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Okavango
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Ebook274 pages3 hours

Okavango

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About this ebook

Anna Winter hat einen Job, eine gelungene Tochter, einen Fernsehsessel und einen dauerhaften Mann. Dementsprechend würde sie alles gerne so lassen, wie es ist, doch das Leben hat andere Pläne. Innerhalb kurzer Zeit beginnen gleich mehrere Grundpfeiler ihres Alltags ominös zu schwanken, und um sich ernsthaft dagegen zu stemmen, müsste sie erst einmal wissen, ob sie das wirklich will. Damit nicht genug, rumort und bröckelt es auch rund um sie allerorten: Ein ihr nahe stehender Fleischtiger wird Vegetarier, bei ihrem Ex-Mann gibt es eine Windelparty, und ihre beste Freundin stiert auf leere Vogelnester. Und während ihr Mann fürs Leben eine Auszeit braucht, schleift Anna Touristen durch die Wiener Hofburg, informiert sich über die feuerpolizeilichen Bestimmungen für öffentliche Gebäude und drückt sich erfolgreich um Grundsatzentscheidungen. Erst der Okavango - ein Fluss, der nie das Meer erreicht - rückt die Dinge einigermaßen zurecht, aber wenn Anna das geplante Finale noch retten will, muss sie sich etwas einfallen lassen.
LanguageDeutsch
Release dateJan 30, 2014
ISBN9783902924247
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    Book preview

    Okavango - Susanne Strnadl

    Unveränderte eBook-Ausgabe

    Copyright © 2014 by Seifert Verlag GmbH

    Cover-Illustration: Hari Schütz

    1. Auflage (Hardcover) 2013

    ISBN: 978-3-902924-24-7

    ISBN des Hardcovers: 978-3-902924-02-5

    Seifert Verlag GmbH

    Ungargasse 45/13

    1030 Wien

    www.seifertverlag.at

    | facebook.com/seifert.verlag

    Für Katharina, gelungene Tochter, Erst-Leserin

    und künftige Kollegin

    Für Peter, gelungenen Sohn und künftigen Konstrukteur

    Für Christoph sowieso immer

    Und für den kleinen, aber feinen Freundeskreis,

    der imstande ist, jedes Abendessen zum Kabarett zu machen

    Was bisher geschah

    ist in »Orinoco« nachzulesen, hat aber keine unabding­bare Bedeutung für das vorliegende Buch. Die handelnden ­Personen jedoch schon, deshalb seien die wichtigsten hier aufgelistet, mit dem jeweiligen Bezug zur Ich-Erzählerin Anna Winter:

    Melanie: die 15-jährige, sehr gelungene Tochter

    Robert: Annas So-gut-wie-Lebensgefährte

    Joe: Annas Ex-Mann

    Inge: Joes (zweite) Frau, Ab-und-zu-Model

    Viktor: Annas bester Freund

    Angelika: Annas beste Freundin

    Karl: Angelikas Mann, Giftzwerg

    Fred: Annas ehemaliger fakultativer Lover

    Claudia: Freds Frau

    »Und wie alt bist du?«, fragt mich die alte Dame. Ich ­bohre meine Zehenspitze in den echten Perserteppich – meine Schuhe habe ich brav im Vorzimmer abgeworfen – und murmle etwas Unverständliches. »Was?«, fragt sie scharf. »Ich kann dich nicht hören.«

    »Dreiundvierzig«, sage ich vernehmlich.

    »Ah«, macht sie und steckt den Schlecker, den sie mir vor meinem geistigen Auge schon geben wollte, wieder ein. »Zu alt für Kinder.«

    Und zu alt, um von wildfremden Frauen geduzt zu werden, sollte man meinen, da können sie noch so sehr die Mutter meines Fast-Lebensgefährten sein. Er wirft mir einen Nachsicht heischenden Blick zu. »Sie ist alt«, höre ich ihn im Geiste sagen. Aber auch ohne seine parapsychischen Versuche weiß ich, dass es gar nicht gut ankäme, sie einfach auch zu duzen. Nicht, dass ich wirklich in Gefahr wäre. Ich rede die Freunde meiner 15-jährigen Tochter, die ich nicht von Kindesbeinen an kenne, mit Sie an, da werde ich die 70-jährige Omi nicht als Kumpel behandeln. Ich wünschte lediglich, diese Geisteshaltung wäre ein wenig mehr verbreitet. Aber zum Glück gibt es ja noch andere Möglichkeiten. »Das macht nichts«, erwidere ich sonnig. »Ich hab sowieso schon eins.«

    »Ach ja, das hab ich gehört«, erinnert sich meine Quasi-Schwiegermutter. »Aber das muss ja schon erwachsen sein, oder?«

    Mein Liebster, Robert, springt in die Bresche: »Nein, aber sie ist auf dem besten Weg dazu. Und sie ist sehr gelungen.« Gelungen. Das sage ich immer über meine Melanie – weil es wahr ist, aber auch weil die meisten Leute das Wort in diesem Zusammenhang irgendwie originell finden.

