Der wunde Punkt im Alphabet
By Anne Duden
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Der wunde Punkt im Alphabet - Anne Duden
Dorothea
O dolorosa sorte
Über die Musik Carlo Gesualdos (1560–1613)
Es scheint nur eine immer wieder schnell vorübergehende Ruhe zu geben, einen Moment fiebrig ausbalancierten Innehaltens in gemäßigteren Zonen, eine kurze hochempfindliche Kontenance, herbeigeführt und erkauft durch ein einziges Mittel: den mit größter Anspannung angehaltenen Atem.
Wo Aufruhr die Regel ist, wird lebenerhaltender Ausgleich, Dauer-Homöostase sich nicht einstellen. Mille volte il di moro – tausendmal am Tag sterbe ich. Also bisweilen mehrmals pro Minute, wenn man die Nacht nicht zum Tag rechnet. Die Klagelaute, Seufzer sind die Alarmsignale bei diesem Tagwerk, sie skandieren die Zeit – einmal unmerklich langsam schleichende, dann wieder ruckartig vorspringende Minutenzeiger eines Uhrwerks.
Bis an eine unerhörte Grenze ist, was je ausdrückbar schien, vorgerückt und vorgestoßen. Noch die Grenze selbst wird transparent, gibt sich plötzlich zu erkennen als das, was sie immer schon gewesen sein muss: eine dünne Haut, verwundbar, ja durchstoßbar. Einer großen vielköpfigen Leidenschaft ist immer auch ihr gefürchtetes oder wütend ersehntes Abkappen, Vertilgen, Auslöschen benachbart, ihr panikartig herbeigewünschtes, und sei es gewaltsames, Ende. Jeder Moment, auch noch der der Ruhe, überwach ausgehaltene, nie nachlassende Spannung; ein Durchqueren eines einzigen, wenn auch vielfältig geformten und sich stets neu formenden Geländes: des Schmerzes. Einer hat also wieder einmal Herzweh gehabt? Ein bisschen heftiger als andere vielleicht. Sodass auch seine Affekthandlungen heftiger ausfielen? Einer, der zudem Fürst war, Unterkönig, oft hoch zu Ross, leidenschaftlicher Jäger, Doppelmörder – auf seinen Besitzungen, jenseits der mit ihrem Körper arbeitenden Massen ganz Ohr und ganz Gespür für die Tragödien, die erst jenseits der Arbeit beginnen. O vos omnes – die ihr am Weg vorübergeht, beachtet und seht, ob es einen Schmerz gibt wie meinen Schmerz. Herzweh – auf hoher Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie. Nicht das jedoch bleibt Wirklichkeit und als solche haften, nicht die Geschichte ist unvergesslich, wohl aber der – zunächst jäh erscheinende – Ausdruck, seine auf einmal möglich gewordene, möglich gemachte Spannweite. Eine neu und anders aufgegangene Saat, Frucht einer Arbeit, die erst jenseits der der Körper beginnt und doch bedingungslos leibhaftig ist.
Durchdringend scharf und süß zugleich, vertraut und schneidend fremd in einem zwingen die Töne das Disparateste zusammen, werden die größtmöglichen Entfernungen nicht überbrückt, sondern kurzgeschlossen, werden Unterscheidungen schwergemacht, sind die Pole als einander Entgegengesetztes kaum noch zu orten. Ist nicht schon alles eins, ohne dass der Schmerz nachlassen würde? Wird er nicht, im Gegenteil, noch verstärkt?
