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Fußball spielt Geschichte: Das Wunder von Bern
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Fußball spielt Geschichte: Das Wunder von Bern

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Ungarn und Deutschland stehen sich neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Fußballfeld gegenüber - 90 Minuten, die das Schicksal beider Nationen nachhaltig bestimmen. Mit einem Sieg bei der WM erhofft man sich in Ungarn ein Ende des Stalinismus und wirtschaftlichen Aufschwung. Am 5. Juli 1954 - am Tag danach - gibt es die ersten Unruhen, das Vorspiel zu 1956. Auch die DDR will - vorab auf dem grünen Rasen - den Sieg des Sozialismus gegen den Kapitalismus feiern. Doch nach dem 3:2 durch Helmut Rahn schweigt der Radioreporter Wolfgang Hempel 20 bange Minuten lang. Die junge Bundesrepublik befindet sich, nicht nur wirtschaftlich, in einer Depression. Die Adenauer-Regierung buhlt um internationale Anerkennung. Ein Sieg ist politisch nicht nur nicht gewünscht und "zum Glück" auch nicht zu erwarten ... Dem Wunder von Bern folgt in Deutschland dann das Wirtschaftswunder!
LanguageDeutsch
PublisherBeBra Verlag
Release dateMay 29, 2013
ISBN9783839301043
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    Book preview

    Fußball spielt Geschichte - Peter Kasza

    Danksagung

    1 | Anstoß

    3:2 – Der Titel von Fritz Walters Buch beschränkte sich auf das Notwendige – und er ließ nichts offen. 3:2 – so gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im WM-Endspiel am 4. Juli 1954 in Bern. 3:2 – und niemand hatte es erwartet. Für die Experten waren die Deutschen höchstens Außenseiter. Erst seit 1950 durften sie wieder international mitspielen und sie hatten es mehr schlecht als recht getan; durch die WM-Qualifikation hatten sie sich geschleppt, in der Vorrunde des Turniers 3:8 gegen Ungarn verloren und erst im Viertel- und Halbfinale des Turniers hatten sie wirklich überzeugt.

    2:3 – Ein Buch, das in Ungarn niemand schreiben wollte – auch dieser Titel hätte nichts offen gelassen. 2:3 – so verlor die ungarische Fußball-Nationalmannschaft im WM-Endspiel am 4. Juli 1954 in Bern. 2:3 – und niemand hatte es erwartet. »Goldene Mannschaft« nannte man sie. In 32 Spielen in Folge ungeschlagen, über vier Jahre lang; Olympiasieg in Helsinki; das Jahrhundertspiel in Wembley gewonnen; die Deutschen in der Vorrunde abgefertigt. Ungarn war der größte Favorit aller Zeiten. Und nun das … Deutschland war Weltmeister. Ungarn war nichts.

    Rein sportlich war das von der deutschen Warte aus gesehen höchst erfreulich und von der ungarischen aus mehr als betrüblich. Doch die Bedeutung des Endspiels von Bern ging über den rein fußballerischen Aspekt hinaus. Der Sieg wurde zum gesamtgesellschaftlichen Wunder, die Niederlage zur Katastrophe – einige würden an dieser Stelle anfügen: »verklärt«.

    Tatsächlich geht es um Mythenbildung, wenn das »Wunder von Bern« das deutsche Bewusstsein berauscht, und der Einfachheit zuliebe wird die Realität gerne ein bisschen zurechtgestutzt. Da heißt es schon mal, dass ohne das »Wunder von Bern« das Wirtschaftswunder vermutlich später eingesetzt hätte, wenn es denn überhaupt gekommen wäre – als ob ein gewonnenes Fußballspiel das Bruttosozialprodukt in die Höhe treiben könnte. Vom »eigentlichen Gründungsakt der Bundesrepublik« ist da schnell die Rede – als ob ein Fußballspiel das Fundament eines Staates sein könnte. Wenn man beim Historiker Joachim Fest nachfragt, ob er diesen ihm zugeschriebenen Satz wirklich so gesagt hat, dann winkt er ab. Was er einmal in einer Fernsehsendung gesagt habe sei, dass es drei Gründungsväter der Republik gegeben habe: Adenauer im politischen, Erhard im wirtschaftlichen und Fritz Walter im mentalen Bereich. Das ist natürlich etwas anderes und damit kommt man dem Kern der Ereignisse von Bern ziemlich nahe: Mental ist das entscheidende Stichwort, sowohl für Deutschland, als auch für Ungarn, wiewohl sich das magische Dreieck Politik, Volk und Sport nicht auseinanderreißen lässt. Wenn Fußballmannschaften auf internationaler Ebene gegeneinander antreten, dann finden sich ganze Nationen hinter ihren Teams zusammen. »Wir haben gewonnen«, heißt es dann, oder »Wir haben verloren«.