    »Gelungen«, schnaubt Roberts Mutter. »Ist sie ein Kunstwerk oder was?« Robert wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und zieht es vor, zu kapitulieren: »Was duftet denn da so köstlich?«, fragt er und zieht mich Richtung Esstisch.

    »Na, das ist ja ganz gut gelaufen«, subsumiert er das Kennenlernen seiner Familie, als wir am Abend endlich wieder auf meinem eigenen Sofa sitzen – ich die nackten Füße in seinem Schoß, er sie geistesabwesend massierend. »Ja, der Schweinsbraten war eine Wucht«, gebe ich zu. Er sieht mich strafend an, ich zucke hilflos Schultern und Augenbrauen. »Was denn? Willst du behaupten, deine Mutter mag mich?

    »Mein Vater mag dich jedenfalls«, behauptet er, und da hat er wahrscheinlich recht. Ich habe ihn ein paar Mal mit ganz harmlosen Bemerkungen zum Lachen gebracht – etwas, das ihm, wie’s scheint, nicht allzu oft passiert. Da das hier jedoch Familie und damit quasi eine heiße Herdplatte ist, auf die zu greifen man sich besser hütet, spreche ich das lieber nicht an. »Und meine Mutter hat auch nichts gegen dich persönlich … wenn sie es sich aussuchen könnte, hätte sie halt lieber jemanden …«

    »Jüngeren.«

    »Nein! Jemanden, der nicht so eine ausgeprägte Persönlichkeit …«

    »Also jemanden Jüngeren.«

    Er grinst. »Nicht unbedingt. Ich nehme an, du bist eine ausgeprägte Persönlichkeit, seitdem du sprechen kannst.«

    So wie ich seine Mutter einschätze, ist »ausgeprägte Persönlichkeit« ein Schimpfwort und auf jeden anzuwenden, der nicht dieselben Meinungen vertritt wie sie, aber das ist gar nicht das Problem. Meine Persönlichkeit könnte ihr im Moment kaum egaler sein – für sie bin ich eine wandelnde Eizelle, und zwar jenseits des Ablaufdatums. Ich weiß nicht, wie oft sie es im Zuge der Einladung geschafft hat, zwanglos einzuflechten, wie sehr sie sich Enkelkinder wünscht, und ein- oder zweimal sogar anzudeuten, dass sie ein Recht darauf habe. Dass Roberts jüngere Schwester kürzlich eine Fehlgeburt hatte – von einem völlig unpassenden Mann übrigens –, macht es nicht besser, aber dafür kann ich nichts. »Man hat kein Recht auf Enkelkinder«, bemerke ich trotzig, weil ich das schon den ganzen Tag einmal anbringen wollte, mich aber in Gegenwart der Frau Mama nicht getraut habe.

    »Natürlich nicht«, gibt mir mein Liebster recht, während er meine Füße intensiver zu massieren beginnt. Wir wissen natürlich, was er hier tut: Er lenkt ab. Aber was soll’s? Was dem einen sein Schweinsbraten, sind der anderen ihre Spreizfüße, und ich füge mich wohlig seufzend in mein Schicksal.

    Auch mein gelungenes Kind ist dieser Tage auf dem Baby-Trip. Ein Mädchen aus einer Parallelklasse hat kürzlich entbunden, und der Kindesvater, der immerhin schon in der Siebenten ist, geht seitdem in der ganzen Schule mit den Babyfotos hausieren. Entsetzte Lehrer-Nachfragen nach dem Alter der Mutter wurden von Anfang an souverän abgewiegelt: »Sie ist eh sitzen geblieben.« Mädchen wie meine Melanie haben sich zwar monatelang darüber ausgelassen, wie man so dämlich sein kann, mit 16 ein Kind zu kriegen, sind aber auf die andere Seite übergewechselt, seit der Winzling auf der Welt ist. »Der ist so süß«, schwärmt meine Tochter mehrmals pro Tag.

