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Stimmen im Wald: Kriminalroman aus der Eifel
Stimmen im Wald: Kriminalroman aus der Eifel
Stimmen im Wald: Kriminalroman aus der Eifel
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Stimmen im Wald: Kriminalroman aus der Eifel

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About this ebook

Niemand im Dorf nimmt Michel Frings ernst, wenn er auf der Suche nach dem Luchs die Wälder der Eifel durchstreift. Als er eines Morgens tot auf einer Lichtung gefunden wird, wundert es niemanden, dass das Herz des alten Sonderlings aufgehört hat zu schlagen. Sein Bruder Jo reist zur Beerdigung an. Im Gegensatz zu Michel hat er das Dorf schon früh verlassen und im Ausland Karriere gemacht. Schon bald stolpert er über Ungereimtheiten, über wohlgehütete Dorfgeheimnisse, über Eifersucht und Betrug, und er beginnt zu ahnen, dass der Tod seines Bruders alles andere als ein Unfall war. Wer einmal gemordet hat, der wird es vielleicht schon bald ein zweites Mal tun. Das weiß Jo, aber er ist viel zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Geheimnis zu bewahren, als dass er die tödliche Gefahr erkennt, die sich ihm langsam aber stetig nähert.
LanguageDeutsch
Release dateJul 13, 2012
ISBN9783954410682
Stimmen im Wald: Kriminalroman aus der Eifel
Author

Ralf Kramp

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-­Literatur-Festivals. Seither erschienen zahlreiche Kriminalromane und Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-­Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. Im Jahr 2023 wurde er mit dem Ehren-­Glauser für »herausragendes Engagement für die deutschsprachige Krimi­szene« ausgezeichnet.

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    Stimmen im Wald - Ralf Kramp

    schweigen)

    1. Kapitel

    Es schien einer von den guten Tagen zu werden. Die Luft war hier, im Schatten des Waldes, der an die Wiese grenzte, taufeucht und kühl. Michel hatte keine Kopfschmerzen, sein Frühstück hatte nur aus einer Tasse Tee und einem Apfel bestanden.

    Er fühlte sich stark und unternehmungslustig. Seine Schritte waren fest. Das hohe, nasse Gras strich ihm über die Stiefelschäfte und die Cordhose, die ersten Sträucher kratzten über die dunkelgrüne Haut der Wachsjacke. Über ihm griffen die ersten Äste ineinander.

    Heute würde er keine Stimmen hören. Die Stimmen kamen nur in der Dunkelheit. Ein wenig so, als scheuten sie sich davor, am helllichten Tag Kontakt zu ihm aufzunehmen.

    Er blieb stehen und sah sich um. Unten aus dem Dorf war die Melodie der Kirchenorgel zu hören. Jetzt setzte auch der Gesang ein. Ein auffrischender Wind trug die Töne fort, ließ sie verblassen. Im Osten hing fern über der Nürburg ein graues Wolkenband, das sich langsam entfernte. Der Aremberg im Norden glänzte bereits golden. Die Morgensonne ließ die Konturen des Waldes schärfer hervortreten.

    Dort unten sangen sie, die Philister, die Scheinheiligen, die glaubten, dass sie mit einer läppischen Sonntagsmesse all ihre Schuld und all ihr Versagen wieder glatt bügeln konnten. Michel Frings schnaufte verächtlich. Sie waren ihm zuwider. Die Menschen, das ganze Dorf … Vor seinen Augen fanden sie keine Gnade.

    Schroff wandte er sich wieder um und folgte dem kleinen Pfad zwischen den Buchenstämmen hindurch. Es war nicht viel mehr als eine kleine Spur durch den Laubteppich, die nur er sehen konnte. Bald würden hier wieder Horden von Pilzsammlern einfallen. Das große Waldgebiet zwischen Schlehborn, Flesten und Leudersdorf war sehr beliebt bei dieser rücksichtslosen Bande. Ein paar hundert Meter weiter in Richtung Leudersdorf gab es einen Wanderparkplatz, auf dem sie ihre Autos abstellten und mit ihren Körben und Hunden aufbrachen, um sich zu nehmen, was ihnen nicht gehörte. Manchmal konnte er auch in der Nacht die Lichter der Autos sehen, die dort oben stundenlang parkten und in denen sich die Liebespärchen ihren schmutzigen, kleinen Vergnügungen hingaben. Nicht, dass er es ihnen missgönnte! Es ekelte ihn nur an, dass sie es im Versteck tun mussten, weil die Leute aus den Dörfern sie zu dieser schäbigen, lichtscheuen Heimlichkeit zwangen.