    Politisch waren die Spiele der deutschen und der ungarischen Mannschaft bereits vor dem Endspiel von Bern. Wenn Deutschland auf Frankreich oder auf Jugoslawien traf, dann traf es auf eine Nation, der sie während des Krieges Ungeheuerliches angetan hatte. Wenn Ungarn auf Österreich traf, dann fand die Rivalität der k. u. k.-Zeit ihre subtile Fortsetzung. Nur die politische Klasse selbst ging in beiden Ländern auf ganz unterschiedliche Weise mit dieser Rolle um. In Deutschland leugnete man von Seiten der Politik zwanghaft jegliche politische Bedeutung des Sportes – in Ungarn wurde der Sport am Volk vorbei zum Zeichen der Überlegenheit eines ganzen Gesellschaftssystems stilisiert. Woher diese Unterschiede in der politischen Bewertung? Welche Rolle nahmen die Mannschaften in beiden Gesellschaften ein?

    Es war der Kalte Krieg, der das Schicksal beider Nationen bestimmte. Ihre neuen Gesellschaftsordnungen hatten beide nicht aus freien Stücken gewählt, sie wurden ihnen von den Alliierten vorgegeben: die kommunistische auf der einen, die demokratische auf der anderen Seite. In Ungarn war es bald der pure Hass auf den stalinistischen Terrorstaat, in Deutschland eine apolitische Reserviertheit der ungewohnten Demokratie gegenüber, die auf ganz gegensätzliche Weise die Entfremdung zwischen Staat und Volk kennzeichneten. Die Nationalmannschaften nahmen in beiden Ländern eine Mittlerposition ein.

    Die Spieler um ihren Kapitän Ferenc »Öcsi« Puskás waren so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen stalinistischem Regime und ungarischem Volk – eine Art nationaler Kitt. Auch wenn die Partei die Fußballer als Waffe im Propagandakrieg nutzte – die Menschen standen zu ihren Jungens. Die Siege der Mannschaft waren auch ihre Siege, sie sorgten für Selbstbewusstsein und für Augenblicke nationaler Zusammengehörigkeit. In Bern war dieser Kitt mürbe geworden: Nach dem Schlusspfiff brach sich die Wut des Volkes Bahn. In Ungarn kam es zu den ersten Ausschreitungen, seitdem die Kommunisten die Herrschaft inne hatten – und sie fielen in eine Zeit, da bereits ein Machtkampf zwischen Stalinisten und Reformern in der kommunistischen Partei brodelte. Die Niederlage im Fußball war der Auslöser, die Ursachen lagen tiefer: Die Proteste richteten sich gegen die Stalinisten um Parteichef Mátyás Rákosi – und sie waren das Vorspiel zum Volksaufstand zwei Jahre später.

    So wie die ungarische Mannschaft nach der Niederlage in Bern ihre Funktion als Vermittler eingebüßt hatte, so manifestierte sich diese Rolle in Deutschland erst nach dem Sieg der Fußballer um Fritz Walter. Der Weltmeistertitel bescherte den Menschen ein Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit und auch der Identifikation mit ihrem Staat. Weniger neues Selbstbewusstsein, als viel mehr ein neues Bewusstsein von sich selbst hätten die Deutschen bekommen, urteilt Joachim Fest. Dass es etwas anderes war als die plumpe Wir-sind-wieder-wer-Floskel, das bestätigen auch die anderen für dieses Buch befragten deutschen Zeitzeugen.

    Um die Bedeutung dieses Endspieles für beide Nationen zu begreifen, um die völlig unterschiedlichen Erwartungen an die Mannschaften zu verstehen, muss man ihre Entwicklung vor dem Hintergrund der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften sehen. Vergleicht man sportliche und gesellschaftliche Tendenzen jener Jahre, so wird deutlich, auf welch unterschiedliche Weise Fußball Geschichte spielen kann.

