. Dann musst du mir noch die Prozessvollmacht unterschreiben. Und nun beiß die Zähne zusammen alter Junge, und richte dich ein auf ziemlich viel Freizeit. Willstun Kaffee? Schnaps wird in meinem Büro nicht gereicht.

    Es gab karitative Abendbrote bei Kruses und Wiedemanns, mit denen die Wiederherstellung des Einverständnisses mit den getreusten der Kollegen besiegelt wurde, nachdem Anklam ein mürrisches Tschuldige Hans, tut mir leid, kannste auch Willi sagen, durch die Lippen gebracht hatte. Hans Wiedemann konnte berichten, dass er eine Liste im Vertrauenskörper angeleiert hatte, Protest gegen die den Betriebsfrieden störende Entlassung des Betriebsratsvorsitzenden durch den Vorstand, schon über dreißig Kollegen hatten mit ihrer Unterschrift Manfreds Rückkehr gefordert. Anklam las die Namen am Küchentisch, nickte bei jedem den er kannte, Streicheleinheiten waren das, noch zu wenig, klar, die GL würde das nicht ernstnehmen, aber für das Arbeitsgericht konnte eine solche SoliErklärung der Kollegen schon von Bedeutung sein. Außerdem hatte er gute Chancen, sagte Wiedemann, auf der Düsseldorfer Vertreterversammlung erneut als Delegierter zum Gewerkschaftstag in Berlin gewählt zu werden.

    Nach dem Essen saßen sie im Wohnzimmer, Wicküler aus Flaschen, in der Tagesschau erfuhren sie von den Angriffen des CSU-Generalsekretärs Stoiber auf die Gewerkschaften, der gab einen Vorblick auf die Geschenke, die die Unternehmer von seinem Chef Strauß als Kanzler zu erwarten hätten. Der Kommentator wies auf die vergleichbaren Pläne der konservativen Lady Thatcher hin, die, kaum im Amt, offenbar mit dem eisernen Besen neuer Gesetze die britische Wirtschaft von der unheilvollen Obstruktion durch die Gewerkschaften der maroden Kohle- und Stahlindustrie befreien wolle. An den englischen Kumpels werden sich die Konservativen die Zähne ausbeißen, hoffte Wiedemann, das sind taffe Jungs.

    Renate fragte unvermittelt, wann sie denn nach Düsseldorf komme, die Traumfrau vom Mittelmeer für die er seinen Job riskiert hat, oder ob er dorthin umziehn werde, nachdem ihn nun doch nichts mehr halte am Rhein? Auch Hans Wiedemann wollte schon wissen, ob was an den Gerüchten dran ist, obwohl das klar Manfreds Privatkiste war. Da rückte er raus mit seiner seltsamen Wahrheit: der auf die Insel Leros verschwundene Freund, geflohn aus seinem Berufsverbot und Eheknatsch, den er wiederbeleben und nach Athen zurückschleppen musste, der unfreiwillige Aufenthalt dort wegen ausgebuchter Flüge und einer umgebrachten Studentin, ein Fall wie unser Berliner Ohnesorg für die Griechen, Riesendemos in der Stadt und vor dem Betrieb wo man sie getötet hat.

    Wiedemanns schien diese Geschichte eher weniger glaubhaft als die ursprüngliche, so dass Anklam sie mit vielen Details unterbauen musste und fragte, ob denn in den Nachrichten nichts gekommen sei über den Aufruhr in Athen? Fotos hatte er allerdings überhaupt nicht gemacht, es war für ihn keine Urlaubsreise, sondern ein einziger Stress. Zum Kopfschütteln fand Wiedemann die Sache denn doch, wenns noch ein verlorenes Kind gewesen wäre oder ne ausgebüxte Frau! Aber ein ausgewachsner Mann! Und Renate wollte wissen, obs ihm jetzt leidtäte, seine Expedition, bei all den Folgen? Da schaute Anklam zur Decke, aus dem Fenster, auf seine Hände, und nach einem tiefen Atemzug: Volker Götz hat mir versichert, er boxt das durch beim Arbeitsgericht, ich komm zurück zu euch. Das Recht ist gegen sie. Was haben wir immer gesagt Hans? Was uns nicht umbringt macht uns härter. Dabei solls bleiben.

    Uschi bemerkte ihn anscheinend nicht als er ihren Salon betrat, so beschäftigt mit einem blonden Lockenwunder, obwohl sie im großen Spiegel über dem Waschbecken die Eingangstür im Blick hatte. Er räusperte sich. Keine merkbare Wirkung. Als er dicht neben sie trat, schüttelte sie den Kopf: Nicht jetzt! Ich arbeite!