    Er sah am Wochenende oft Heerscharen von Wanderern mit merkwürdigen Skistöcken, er beobachtete die Waldarbeiter, die den Wald »aufräumten«, die mit schwerem Gerät, mit Lärm und Gestank alles sauber und geordnet gestalteten – so wie ein Wald auf keinen Fall sein sollte.

    Keiner von all denen liebte den Wald so sehr wie er. Keiner hörte die Stimmen, mit denen das Laub zu ihm sprach, mit denen die Regentropfen ihm ihre sanften Geschichten erzählten, mit denen die Tiere ihn zu einem der ihren erklärten.

    Keiner von all denen hatte jemals das beobachtet, was er hatte beobachten dürfen. Und wenn der Zufall ihnen die Gelegenheit gegeben hätte, hätten sie nicht erkannt, was sie sahen, hätten nicht begriffen, welches kostbare Geschenk ihnen in diesem Moment gemacht wurde.

    Er selbst würde alles dafür geben, diesen Anblick nur noch ein einziges Mal zu erleben. Das große Tier, das ihm ganz ohne Scheu einen langen Blick geschenkt hatte, bevor es sich ruhig entfernt hatte.

    Das erste Zeichen tauchte auf. Michel Frings legte die flache Hand auf die rissige Oberfläche des Baumstamms. Ein bisschen Farbe, das machte den Bäumen nichts. Er reckte das Gesicht nach oben. »Nicht wahr, das macht dir nichts«, brummte er und erschrak darüber, wie rau seine Stimme klang. Er sprach zu wenig, zu selten.

    Seine Linke griff nach der olivfarbenen Umhängetasche, die von seiner Schulter baumelte. Er durfte niemals die Sprühdose vergessen. Er musste immer gerüstet sein, wenn es noch einmal geschah.

    Dreizehn Zeichen hatte er in den vergangenen Monaten gesprüht. Dort, wo er Fährten entdeckt hatte, bei denen er vermutete, dass es die richtigen waren. Dort, wo er angefressenes Aas gefunden hatte, bei dem er sich fast sicher war. Und natürlich dort, wo sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Die Zeichen leuchteten in einem grellen, giftigen Grün, und wenn er an die Stellen kam, spürte er die Sehnsucht stärker denn je.

    Hier war es gewesen.

    Michel Frings blieb stehen und hielt inne. Als jede Falte seiner Kleidung, seine Umhängetasche, seine Stiefel, als jede Faser seines Körpers erstarrt war, hörte er nur noch den Wald. Dann erlaubte er seinen Augen zu wandern. Langsam suchten sie die kleine Lichtung ab, wanderten nach rechts und links wie zwei Suchscheinwerfer und blieben stehen, wann immer sich etwas regte. Ein Zweig, ein kleines Tier, die Sonnenstrahlen der frühen Morgensonne, die durch das Laub drangen, das sich bereits verfärbte …

    »Wo bist du?«, fragte er leise und krächzend. »Warum versteckst du dich vor mir?«

    Unvermittelt raschelte es ganz dicht hinter ihm. Michel Frings’ Herz stolperte.

    Etwas knackte, etwas bewegte sich durch das Unterholz. Sein Herz schlug ein wenig schneller, geriet aus dem Takt. Sein Beutel schlug ihm um die Hüften.

    Was?

    Wer?

    Als er erkannte, woher das Geräusch rührte, packte ihn eine namenlose Enttäuschung. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Sein Herz schlug immer noch unregelmäßig.

    »Du«, knurrte er. »Du hier? Warum bist du nicht bei denen da unten?«

    Es kam wie ein Blitzschlag. Er fasste sich an die Brust. Ein Schmerz, den er nur allzu gut kannte, breitete sich aus. Frings wühlte in seiner Tasche. Farbdose, Fotoapparat … wo war nur … Papiertaschentücher … wo war denn nur, verdammt …? Er fand endlich das kleine Sprayfläschchen, das ihm augenblicklich Linderung bringen konnte, führte es zum Mund. Er durfte nicht zögern, das konnte ihn das Leben kosten. »Mich so zu erschrecken!«

    Mit der zitternden Linken zog er das Käppchen ab, der Zeigefinger der Rechten legte sich auf die winzige Pumpe, er führte die Öffnung zum Mund.

    Plötzlich schoss eine Hand nach vorne und schlug zu, erwischte seine verkrampften Finger, mit denen er die erlösende Dosis Nitrospray in seine Lunge pumpen wollte. Das Fläschchen wurde durch die Luft geschleudert und landete weit weg irgendwo im Laub.