    Die Reportagen des Endspiels sind in beiden Ländern zu Legenden geworden – »Kinder, ist das eine Aufregung. Ihnen an den Lautsprechern wird es genauso gehen, wie den 30.000 Schlachtenbummlern, die sicherlich aus Deutschland wieder hergekommen sind, und wie uns drei, vier Leuten in der engen Rundfunkkabine. Wir haben heute übrigens die beste Rundfunkkabine. Zum ersten Mal, aber auch begründet, denn wir sind ja auch im Endspiel … schön«, freute sich Herbert Zimmermann zu Beginn der Übertragung, während der kleine Hans-Christian Ströbele in Marl, Westfalen, in Richtung elterlicher Wohnung eilte: »Ich war etwas zu spät, als ich durch die Straßen unserer kleinen Werkssiedlung rannte, vorbei an all den offenen Fenstern. Das Endspiel hatte schon begonnen und aus jeder Wohnung hörte ich die Stimme meines Onkels. Ich war natürlich wahnsinnig stolz, weil mein Onkel ein so berühmter Rundfunkreporter war«, erzählt Ströbele, heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Der Onkel erzählte seinem Neffen später, dass er es nicht unbedingt als dankbare Aufgabe empfunden habe, ein Spiel zu übertragen, in dem Deutschland sowieso verlieren würde. Deshalb habe er sich schon vorher überlegt, was er sagen könnte – und so stapelte er gleich zu Beginn der Reportage permanent tief: es sei ja schon ein großer Erfolg, dass man ins Endspiel gekommen sei. Zimmermanns schnarrende Stimme gehört zum auditiven Repertoire einer Generation: von einem pädagogischen »Was wir befürchtet haben, ist eingetreten« nach der frühen Führung der Ungarn über ein dankbar geschrieenes »Toni, du bist ein Teufelskerl. Toni, du bist ein Fußballgott« nach einer Glanzparade des deutschen Torwarts und einem vorsichtig selbstbewussten »Ja, also liebe Ungarn, jetzt müssen wir sagen: Jetzt habt ihr Glück gehabt«, kurz vor der Halbzeit, als beinahe die Führung für die Deutschen gefallen wäre, bis hin zu »Toooor! Toooor! Toooor! Toooor!« und »Aus! Aus! Aus!« Die Reportage ist ein Glanzpunkt – und sie ist ein Spiegelbild der deutschen Seele der fünfziger Jahre: Zimmermanns Betonen, es handle sich nur um ein Fußballspiel, sein Enthusiasmus und die auf dem Fuße folgende Entschuldigung dafür.

    Der ungarische Nationaltorhüter Gyula Grosics beim »Jahrhundertspiel« im Wembley-Stadion, das die Ungarn 6:3 gegen England gewannen.

    »Die Hymnen sind verklungen, in Kürze beginnt das große Endspiel. Nach langen Wochen aufregender Spiele treffen heute noch einmal die ungarische und westdeutsche Auswahl aufeinander, um herauszufinden, wer der Beste ist. Bisher hat bei den vier stattgefundenen Weltmeisterschaften zwei Mal Uruguay und zwei Mal Italien gewonnen. Wie es heute auch ausgehen wird – es wird ein neuer Name sein, der in den Rimet-Pokal eingraviert werden wird«, so begann der ungarische Kommentator György Szepesi seine Reportage – und dass Ungarn als Sieger vom Platz gehen würde, daran zweifelte der Reporter genauso wenig, wie der Rest der Nation. »Szepesi gehörte mit zur Goldenen Mannschaft«, sagt der Schriftsteller György Dalos, der das Spiel damals als Zwölfjähriger in einem Lungensanatorium mit 20 anderen Jungens angehört hatte. »Seine Reportagen waren in romantischem Stil gehalten, mit sehr vielen Emotionen.« Von seinem jovialen »Na, jetzt ist alles in Ordnung« nach dem frühen 2:0 über ein flehendes »Jungens aufpassen! Ruhig spielen! Wir haben noch Zeit! Wir müssen dieses Spiel gewinnen!« nach dem deutschen Ausgleich und über ein: »Es ist schwer, sehr sehr schwer. Wer hätte gedacht, dass die Deutschen einander die Bälle so gut zuspielen. Mit ihrer Stürmerreihe machen sie (…) die ungarische Verteidigung verrückt« kurz vor der Halbzeit, bis hin zum weinenden »Liebe Hörer, Rahns Schuss ist drin, in der rechten Ecke, sechs Minuten vor Schluss. (…) Die Jungens stehen zusammengebrochen da. Die Menge schreit. Sechs Minuten noch. Blendend hat die ungarische Mannschaft gespielt. Ich kann nichts anderes sagen. Meine Tränen fließen, aber glauben sie mir, dass die Jungens alles gegeben haben.« Szepesi sprach 90 Minuten ununterbrochen – mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs. Er schrie, er haderte mit dem Schicksal – und im nächsten Satz analysierte er treffend die Fehler der ungarischen Hintermannschaft. Er lobte die Deutschen: wunderbaren Fußball würden sie spielen, aus dem Lehrbuch – so wie seine Reportage. würden sie spielen, aus dem Lehrbuch – so wie seine Reportage.

