Die Religion des Kapitals
By Paul Lafargue and Jean-Pierre Baudet
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Die Religion des Kapitals - Paul Lafargue
B.
DER KONGRESS VON LONDON
Die fortschreitende Ausbreitung sozialistischer Ideen beunruhigt die besitzenden Klassen Europas und Amerikas. Vor einigen Monaten sind daher Männer aus allen Teilen der zivilisierten Welt in London zusammengekommen, um gemeinsam zu beraten, welche Maßnahmen am besten dazu geeignet seien, das bedrohliche Umsichgreifen jener Ideen aufzuhalten. Unter den Vertretern des kapitalistischen englischen Bürgertums fielen Lord Salisbury, Chamberlain, Samuel Morley, Lord Randolph Churchill, Herbert Spencer und der Kardinal Manning auf. Bismarck, der durch eine akute Alkoholvergiftung verhindert war, hatte seinen vertraulichen Berater, den Juden Bleichroeder geschickt. Die großen Industriellen und die Geldgeber beider Kontinente, Vanderbilt, Rothschild, Gould, Soubereyan, Krupp, Dollfuß, Dietz-Monin und Schneider waren entweder persönlich anwesend oder wurden durch Männer ihres Vertrauens vertreten.
Noch nie hatten sich Männer so unterschiedlicher Gesinnung und Nationalität in einem derart brüderlichen Einvernehmen versammelt. Paul Bert saß an der Seite des Kardinals Freppel, Gladstone begrüßte Parnell, Clémenceau plauderte mit Ferry und Moltke unterhielt sich freundschaftlich mit Déroulède und Ranc über die Aussichten eines Vergeltungskriegs.
Die Angelegenheit, die sie zusammengeführt hatte, ließ sie ihre persönlichen Rachsucht, politischen Intrigen und patriotischen Eifersüchteleien vergessen.
Als erster ergriff der päpstliche Legat das Wort: »Man regiert die Menschen abwechselnd mit nackter Gewalt und mit so umsichtiger wie subtiler Ausübung der Macht. Früher war die Religion jene magische Macht, die über die Gemüter der Menschen herrschte: sie gebot dem Arbeiter, sich in Stille zu unterwerfen und lehrte ihn, für den Schatten der Beute diese selbst preiszugeben, sein irdisches Elend über den Traum von der himmlischen Glückseligkeit zu vergessen. Aber die Ideen des Sozialismus, der böse Geist der Neuzeit, treiben den Glauben aus den Köpfen der Menschen und nisten sich in deren verwaisten Herzen ein. Der Sozialismus verkündet das Paradies auf Erden und redet ihnen ein, dass das Glück nicht im Jenseits zu suchen sei. Er ruft ihnen zu: ›Man bestiehlt Dich, auf, erwache und erhebe Dich!‹ Er bereitet die einst so gefügige und duldsame Arbeitermasse auf einen allgemeinen Aufstand vor, der unsere zivilisierte Gesellschaft zerstören wird, indem die privilegierten Klassen entrechtet werden, die Institution der Familie aufgehoben und den Reichen genommen werden wird, um den Armen zu geben. Kunst und Religion werden vernichtet und über die Erde wird die Dunkelheit der Barbarei hereinbrechen ... Wie den Feind aller Zivilisation und allen Fortschritts bekämpfen? Bismarck, der Herrscher über Europa, der Nebukadnezar, der Dänemark, Österreich und Frankreich besiegte, wurde von sozialistischen Schustern und Schneidern geschlagen. Die Konservativen Frankreichs haben Paris ’48 und ’71 in ein großes Schlachthaus verwandelt und mehr Sozialisten niedergemetzelt als an St. Bartholomäus Ketzer getötet wurden, aber das Blut dieser gigantischen Schlachterei verwandelte sich in den Tau, der den Sozialismus in allen Ländern sprießen ließ. Jedes Blutbad bringt den Sozialismus noch mehr zum Blühen. Das Ungeheuer hat der brutalen Gewalt standgehalten. Was tun?«
Die Gelehrten und Philosophen der Versammlung, Paul Bert, Ernst Haeckel und Herbert Spencer, erhoben sich einer nach dem anderen und schlugen vor, den Sozialismus mit den Mitteln der Wissenschaft zu bändigen.