    Ihre Reaktion war ungewöhnlich, befremdlich, aber gut, Zeit hat er genug. Er setzte sich, sah zum erstenmal Uschi und ihrer Kollegin bei ihren ziemlich feinmechanischen Handarbeiten an den zwei älteren Frauen zu. Geschickte, sichere Zugriffe mit ihren wenigen Werkzeugen, Scheren, Bürsten, Kämmen, viel mehr brauchen sie nicht außer ihren gepflegten Händen, an den Werkstücken, den Köpfen. Sie erzeugen nichts, außer vielleicht ein paar abgeschnittne Haare. Eine neue Frisur. Bisschen frische Schönheit zum Rumtragen. Ist das ihr Mehrwert? Verschönerung von Frauenköpfen. Uschi hält sich für kreativ. Haarkünstlerin. Reiner Luxusberuf. Völlig überflüssig. Die Frau lässt sie machen, durchblättert die Bunte, schaut kaum mal in den Spiegel. Vertraut ihr wohl.

    Ist Schönheit ein Mehrwert im Sinne von Marx? Oder eher seine Vernichtung? Goldschmiedin, Modeschöpferin, Manikürin, alles Überflussberufe, Luxusgesellschaft. Und Sängerin? Tänzerin? Musikerin? Die Männer ja auch. Pfarrer! Hochspringer! Fußballer! Könnten wir alles doch selbst, wenn wir Lust dazu haben. Wie die Kinder. Wärn Tema für Vik. Vergissihn. Endlich issie fertig mit der Tusnelda.

    Uschi nahm ihren Lohn in Empfang, verabschiedete sich, winkte ihn vor die Tür. Er folgte ihr. Sie sah an ihm vorbei auf die Straße. Du kommst zu spät Manfred. Ich habe vierzehn Tage auf dich gewartet als du nach Griechenland bist ohne Erklärung. Jetzt bist du ein paar Wochen hier und hast mich nicht gebraucht, ohne Erklärung. Ich hab meine Konsequenzen gezogen.

    Was heißt das Mädchen?

    Das fragst du noch? Ich brauch dich nicht mehr.

    Ach so. Klar. Verstehe. Arbeitslos. Na dann tschüs Uschi. Wünsch dir viele unfrisierte Lockenköpfe.

    Nichts verstehst du Manfred. Aber hast ja jetzt Zeit zum Nachdenken.

    Vielleicht wirst du mir fehlen.

    Du mir nicht, sagte sie unerbittlich, ließ ihn stehn.

    Böse Wut war sein erstes Gefühl. Noch nie hat eine Frau ihm den Laufpass gegeben. Zwei Tage lang dachte er noch, dass ein Anruf käme, um die kalte Verabschiedung als eine Lehre, eine vorübergehnde Erziehungsaktion und Vergeltung für den gedankenlosen Egoismus seines Unglücks zu erklären, der die Freundin einfach aus seiner beschädigten Gegenwart ausgeschlossen hat. Das hätte er gern als Verschulden zugegeben, nachdem die Wut in Resignation verebbt war, doch muss er verstehn lernen, dass er ihre Geduld überfordert hat. Die Rücksichtslosigkeit seines Verhaltens ihr gegenüber lässt sich aber auch erklären – nicht entschuldigen – mit einem Mangel an tieferer Zuneigung, und wenn seine Beziehung zu ihr lediglich ein mit ein paar Freundlichkeiten gepolstertes sexuelles Gebrauchsverhältnis war, dann ist dem auch kein nachträglicher Herzschmerz angemessen und es bleibt, gibs doch zu alter Knieskopp, der verletzte Männerstolz des Herrn Don Juan, dem eine einen andern Schwanzträger vorgezogen hat.

    Seine bitteren Gefühle, die sich bei Tageslicht noch halbwegs verdrängen, in Lektüre oder Kino oder im Kraftsportzenter ablenken lassen, packen nachts unnachsichtig zu, vermiesen ihm das Einschlafen, scheuchen ihn als Träume aus dem mühsam erlangten Schlaf, vergällen ihm das morgendliche Sonnenlicht, das sein unverändertes Elend an den Tag scheint. In der Schlaflosigkeit wälzt er die vergangnen Wochen um und um.