    »Was soll das? Bist du …?« Er fuhr herum und suchte mit wirren Blicken die Lichtung ab. »Verdammt noch mal, das war …« Er fuhr herum. »Warum tust du das?«

    Und als Michel Frings den Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers sah, erkannte er, was los war. Plötzlich breitete sich alles mit bestechender Klarheit vor ihm aus. Er verstand in diesem Moment, was damals geschehen war und was unweigerlich hier und jetzt geschehen würde. Die Muskeln seines kranken Herzens zuckten unkontrolliert, gerieten völlig aus dem Takt, so wie vor einem Jahr schon einmal, als er bei einem heftigen Streit auf dem Dorfplatz zusammengebrochen war. Damals war sofort Rettung da gewesen, aber heute …

    »Du?« Er heftete die geweiteten Augen auf sein Gegenüber. »Natürlich. Du. Jetzt verstehe ich alles!«, sagte Frings ächzend, und obwohl sich ein glühender Schmerz durch seinen Oberkörper biss, zuckte es in seinen Mundwinkeln, und er zeigte den Anflug eines Lächelns. »Deshalb bist du also hierhergekommen. Deshalb bist du nicht unten und bettelst um Gnade. Du …«

    Es warf ihn von den Beinen. Sein Brustkorb brannte wie Feuer, der Schmerz schoss ihm in die Arme. Laub wirbelte auf, als er zusammenbrach.

    »Hilfe«, stieß er hervor. »Hilfe!« Und er wusste, dass er keine helfende Hand gereicht bekommen würde, dass sie ihm einfach nicht gereicht werden durfte.

    Über ihm tanzten die Baumkronen einen Totentanz. Er hörte ihre traurigen Stimmen, die Abschiedsworte flüsterten, sah undeutlich das leuchtend grüne Zeichen aus Farbe. Er sah eine Gestalt dicht neben ihm, sah ein ausdrucksloses Gesicht, er sah die diffuse Gestalt der Sonne, die sich ihren Weg hinauf in den Himmel bahnte, aber er sah nicht … ihn.

    2. Kapitel

    Die Kleine von Christa hatte Michel Frings gefunden. Zuerst hatte sie im Haus nach ihm gerufen. Wütend, mit Tränen in den Augen hatte sie seinen Namen gebrüllt und sämtliche Türen aufgestoßen. Dann hatte sie gesehen, dass seine Tasche nicht am Haken hing, und gewusst, wo er sich aufhielt. Im Stall hatte sie dann gar nicht mehr nachgesehen, sondern war gleich den Hang hinauf zum Waldrand gestapft. Sie hatte gespürt, wie ihr Zorn mit jedem Schritt schwächer wurde, wie die frische Luft durch ihren Kopf fegte und ihre hitzige Stimmung dämpfte. Dort oben im Wald hätte sie ohnehin nur leise mit ihm sprechen können. Etwas anderes duldete Michel nicht. Dabei hätte sie ihre Wut gerne laut herausgebrüllt. Sie mochte es nicht, dass Michel und ihre Mutter gemeinsame Sache machten, wenn es um die Schule ging. Es war nicht seine Aufgabe, ihr den Lebensweg zu erklären, den sie künftig zu beschreiten hatte! Er hatte sich da rauszuhalten, und das hatte sie ihm sagen wollen.

    Sie entdeckte seinen reglosen Körper auf der Lichtung, auf der er schon so oft mit ihr gestanden und gelauscht hatte. Seine Hände waren im Laub vergraben, sein Mund stand weit offen. Der Hut war Michel Frings vom Kopf gerutscht und lag neben ihm, das rote Bändchen der Lesebrille hatte sich beim Sturz über seine hohe Stirn gelegt wie ein blutiger Striemen.

    Die Kleine wusste sofort, was zu tun war. Sie stürzte auf die Knie und legte die Hand in seine Halsbeuge, dorthin, wo sein Puls hätte sein müssen – und fühlte nichts mehr. Sie überwand sich, die Lider seiner Augen, deren gebrochener Blick ins Blätterdach gerichtet war, zu schließen. Erst dann hatte sie begonnen, zu weinen.

    Als sie später ins Dorf zurückkehrte, war die Sonntagsmesse beendet, die wenigen Kirchgänger traten ins Freie und verteilten sich. Sie wartete, an die Kirchhofsmauer gelehnt, auf ihre Mutter, die auch unter ihnen gewesen war, so wie jeden Sonntag. Sie erschien auf den Treppenstufen, in ein angeregtes Gespräch mit einer Nachbarin verwickelt, und als sie zu ihr herüberblickte, schien sie gleich zu wissen, dass etwas geschehen sein musste.

    Wenig später wurde die Totenglocke von Schlehborn geläutet.