    Die beiden Reporter synchronisierten das Wunder und die Katastrophe. Auszüge ihrer Reportagen führen als Roter Faden jeweils zu Beginn der Kapitel durch dieses Buch – denn die Nachkriegsentwicklungen der Nationalmannschaften und der Nationen – sie folgten der gleichen Dramaturgie wie das Endspiel von Bern.

    Und noch ein Reporter war live dabei: Wolfgang Hempel, der Kommentator des DDR-Rundfunks. Seine Reportage klang etwas reservierter: »Hallo liebe Fußballfreunde in Deutschland. (…) Der große Tag ist da. Der Tag des Fußballendspiels der Fußballweltmeisterschaft 1954. In dieser Sekunde hat Schiedsrichter Ling aus England das Spiel angepfiffen. Das letzte Spiel nach 25 Auseinandersetzungen soll nun den Besten der Fußballweltmeisterschaft 1954 ermitteln. Ungarn gegen Westdeutschland, das ist diese Paarung (…) im restlos ausverkauften Berner Wankdorfstadion.«

    Das war der Auftakt für einen Seiltanz. Hempel durfte nur von der westdeutschen Mannschaft sprechen, keinesfalls von der deutschen – Anweisung von oben. Mit dem Klassenfeind wollte sich die offizielle DDR nicht gemein machen und drückte die Daumen für den sozialistischen Bruderstaat. Die Bevölkerung hielt allerdings aus nationaler Verbundenheit eher zu ihren westlichen Landsleuten. So saß Hempel zwischen allen Stühlen – und kommentierte mit objektiver Begeisterung.

    Wie die DDR in der Zeit, da sich die Teilung Deutschlands auf Dauer manifestierte, mit dem Spiel umging, das ist ein eigenes Kapitel wert. Denn auch hier spielte Fußball Geschichte.

    2 | Dribbeln und Demokratie – Ungarn nach 1945

    »Unser Napoleon, unser Feldherr« –

    Ferenc Puskás, der Krieg und der Fußball

    Das erste Nachkriegstor der ungarischen Fußball-Nationalmannschaft hatte ziemliche Symbolkraft: just in jenem freudigen Moment platzte der Ball. Es war in der 18. Spielminute an einem sonnigen Budapester Augustnachmittag im Jahr 1945, als Ferenc Rudas den fälligen Foulelfmeter mit derartiger Gewalt in die rechte österreichische Torecke beförderte, dass der Nachkriegsflickenball zerbarst.¹ Am darauf folgenden Tag fanden sich erneut 42.000 Zuschauer im Budapester Stadion ein, denn da traten die Ungarn gleich noch einmal gegen Österreich an. Das war in gewisser Weise typisch für die Nachkriegszeit: wenn irgendetwas zu haben war – Kartoffeln, Brennholz, österreichische Fußballer – nahm man so viel mit, wie eben ging. Nun spielten Österreich und Ungarn also innerhalb von 24 Stunden gleich zweimal gegeneinander und als die Fußballsachverständigen auf den Rängen immer noch sinnierten, wie dieses erste Nachkriegstor vom Vortag wohl zu deuten sei, da passiert das eigentlich Zukunftsweisende: Denn an diesem 20. August lief erstmals der etwas zu kurz und etwas zu dick geratene 18-Jährige auf, dem bei dieser Gelegenheit nach eigenem Bekunden vor Aufregung die Knie zitterten, wie später nie wieder in seinem Leben. »Öcsi« nannten sie ihn damals, »Öcsi« nennen sie ihn noch heute, wenn sie von ihm sprechen. »Kleiner Bruder« heißt das. Auf dem Spielfeld zitterte der kleine Ferenc Puskás dann nicht mehr, vielmehr wirbelte er und schoss und traf. Das erste Mal. Das erste von 83 Toren in 84 Spielen für die ungarische Nationalmannschaft.