    »Wer? Der Vater?«, frage ich unbarmherzig.

    Melanie bedenkt mich mit einem strengen Blick. »Findest du Babys nicht süß?«, fragt sie zurück.

    Natürlich finde ich Babys süß, aber ich denke, man sollte damit warten, bis man selbst den kompletten Zahnwechsel bewältigt hat, und das sage ich auch. Das bringt Melanie zum Lachen. »Keine Angst, ich habe nicht vor, in Jacquelines Fußstapfen zu treten«, erklärt sie vernünftig, nur um ein paar Augenblicke später zu finden: »Aber du könntest doch noch ein Baby kriegen.«

    Das ist jetzt schweres Geschütz. Meine Quasi-Schwiegermutter mag ja noch angehen, aber aus den eigenen Reihen beschossen zu werden, finde ich nicht so gut. »Sicher nicht«, schnappe ich.

    »Warum nicht? So alt bist du auch wieder nicht«, führt meine gelungene Tochter aus. »Viele Frauen kriegen heutzutage mit über 40 noch ein Kind. Und der Robert würde sich sicher auch darüber freuen«, behauptet sie.

    »Das bezweifle ich«, erkläre ich die Diskussion für beendet.

    In Wahrheit bin ich mir da nicht so sicher. Allein, dass er seine Mutter nicht gestoppt hat, als sie ständig von potenziellen Enkelkindern geredet hat, gibt Anlass zu der Befürchtung, dass Melanie nicht ganz unrecht haben könnte. Durchaus möglich, dass er gerne sein eigen »Fleisch und Blut« in der Welt sähe, wie man so unschön sagt. Als er so alt war wie Melanie jetzt, wollte er sogar Kindergärtner werden – jedenfalls bis zu dem Juli, wo er es im Zuge eines denkwürdigen Ferienjobs wirklich probiert hat.

    Zugegeben, das ist lange her, und zwischen damals und mir hatte er nur zwei ernsthafte Beziehungen. Keine davon endete in Fortpflanzung, soviel ich weiß, obwohl ich nicht sagen kann, warum nicht. Das würde mich jetzt ziemlich interessieren, weil es ja sein könnte, dass er sich von diesen Frauen getrennt hat, weil sie unbedingt Kinder wollten. Dann wäre ich aus dem Schneider. Es kann aber natürlich auch sein, dass die Trennung aus genau dem umgekehrten Grund erfolgt ist. Deshalb möchte ich das Thema lieber nicht anschneiden, sonst müsste ich vielleicht klipp und klar sagen, dass ich kein Kind mehr will. Wenn ich es dagegen einfach vermeide, bin ich bald unter allen Umständen zu alt dafür, und das wäre viel diplomatischer. Drei, vier Jahre sollten genügen, denke ich.

    Vielleicht sogar noch weniger. Ich bin zwar erst dreiundvierzig, aber das Klimakterium wirft in letzter Zeit heftige Schatten voraus. Mein Zyklus, der bis zum Alter von etwa 40 ziemlich pünktlich war, gebärdet sich seit einiger Zeit wie ein Teenager mit eigenem Haustorschlüssel: Er kommt und geht, wann er will. Das hat den Vorteil, dass ich manchmal zwei Monate völlig verschont bleibe, andererseits aber den Nachteil, dass mein Bedarf an Schwangerschaftstests sprunghaft gestiegen ist, weil ich nach maximal sechs Wochen die Nerven wegwerfe und lieber auf Nummer sicher gehe.

    Die Lage wird dadurch verschärft, dass ich meinen Hormonstatus als strikte Privatsache behandelt sehen will und daher die nötigen Teststreifchen nicht einfach gemeinsam mit dem Klopapier und dem Geschirrspülmittel bei meinem üblichen BIPA kaufen kann. Der liegt nämlich an meinem Heimweg von der U-Bahn, und dort kennen mich alle. Keine zehn Pferde bringen mich dazu, mein Intimleben – oder was danach aussieht – mit den 15-Jährigen zu teilen, die dort als Angestellte durchgehen. Am Ende glauben sie noch, die Tests sind für meine Tochter, weil ich sowieso zu alt dafür bin.