    Der in Athen zurückgelassne, der zweimal verlorne Freund, ist ein hartnäckiger Wiedergänger seiner nächtlichen Grübeleien. Nachzuempfinden hat er nun dessen jahrlang von Arbeit unfreiwillig entblößtes Leben mit eigner Erfahrung. Die gemeinsamen Inseltage erscheinen ihm unwirklich, wie geträumt. Und keine Nachricht von dem Zurückgebliebnen, oder Zurückgelassnen?, dessen Ausbruch aus der Kampfzone er hatte beenden wollen mit freundschaftlicher Gewalt, und der, unbeabsichtigt, natürlich! Ursache seines Absturzes in die Arbeitsfreiheit geworden ist. Wer hat denn mich gezwungen, wie eine verschmähte Schwuchtel, dem Kerl hinterher zu fliegen? Niemand als ich selbst!

    Aber nicht verhindern kann er einen wachsenden Groll gegen den so hartnäckig schweigenden Freund, der weiß, in welche Bredulje er von Athen zurückgeflogen ist, der nicht nachfragt, weder Auskunft will noch Auskunft gibt, zurückgefallen in seine Inselflucht oder wahrscheinlich verstrickt in einen betäubenden Liebeshandel mit der griechischen Studentin. Die ich ihm sogar anempfohlen habe als Wehmutter für seine gerupfte Seele. Alles was ich getan hab für ihn setzt doch dieses Schweigen ins Unrecht, macht mich zum Idioten! Verlassen hater mich, wie die Kollegen im Betriebsrat.

    Herzschmerz in der Nacht. Krämpfe in der Brust beim Aufwachen. Alles Einbildung, oder? Er entschließt sich zu Schlaftabletten. Obwohl er sie seiner unwürdig findet.

    Musils Mann ohne Eigenschaften ist halbunbeendet zurückgestellt ins Bücherregal, auf dem Lesepult liegt aufgeschlagen der Band mit den atemlosen, den geschliffnen Textblöcken des schwedischen Emigranten, der mit seinem in die Vergangenheit der europäischen Arbeiterklasse forschenden Bericht dem vertriebnen Werkzeugmacher Anklam seine Herkunft erläutern will. Kaum zwei Jahrzehnte zurück nur reicht seine selbst erlebte proletarische Erfahrung, ausreichend zwar zur Kenntnis der Machtverteilung im westlichen Deutschland, doch unzulänglich das Wissen von Herkunft und Ursprung der Klasse als Fundament einer auch gegen extreme Angriffe widerständigen Arbeiterexistenz.

    Der Lektüreauftrag war erteilt vom historischen Fachwissenschaftler Viktor Bliss in einverständigen Jahren, aber das Buch mit seinem dem literaturliebenden Facharbeiter Anklam so unverständlichen und seine Neugier abweisenden Titel Ästhetik des Widerstands hatte nicht vermocht, seine Überführung aus dem Regal der Lesevorhaben auf das Lektron am Fenster des Studios zu bewirken. Weder die Entdeckung der zahlreichen Bleistiftanstreichungen des Erstlesers Bliss, noch die Nachricht vom Erscheinen eines zweiten Bandes unterm gleichen Titel vor zwei Jahren hatten Anklams Blockade aufgelöst. Ein verschlungner Erinnerungsweg führte ihn nach seiner Abfuhr im Arbeitsamt hinüber zum JanWellemPlatz und den beiden futuristischen Gebäuden, in denen die Macht und die Musen herrschaftlich um die Achtung der Bürger wetteiferten. In dem festungsartigen, durch die geschwungnen Fassaden kaum gelockerten Teaterbau, neben den protzig in die Stadt gerammten Quadern des Thyssen Hochhauses, hatte er vor zehn Jahren, mit dem Namen Trotzki im Ohr, von Köln herüberkommend, ein Scheitern erlebt, das sich nun, aus wachgerüttelter Erinnerung, mit seiner eignen Niederlage verquickt.

    Damals sollte ein Teaterstück vorgestellt werden, das den Lebenslauf des aus dem Sozialismus verstoßnen russischen Revolutionärs auf der Bühne nacherzählen und seine verheimlichten Ideen zur öffentlichen Debatte vorschlagen wollte. Zur Generalprobe hatte der Stückschreiber Studenten und in der METALL durch den Mund ihres Chefredakteurs Jakob Moneta politisch intressierte Arbeiter aufgerufen, die Inszenierung des Ensembles anzusehn und mit den Teatermachern zu erörtern. Nicht nur der Stalinkritiker Trotzki hatte Anklam zur Fahrt an den GründgensPlatz gelockt, sondern mehr noch die frische Erinnerung an Viktors Arbeit bei Peter Stein, das VietnamStück des gleichen Peter Weiss, mit dem sie in München die Kammerspiele gegen den VietnamKrieg und die Notstandsgesetze aufgescheucht hatten.