    »Er war unser Napoleon, er war unser Feldherr«. Rundfunkkommentator György Szepesi bemüht gerne militärisches Vokabular, wenn es um Fußball geht und er fügt mit Stolz hinzu: »Es war auch meine Premiere. Puskás’ erstes Tor, war auch mein erstes Tor. Das erste, das ich jemals im Rundfunk übertragen habe.« Über 300 Mal ließ Szepesi in der Folge die ungarische Mannschaft in ungarischen Wohnzimmern auflaufen – auch dann noch, als Puskás’ Zeit längst vorbei ist. »Er war«, sagt Szepesi über Puskás, »der wichtigste Spieler der Goldenen Mannschaft.«

    An besagtem 20. August 1945 sprach man noch nicht von Goldener Mannschaft, und während Öcsi sich für die Nation auf dem Rasen mühte, war sein Freund József »Cucu« Bozsik zum Zusehen verdammt. Zwei entbehrungsreiche Jahre musste er noch warten, bis sie auch ihn ins Team der Besten beriefen, bis auch er in der Nationalmannschaft mit seinem Freund zusammenspielen konnte, so wie damals in Kispest, wo alles anfing:

    »Unser Napoleon, unser Feldherr« – Ferenc Puskás, der Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft. (Privatarchiv Moritz Rapp)

    »Zwei halbwüchsige Jungen stehen einander gegenüber. Einer hält die Hände hinter dem Rücken und legt einen Kieselstein von einer Hand in die andere. Plötzlich bleibt der Kiesel in der linken Hand liegen, die Arme schnellen vor und legen sich übereinander. – ›Wähle!‹

    Der andere spricht kein Wort, sondern schlägt auf die ihm entgegengestreckte rechte Faust. Sein Partner lacht voll Schadenfreude: ›Nichts! Ich wähle zuerst … Puskás!‹ ruft er, worauf ein schmächtiges Bürschchen sich hinter ihn stellt. Das Gesicht des anderen verfinstert sich für einen Augenblick, leuchtet dann aber um so heller auf: ›Bozsik!‹ – ruft er voller Triumph.

    Ein kleiner blauäugiger, schwarzhaariger Strubbelkopf stellt sich sofort hinter ihn.«² So war das damals beim AC Kispest mit Öcsi und Cucu, 1938, im Jahr der Weltmeisterschaft in Frankreich – oder wenigstens stellte sich das der Journalist István Csillag im Nachhinein so vor, 1954, im Jahr der Weltmeisterschaft in der Schweiz. 16 Jahre liegen zwischen den beiden aufeinanderfolgenden Weltmeisterschaftsteilnahmen Ungarns. 16 Jahre, in denen sich Ungarn von einem rechts-autoritären in einen stalinistischen Staat wandelte. 16 Jahre, in denen sich der ungarische Fußball stetig entwickelte. 16 Jahre, in denen die Goldene Mannschaft geboren wurde. 16 Jahre, von einer Silbermedaille bis zur nächsten. Und natürlich ging es in beiden Weltmeisterschaftsfinals mehr als nur um Fußball.

    Damals, 1938, rechnete man in Ungarn mit einiger Vermessenheit damit, den Weltmeisterschaftstitel zu holen, was nach allgemeiner Ansicht nur recht und billig gewesen wäre, ging es nach all den politischen und wirtschaftlichen Rückschlägen doch gerade wieder ein Stückchen bergauf. »Sieger in der Niederlage« nennt Paul Lendvai sein Buch über die ungarische Geschichte und der Titel verleiht dem grundsätzlichen Gefühl der Ungarn Ausdruck, immer schon von der großen weiten Welt verraten, im Stich gelassen oder als Spielball missbraucht worden zu sein. »Wir können uns besser an verlorene Schlachten erinnern, als an gewonnene. Das geht schon seit 1526 so«, sagt der Schriftsteller Péter Esterhazy auf die Niederlage gegen die Türken anspielend und zitiert schmunzelnd die letzte Strophe der ungarischen Nationalhymne: »Für Vergangenheit und Zukunft hat dieses Volk schon gesühnt…« Armes Ungarn. Im Laufe der Zeit hatte der »Verrat« Ungarn politisch ziemlich kastriert und die Wut über den »Verrat« war bald der Angst gewichen, von der großen weiten Welt mit Gleichgültigkeit behandelt zu werden – und das war

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