    Das führt dazu, dass ich immer, wenn ich in einem Stadtteil von Wien bin, den ich sonst selten besuche, und an einem Drogeriemarkt vorbeikomme, hineinhusche und ein bis zwei Schwangerschaftstests erwerbe – für schlechte Zeiten quasi. Da ich allerdings mein Geld nicht gestohlen habe und demografische Dinge wie Tampons oder eben Schwangerschaftstests mit Kundenkarte gerne billiger sind, verwende ich die meinige jedes Mal brav. An schlechten Tagen male ich mir daher aus, wer gerade über meinen Daten brütet.

    »Diese Anna Winter tut mir so leid«, sagt meine eingebildete Sachbearbeiterin (R–Z) dann zu ihrer Kollegin (A–D). »Die versucht jetzt schon so lange, schwanger zu werden, und es klappt und klappt nicht. Jeden Monat kauft die sich mindestens einen Test.«

    »Tja«, meint A–D mit einem Blick auf den Bildschirm ihrer Nachbarin, »sie ist aber auch nicht mehr die Jüngste.«

    »Naja, immerhin hat sie schon ein Kind«, tröstet sich meine IT-Beauftragte, nur damit es ihr gleich darauf wie ominöse Schuppen von den Augen fällt. »O mein Gott, die Tests werden doch nicht für die Kleine sein?«

    Wenn ich jedoch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin, mache ich mir über solche Dinge keine Sorgen. Selbst meinen harmlosen Namen haben schon zahllose Verkäuferinnen falsch eingegeben, und gewöhnlich lasse ich sie in dem Glauben, ich hieße tatsächlich »Minter«, »Wiener«, Wintar« oder so was in der Preisklasse. Robert versichert mir nämlich immer wieder, dass unsere sicherste Trumpfkarte gegen den Überwachungsstaat die zahllosen Druckfehler in Namens- und Adressenlisten sind. So gesehen finden die mich nie.

    Kundenkarten hin oder her, die letzten drei Nächte bin ich so gegen drei Uhr früh aufgewacht und habe schweißgebadet festgestellt, dass meine Tage wieder einmal überfällig sind. Das sind sie natürlich schon länger, und ich wache fast jede Nacht irgendwann einmal auf, aber das ist das Zeichen, dass es langsam wieder Zeit für einen Test wird, also bringen wir es hinter uns.

    Während ich beim ersten Mal noch den Beipackzettel dreimal gelesen habe, bevor ich auch nur gewagt habe, das zarte Ding mit zittrigen Händen aus der Verpackung zu nehmen, mache ich das mittlerweile in der Zeit, während die Mikrowelle meinen gestrigen Kaffee aufwärmt. Auch das Ergebnis muss ich nicht mehr mit dem beiliegenden Diagramm vergleichen, um zu wissen, was – oder was nicht – gespielt wird. Es ist ein bisschen wie bei Orwell: ein Streifen – gut, zwei Streifen – schlecht. Oder habe ich das jetzt doch falsch in Erinnerung? Entgeistert starre ich erst auf das Testgut, dann auf die Vorlage. Wie kommt der zweite blaue Strich da drauf?

    Ha, alles klar! Es handelt sich hier eindeutig um etwas, das Robert so schön »false positives« nennt und das, wie ich mir habe erklären lassen, eine enorme Rolle in der statistischen Einschätzung von Krankheiten wie HIV und so Sachen spielt. Warum genau, weiß ich nicht mehr, aber eines ist hängen geblieben: Tests zeigen manchmal ganz einfach etwas Falsches an. Na also. Ich meine, Robert und ich überlassen diese Dinge schließlich nicht dem Zufall, und in meinem Alter ist man sowieso nicht mehr besonders fruchtbar, also müsste es in jedem Fall mit dem Teufel zugehen. Der Test muss also falsch sein. Andererseits weiß jeder, dass sich der Teufel einen Spaß daraus macht, zu den unmöglichsten Zeiten nicht zu schlafen, und meine Frauenärztin hat mir erst letztens von einer Frau im Wechsel erzählt, die nur noch alle heiligen Zeiten einen Eisprung hatte und der dann immer so schlecht war …

    Also schön, investieren wir noch ein paar Euro, und machen wir den Test noch einmal. Mit jetzt doch recht zittrigen Händen wühle ich hinter den Handtüchern, wo ich diese Dinger immer verstecke (ich will auf keinen Fall, dass Melanie sie findet, und Robert möchte ich damit nicht auf irgendwelche Ideen bringen). Mist! Entnervt räume ich die Handtücher aus, doch das ändert gar nichts: Der Kasten ist leer. Ich war in letzter Zeit einfach zu wenig unterwegs (und zunehmend entspannt, was das Thema angeht).