Der Kardinal Freppel zuckte die Achseln: »Aber es ist doch gerade Ihre verfluchte Wissenschaft, die den Kommunisten die stärksten Argumente liefert!«
»Mit Verlaub, die Naturphilosophie, die wir lehren, ist Ihnen unbekannt«, erwiderte Mr. Spencer. »Unsere wissenschaftliche Evolutionstheorie beweist, dass die Minderwertigkeit der Arbeiterklasse eine notwendige Folge der unveränderlichen und ewigen Gesetze der Natur und ebenso schicksalhaft wie das Gesetz der Schwerkraft ist. Wir beweisen außerdem, dass die Vorrechte der privilegierten Klassen die Folge besserer Anpassung sind und dass deren Mitglieder sich in einem Prozess der ständigen Vervollkommnung befinden und schließlich eine neue Rasse bilden werden. Die Menschen dieser Rasse werden in nichts jenen Bestien in Menschengestalt gleichen, die nur mit der Peitsche in der Hand zu regieren sind [...]«*
»Möge Gott verhüten, dass Ihre Evolutionstheorien jemals in der Arbeiterklasse bekannt werden. Sie würden sie in Wut versetzen, sie in Verzweiflung, der Anstifterin aller Volksaufstände, stürzen«, unterbrach ihn der Kardinal de Pressensé: »Tatsächlich aber sind Sie sehr naiv, meine Herren Weisen der Verwandlungslehre, wie können Sie ernsthaft glauben, dass man Ihre desillusionierende Wissenschaft dem verführerischen Zauber der sozialistischen Ideen entgegensetzen kann, die den auf diese Weise verhexten Arbeitern Träume von Gütergemeinschaft und freier Entwicklung aller individueller Fähigkeiten vorgaukelt? Wenn wir unsere Privilegien behalten und weiterhin auf Kosten derer, die arbeiten, leben wollen, dann müssen wir die Einbildungskraft befriedigen, und, während wir das Menschenvieh scheren, seinen Geist durch schöne Märchen und Gaukelbilder aus einer jenseitigen, besseren Welt unterhalten. Die christliche Religion erfüllte diese Aufgabe mit Bravour. Sie aber, meine Herren Freidenker, haben sie ihres Glanzes beraubt.«
»Sie haben Recht, wenn Sie eingestehen, dass Ihre Religion in Misskredit geraten ist«, warf ihm Paul Bert scharf entgegen, »sie verliert täglich an Boden. Uns Freidenker aber greift Ihr an, ohne genauer darüber nachzudenken. Wenn wir Euch nicht heimlich unterstützten, während wir den Dummen gegenüber den Anschein erwecken, Euch zu bekämpfen, wenn wir nicht Jahr für Jahr die Kultbudgets bewilligten, so würdet ihr und alle Priester, Pastoren und Rabbiner die heilige Bude schließen und vor Hunger krepieren müssen. Man entziehe Ihnen das Geld und der Glaube ist futsch ... Weil ich aber Freidenker bin, weil ich mich über den Teufel genauso lustig mache wie über Gott, weil ich an niemanden als mich selbst glaube und an die körperlichen und geistigen Freuden, die ich mir nehme, gerade deshalb erkenne ich die Notwendigkeit einer Religion an, die, genau wie Sie sagten, die Vorstellungskraft des Menschenviehs befriedigt, während man es schert. Die arbeitenden Massen müssen glauben, dass ihr Elend das Gold ist, mit dem sie sich einen Platz im Paradies erkaufen, und dass der liebe Gott ihnen hier die Armut auferlegt, um ihnen im Jenseits das Himmelreich zu schenken. Ich bin sehr für die Religion – solange sie für die anderen ist. Aber, zum Teufel, warum habt Ihr eine so lächerlich blöde Religion zusammengeschustert! Beim besten Willen kann ich nicht bekennen, dass ich an eine Taube glaube, die mit einer Jungfrau geschlafen hat, und dass die Frucht dieser Vereinigung ein Lamm war, das sich in einen beschnitten Juden verwandelte! Was für eine moralische und physiologische Widerwärtigkeit!«
»Ihre Religion folgt nicht einmal den Regeln der Grammatik«, ergänzte Ménard-Dorian, der sehr auf die Reinheit der Sprache achtete. »Ein in drei Personen vereinigter Gott ist in alle Ewigkeit zu schlimmsten Barbarismen verurteilt: ›ich denken‹, ich schnäuzen mich‹, ›ich wischen mich‹ ...!«
»Meine Herren, wir haben uns hier nicht versammelt, um über die Prinzipien des katholischen Glaubens zu diskutieren«, lenkte Kardinal Manning sanft ein, »sondern um uns mit den sozialen Gefahren zu beschäftigen. Sie können, um Voltaire zu zitieren, die Religion verspotten, aber Sie können nicht verhindern, dass sie das beste moralische Druckmittel ist, die Begehrlichkeiten und Leidenschaften der unteren Klassen zu zügeln.«