S’io non miro non moro … Wenn ich nicht schaue, sterbe ich nicht, / ohne zu schauen lebe ich nicht; / also bin ich tot, und doch nicht ohne Leben. / O Wunder der Liebe, ah, seltsames Los, / dass lebendig sein nicht Leben, Sterben nicht Tod sein kann. Müdigkeit oder Mattheit – zur Erholung – setzen nie ein. Keine einzige dumpfe Sequenz, kein einziger stumpfer Augenblick. Die Stimmen haben die Körper, ihre garantierte Erdenschwere und Anziehungskraft, tief unter sich gelassen. Wahrnehmung von Schallwellen sehr viel höherer Frequenz – sonst einigen Tieren, besonders den kleinen, filigranartig gebauten, vorbehalten – scheint auf einmal möglich. Die Soprane vor allem könnten den knöchernen Kanal, den gesamten Schädelgrund zum Splittern und Bersten bringen, bevor sie zum Hörzentrum vordrängen. Man muss abschalten, dem Ultraschall des Schmerzes/der Liebe einmal ausweichen können. Verglichen hiermit scheint jeder andere Ton, auf lange Zeit, einer der Indolenz.
Eine Explosion hat stattgefunden in einem Zentrum, vielleicht schon weit vor der eigenen Zeit. Ein großes Gefühl, ein Kern ist dabei in die Luft gegangen, gewaltsam zerteilt und in alle Richtungen weggesprengt worden. Keiner weiß mehr, wo die Teile aufzusuchen, aufzufinden wären. Nur eine Art Wunde öffnet sich bisweilen, ein Loch wird spürbar, ein Mangel – im Allgemeinen.
Hier aber werden andere Saiten aufgezogen und andere Töne angeschlagen. Hier wird das Auseinandergesprengte unter größter Anstrengung aufgesucht und – die Schleuderweite der Explosionstrümmer in umgekehrter Richtung abmessend – auf größtmögliche Nähe zusammengezwungen. Es ist der unermüdliche und natürlich verzweifelte Versuch, die Kernzertrümmerung rückgängig zu machen, sie aufzuheben, die Teile wieder zu vereinigen. Auf immer vergeblich, auf ewig zum Scheitern verurteilt, und auch das weiß diese Musik noch und findet sich nicht damit ab. Sie hat und will keine Trostgebärden, will und kann nicht abwiegeln oder gar einwiegen.
Aus den entferntesten Weltgegenden werden die Sprengstücke mit der Federhantel des Schmerzes einander genähert, weiter und weiter, aufgeladen noch mit der flimmernden Tageshitze der Wüsten, den Gewittern der Kalmengürtel, der Kälte der Eiszonen und den Turbulenzen der Lüfte. Ein ungeheurer Druck presst sie zusammen, zwingt sie erregt auf ein Zentrum zu, um einen Ort herum, der einmal der Sitz des Kerns gewesen sein muss – heute ein totenstilles Nichts. Um dieses herum zittern, beben, vibrieren sie unter der Belastungsprobe der Zusammenkunft, leuchten flirrend bis in die Welträume, Töne nun, ohne je übereinzukommen.
Cosmè Tura, mehr als hundert Jahre früher geboren, Maler in Ferrara, hat in seinen Bildern, die Gesualdo vielleicht während seines Aufenthaltes am Hof von Ferrara sah, die auseinandergesprengten Teile, die Enden der Welt, in ihrer Vereinzelung dargestellt; die von einer früheren zu großen und daher unwiederholbaren Anstrengung stammende eherne Verzerrung der Gestalten, ihr unbewegtes Ausharren an Ort und Stelle. ermattend auf getrenntesten bergen.
Für die Innenseiten der Flügeltüren einer Orgel in Ferrara malte Cosmè Tura eine spröde, unterkühlte Verkündigung, die sichtbar wurde, wenn die Flügeltüren aufgeklappt waren, und deren heilige Teilhaber, Gabriel hier und Maria dort, dadurch zugleich auseinandergespreizt, auf Distanz gehalten wurden. Für die Außenseiten derselben Flügel malte er aber einen dramatischen Kampf Georgs gegen den Drachen; einen Kampf – nur sichtbar bei geschlossenen Flügeln –, bei dem die Jungfrau/Prinzessin/Frau flüchtet, eine Wahnsinnige – den Mann, das Untier flieht, den Kampf, der im Nu ein Vakuum erzeugt, ein schreckhaft und überstürzt verlassenes Dazwischen, verödetes Zentrum der Geschlechter.
Danach herrscht Ruhe und erschöpfte, bereinigte