    Es gab niemanden, der Zweifel daran hegte, dass Michel Frings eines natürlichen Todes gestorben war, obwohl manch einer sich hatte vorstellen können, dass es einmal ein anderes, ein gewaltsames Ende mit ihm hätte nehmen können. Frings hatte ein Herzleiden gehabt, das wusste jeder, und er lebte allein, scherte sich nicht um das Dorf und seine Bewohner, beschimpfte jeden und machte um Ärzte grundsätzlich einen großen Bogen. Nur den Tierarzt ließ er zu den Kühen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

    Nelles, der Ortsbürgermeister, ersparte es der Kleinen nicht, in allen Details zu schildern, wie sie den toten Frings gefunden hatte. Seine bohrenden Fragen, was sie überhaupt auf dem Fringshof verloren habe und warum sie den alten Querulanten habe aufsuchen wollen, beantwortete sie nicht.

    Nelles schüttelte den Kopf, als hätte er eine unrettbar verlorene Seele vor sich.

    »Mädchen«, sagte er mit Grabesstimme, »wenn sich bei dir nicht bald was ändert …«

    »Was dann?« Ihre dunkelbraunen Augen funkelten ihn böse an.

    Anstelle einer Antwort seufzte er tief. Er hatte sich breitbeinig in der Mitte des Aufenthaltsraums hinter Christas Friseursalon aufgebaut und rieb sich das kräftige Kinn.

    »Schlimm genug, dass du ihn finden musstest. Was hast du auch immer verloren bei diesem …«

    »Lass sie in Ruhe, Nelles. Lass mein Kind in Ruhe!« Ihre Mutter hatte eine schlanke Flasche mit klarer Flüssigkeit aus dem Unterschrank der Spüle genommen und schüttete zwei kleine Schnapsgläschen voll.

    »Gib ihr auch einen«, sagte Nelles, bevor er den Inhalt hinunterstürzte. »Nur einen auf den Schreck.«

    Christa wollte gerade etwas Wütendes erwidern, aber ihre Tochter kam ihr zuvor: »Trinkt das Dreckszeug selber. Mit dir trinke ich sowieso nicht, Nelles. Mit dir nicht. Du willst ja nur anstoßen darauf, dass er endlich tot ist!« Es war, als spucke sie ihm die Worte vor die Füße.

    Er holte instinktiv mit der Hand aus, hielt aber im letzten Moment inne, sammelte sich mit geschlossenen Augen, atmete tief durch und ließ sich von Christa nachschenken. »Das wünsche ich keinem«, murmelte er tonlos. »Ich hab ihm nicht den Tod gewünscht. Glaub das mal bloß nicht.« Und leiser murmelte er: »Er sollte nur einfach weg.«

    Das Mädchen sprang auf und trat wütend gegen einen großen Karton, der in der Ecke stand. Die Pappe platzte an der Kante auf, und ein paar Plastikflaschen voller Haarspülung fielen heraus. Mit dumpf kollernden Geräuschen schlitterten sie über den Linoleumboden. Das Mädchen verließ den Raum zum Treppenhaus hin und knallte hinter sich die Tür so heftig zu, dass die Milchglasscheibe in der hölzernen Einfassung klirrte.

    »Was mache ich nur mit ihr?« Christa kniff verbittert die Lippen zusammen.

    »Dein Problem. Du hast die Zügel lange genug schleifen lassen. Die tanzt dir auf der Nase rum.« Als er ihr erneut das leere Schnapsglas hinstreckte, verschraubte sie wortlos die Flasche und stellte sie zurück unter die Spüle. Er knallte das Glas auf den Tisch mit der Kunststoffdecke.

    »Und jetzt werde ich versuchen, seinen Bruder aufzutreiben.«

    Christa bückte sich nach den Plastikflaschen. »Wird schwer genug sein.«

    »Hat sich beharrlich von dem armen Irren ferngehalten. Na, der wird sich bedanken.«

    Dr. Johannes Frings wirkte fehl am Platz. Wie ein Sturm wirbelte es um ihn herum. Die Schulkinder mit den gewaltigen Ranzen quetschten sich an ihm vorbei, stießen sich gegenseitig an und schrien und quiekten wie eine knallbunt angezogene Herde kleiner Ferkel, die aus dem Stall ausbricht.

    Er hielt in der geöffneten Tür des Nahverkehrszugs inne und ließ den Blick über den Bahnsteig schweifen. Die Kinder entfernten sich lärmend, und als ihre klappernden Schritte und ihre schrillen Stimmen verklungen waren, blieb nur ein einzelner, groß gewachsener Mann im schlecht sitzenden, schwarzen Anzug auf dem Bahnsteig zurück. Er stand beim Fahrkartenautomaten und guckte teilnahmslos vor sich hin.