»Der Mensch ist ein religiöses Tier«, begann mit feierlicher Großspurigkeit der Papst des Positivismus, Herr Pierre Laffitte. »Die Religion Auguste Comtes enthält weder Tauben noch Lämmer, und, obwohl unser Gott weder Federn noch Haare hat, ist er dennoch ein wirklicher Gott.«
»Ach was, euer Humanitätsgott«, warf Huxley ein, »ist weniger real als der blonde Jesus, die soziale Gefahr aber geht von den Religionen unseres Jahrhunderts aus. Fragen sie Monsieur de Giers, der uns lächelnd zuhört, ob nicht die in Russland aber auch in den Vereinigten Staaten neu entstehenden Sekten vom Kommunismus infiziert sind. Ich erkenne die Notwendigkeit einer Religion an, ich gebe außerdem zu, dass das Christentum, das in Europa etwas aus der Mode geraten ist, bei den Eingeborenen Papua-Neuguineas und den Wilden Australiens noch famose Dienste leistet. Wenn es aber einer neuen Religion bedarf, müssen wir darauf achten, dass sie kein Plagiat des Katholizismus ist und nichts enthält, was irgendwie nach Sozialismus riecht.«
»Warum«, unterbrach ihn Maret, glücklich, auch ein Wort an den Mann bringen zu können, »ersetzen wir nicht die theologischen Tugenden durch die liberalen Grundsätzen? An die Stelle von Glaube, Liebe und Hoffnung setze man Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«
»Und das Vaterland«, fügte Déroulède abschließend hinzu.
»Diese liberalen Tugenden sind in der Tat die schönste religiöse Erfindung unserer Zeit«, nahm Monsieur de Giers das Wort wieder auf. »Sie haben hervorragende Dienste in England, Frankreich und in den Vereinigten Staaten geleistet, überall dort also, wo man sie einsetzte, um die Massen zu lenken. Wir werden uns ihrer eines Tages auch in Russland bedienen. Ihr Männer des Westens habt uns die Kunst der Unterdrückung im Namen der Freiheit gelehrt, die Kunst der Ausbeutung im Namen der Gleichheit und die Kunst des Niedermetzelns im Namen der Brüderlichkeit. Sie sollen unser Vorbild sein. Aber diese drei Tugenden des liberalen Bürgertums reichen nicht aus, um eine Religion zu gründen, überdies sind es alles nur Halbgötter. Der höchste Gott muss noch gefunden werden.
»Die einzige Religion, die die Bedürfnisse unserer Zeit befriedigen kann, ist die Religion des Kapitals«, erklärte mit Nachdruck der große englische Statistiker Giffen¹. »Das Kapital ist der wahrhaftige, allgegenwärtige Gott, er offenbart sich in den unterschiedlichsten Gestalten: Er ist glänzendes Gold und stinkender Guano, Hammelherden und Kisten voller Kaffee, Stapel von heiligen Schriften ebenso wie von pornografischen Bildern, gigantische Maschinen ebenso wie Unmengen kleiner Präservative. Das Kapital ist der Gott, den die ganze Welt kennt, sieht, berührt, riecht, schmeckt, er erregt all unsere Sinne, er ist der einzige Gott, der noch auf keinen Atheisten gestoßen ist. Salomon betete ihn an, selbst als er alles für eitles Nichts hielt. Schopenhauer entdeckte selbst dann noch berauschende Reize an ihm, als ihm schon längst alles zur Enttäuschung geworden war. Hartmann², der unbewusste Philosoph, ist einer seiner bewussten Glaubensanhänger geworden. Die anderen Religionen sind nichts weiter als Lippenbekenntnisse, im tiefsten Herzen des Menschen aber regiert der Glaube an das Kapital.«
Bleichroeder, Rothschild, Vanderbilt, alle Christen und alle Juden der Goldenen Internationalen klatschten in die Hände und riefen: »Giffen hat recht. Das Kapital ist Gott, der einzige, lebendige Gott.«
Als sich die Begeisterung etwas gelegt hatte, fuhr Giffen fort: »Den einen verkündet er seine Anwesenheit auf furchtbare Weise, anderen mit der Zärtlichkeit einer jungen Mutter. Wenn das Kapital über ein Land herfällt, ist es, als ob ein Orkan über es hinwegfegte, der alles vernichtet und zerstört, was ihm im Weg steht, Menschen wie Tiere, Lebendiges wie Totes. Als sich das europäische Kapital in Ägypten niederließ, da ergriff es die Fellachen mit ihrem Zugvieh, ihren Karren und ihren Hacken und versetzte sie, als wären sie Strohhalme, an die Landenge von Suez. Mit seiner eisernen Hand beugte es