    In dem frisch getünchten und gepolsterten Teatersaal war von tausend erwartungsgespannten Neugierigen zu erleben gewesen, wie eine kleine Gruppe von jungen Leuten es schaffte, durch die Forderung nach Diskussion noch vor der Aufführung – die von Peter Weiss mit guten Gründen verweigert, ans Ende der Vorstellung verwiesen wurde – durch Pfeifen, Gejohle, Gelächter die beginnende Darstellung der Schauspieler akustisch zu zerfetzen. Die auf der Bühne und um das Regiepult in der Mitte des Zuschauerraums ließen sich durch die Zerstörungswut der lärmenden Vergewaltiger nicht davon abbringen, das Ergebnis ihrer Probenarbeit dennoch vorzuführen mit der sich steigernden Gegengewalt ihrer geschulten Stimmen. Vergeblich. Ein konzentriertes Zuhören wurde unmöglich, die Schauspieler schrieen unverständlich, ihre Bewegungen flatterhaft, unbeherrscht, die Handlung zerrissen in unzusammenhängende wirre Momente – es wurde nicht mehr gespielt, vorgestellt, es wurde gekämpft mit verzerrten Gesichtern, gekämpft um das Recht des Teaters, an der Welterforschung der Erdbewohner teilzunehmen.

    Am Rand der Bühne der hochgewachsne Autor mit beschwichtigenden Gesten. Er erschien Anklam wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, der nicht verstand, weshalb die Mühlen vor seinen berechtigten Streichen nicht wichen. Obwohl er wissen musste, dass am Vorabend Hundertschaften mit Hunden und Wasserwerfern dem kostbaren Bürgertum der Landeshauptstadt den Weg durch die ApO in Büchners hundertfünfzig Jahre abgehangnes Revolutionsstück freigeräumt hatten, mit dem der teure Tempel zeitgemäß eingeweiht werden sollte. Und wurde. Die ausgesperrte Wut und Enttäuschung der Demonstranten kochte am Morgen auf gegen ihren Verbündeten, den Autor des neuen Umwälzungsteaters. Den schützte die Staatsmacht nicht, der hätte auch sicher von ihr eher Zensur als Unterstützung erwartet und ging vermutlich mit seinem Stück lieber unter im Toben der durchgeknallten Kunststürmer, als die im Polizeigriff abführen zu lassen.

    Warum aber war er allein geblieben in dem Wirbel, warum hatten ein Anklam und seine zwei Kölner Kollegen, die wirklich lernen wollten von den Einsichten und Ansichten des verfemten Russen wie die Mehrheit der Neugierigen, nicht handgreiflich und lautstark zur Verteidigung des Autors und ihrer eignen Intressen eingegriffen? Angst? Ausgeschlossen. Noch jetzt schürfte die Erinnerung sein Schuldempfinden auf. Die Fremdheit in dem von ihren Lebensbezirken so entfernten Kulturpalast muss der Grund gewesen sein ihrer Befangenheit. Auch in einer Kirche hätten sie sich nicht durch die voll besetzten Reihen zu den Krakeelern gedrängt und dadurch den Aufruhr noch verstärkt. Trotzdem hatte seine Abneigung gegen frische, grüne Literatur ihn den entusiastischen Leseempfehlungen des Freundes Jahre hindurch widerstehen lassen.

    Seit diesem unabsichtlichen Gang vom Arbeitsamt zum benachbarten Teatergebäude liegt das grau kartonierte Buch des niedergeschrienen Autors auf dem Lektron am Fenster der Reisholzer Zweizimmerwohnung des geschassten Vorsitzenden. Für Anklams Psyche nun eine Auffangstellung, ein handfester Beweis des schöpferischen Trotzes seines Verfassers, da er in den Jahren seit der Zerstörung seines Stückes auf der Düsseldorfer Bühne den viel größeren Felsen seiner Ästhetik des Widerstands in die gelangweilte westdeutsche Gesellschaft gestemmt hatte. Das wurde ihm jetzt ein forderndes Vorbild, ein rezeptfreies Stärkungsmittel, dem er täglich mit wachsender Lust und Faszination zusprach. Es war ein langsames, sich seitenweis steigerndes Begreifen der brüderlichen Nähe des herben Dichters und seiner dem Lesenden verwandten Gestalten. Der Gedanke bildete sich, dass ihm mit diesem Buch, dem aus ihm in der Ichform sprechenden Autor, ein GesprächsFreund für den in Griechenland erneut verschollnen Viktor geschenkt wurde, der ihm nun aber nicht mit surrealen Versen von griechischen KaZetInseln eine weit entlegene Kampf- und Leidensgeschichte zu erklären versuchte, sondern die ebenso unbekannte, verschwiegne der deutschen Klassenbrüder aus der Zeit des braunen Terrors. Eine strenge ernste Sprache

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