    Frings trat auf den Bahnsteig hinaus, und nur wenige Augenblicke später schoben sich die Flügel der automatischen Tür hinter ihm zusammen. Der Zug fuhr an und entfernte sich mit elektrischem Surren in Richtung Trier.

    Auch Frings trug einen schwarzen Anzug. Die lange Reise hatte ihm nichts anhaben können. Gutes Tuch, teuer. Kaum Knitter, der dunkelgraue Mantel, der lässig über dem linken Arm hing, sah tadellos aus. Dr. Johannes Frings schien einem Hochglanz-Modemagazin für Business-Männer entstiegen zu sein. Der Jünkerather Bahnhof umrahmte ihn wie eine verschossene Fotografie aus den Achtzigern.

    Der Mann vom Fahrkartenautomaten zeigte keine Gefühlsregung, als er langsam ein paar schwerfällige Schritte auf den Neuankömmling zu machte. Frings setzte seine Aktentasche ab und ergriff eine große, grobe Hand. Er hatte dabei das Gefühl, ein Stück Holz anzufassen.

    »Guten Morgen … nein … guten Tag.« Die Stimme war rau. Der Mann hatte einen Akzent, den Frings nicht einordnen konnte. Etwas Osteuropäisches wahrscheinlich.

    Er sah auf die Uhr. Es war bereits halb eins.

    »Ja, nur zehn Minuten zu spät. Nicht mal schlecht.« Frings zeigte ein Lächeln. Seine Zähne waren makellos weiß. Weiß wie sein Kragen. Silbergraue Schläfen, dezentes Aftershave.

    Sein Gegenüber war trotzdem unbeeindruckt.

    »Nett, dass Sie mich abholen, Herr …«

    »Kein Gepäck?«, fragte der Mann kühl.

    »Nur meine Aktentasche. Wenn ich Ihnen erzähle, was mir passiert ist, dann …«

    »Wir müssen beeilen. Kommen zu spät.« Der andere drehte sich um und stapfte voran, den trostlosen Bahnsteig entlang, auf die Treppe der Unterführung zu.

    Frings rückte sich den Knoten seiner schwarzen Krawatte zurecht, während er fasziniert auf die Schuhe des Mannes starrte. Grobe braune Feldschuhe. »Die Sache mit dem Gepäck … also, die ist …«

    »Wagen steht auf Rückseite.« Sein slawisches Empfangskomitee schien offenbar überhaupt nicht an der abenteuerlichen Odyssee interessiert, die Frings zu erzählen hatte. Sie stiegen in den verkommenen Fußgängertunnel hinab, in dem es nach Urin stank und von der Decke tropfte.

    Die nächste Skurrilität erwartete ihn auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Bahngelände. Der Wagen war ein vergammeltes, altes Armeegefährt ohne Seitenfenster. Johannes Frings blieb stehen und fixierte ungläubig das rostfleckige Fahrzeug.

    Der Mann stand bereits an der Fahrertür und sagte lakonisch: »Auto von Ihrem Bruder. Anderes gibt’s nicht.« Er stieg ein und winkte mit der Hand. »Kommen zu spät!«

    Der Wagen fuhr schnell. Schneller jedenfalls, als Frings das erwartet hätte. Während sie an dem großen Gelände der Eisengießerei den Berg hinauf in Richtung Feusdorf rollten, brüllte der Motor heiser auf. Beim Umschalten der Gänge klang es, als stochere jemand mit einem Schraubenzieher in einem Ventilator herum.

    »Munga«, sagte der Mann.

    »Ein was?«

    »Munga. Alter DKW von Bundeswehr.«

    Das Auto, aha. Frings hatte nach einem Tier Ausschau gehalten.

    »Dreiundfünfzig Jahre.« Der Scheibenwischer verwandelte ein paar winzige Regentröpfchen in milchige Schlieren.

    »Ein Jahr älter als ich.« Frings versuchte, seinen Mantel zu bändigen, der immer wieder aus der Türöffnung flatterte.

    »Sonst nur noch Trecker. Der noch schmutziger. Nicht gut für feine Klamotten.«

    »Ich bin froh, dass ich schon den schwarzen Anzug anhabe. Sonst wäre er jetzt da, wo mein restliches Gepäck ist.«

    »Zurück kann Sie mit Trecker fahren … wenn Sie wollen.« Ein merkwürdiger Glanz in den Augen des Mannes verriet Frings eine Art Vorfreude auf den Tag, an dem er

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