    Ich könnte natürlich einmal eine Ausnahme machen und den lokalen BIPA auch in Fertilitätssachen aufsuchen, das Problem ist nur, dass ich sowieso schon spät dran bin. Ich habe um 9.30 Uhr einen Termin in der Stadt, und wenn ich nicht zu spät kommen will, muss ich jetzt los. Innenstadt ist aber gut. Da gibt es sicher einen BIPA, auch wenn mir im Moment nicht einfällt, wo. Das kann ich dann gleich im Anschluss an das Interview machen. Und bis dahin werde ich die Angelegenheit einfach eiskalt verdrängen.

    Na super, das hat mir noch gefehlt. »’tschuldigung«, murmle ich, während ich mich durch die kleine, aber hartnäckige Ansammlung kämpfe. Normalerweise werde ich schnell scharf im Tonfall, wenn mir jemand im Weg herumsteht, aber im Moment ist es mir wichtig, nicht aggressiv zu wirken. »Verzeihung, ich muss da durch.«

    »Das müssen Sie nicht«, erklärt mir eine gefühlte 12-Jährige mit einem Baby auf dem Arm. »Sie können sich jederzeit anders entscheiden.« Und dann, nach einer vermeintlich unauffälligen Musterung: »Wer weiß, ob Sie noch einmal die Chance bekommen.«

    »Ich habe schon fünf Kinder«, behaupte ich.

    »Na, da wird es doch auf ein sechstes nicht mehr ankommen«, meint die Kind-Mutter milde.

    »Doch, unser Auto ist nur ein Siebensitzer«, erkläre ich mit einem entschuldigenden Lächeln.

    »Jedes Kind will geboren werden!«, faucht mich ein junger Mann an.

    Vielleicht bin ich ja altmodisch, aber meiner Meinung nach haben Männer auf diesem Gebiet gar nichts verloren. Nicht, solange sie sich ganz locker aus dem Staub machen können, während Muttern in den Wehen liegt. »Meines nicht«, fauche ich zurück, »es will nämlich nicht mit dem Zug fahren!«

    »Ich fahre nur mit dem Zug«, erklärt mein Gegenüber lächelnd. »Das ist umweltschonender.«

    Ich kehre mühselig von meinem Ausflug in die geistige Abtreibungsklinik zurück zu meinem Interview. »Ich auch«, versichere ich automatisch, was prinzipiell wahr ist, allerdings daran liegt, dass ich keinen Führerschein habe, aber das behalte ich für mich. Mein Gegenüber ist die »Julia« im heurigen Sommertheater, und ich habe keine Ahnung, wie wir von Shakespeares Liebesdrama zum öffentlichen Verkehr geraten sind. Es muss in der Zeit passiert sein, in der ich »Mein Körper gehört mir« gespielt habe. Deshalb kann ich mich auch nicht erinnern, ob sie sich schon dazu geäußert hat, wie sie die Rolle einer 17-Jährigen mit ihrem 35-jährigen Äußeren vereinbaren will. Auch egal. Sie wird einfach davon ausgehen, dass das Publikum in den hinteren Reihen sie sowieso nicht so genau sehen kann und die Leute, die sich die ersten Reihen leisten können, so alt sind, dass für sie alles unter 40 jung ist.

    »Und was werden Sie besonders betonen bei Ihrer Julia?«, frage ich. Keine sehr originelle Erkundigung, aber Julia – sie heißt auch in Wirklichkeit so – ist begeistert. »Wie schon gesagt«, erklärt sie, »gibt es für mich nichts Wichtigeres als unseren blauen Planeten – ich meine, abgesehen von der Schauspielerei natürlich«, sie lächelt bescheiden, »und ich denke, dass Shakespeare das auch so gesehen hat.«

    Shakespeare ein Öko-Freak? Irgendwie hatte ich angenommen, dass sich die Besorgnis über die Umwelt damals darauf beschränkt hätte, den Nachttöpfen zu entgehen, die des Morgens aus den Fenstern entleert wurden. Julia muss meinen zweifelnden Blick bemerkt haben. »Für mich ist ›Romeo und Julia‹ eine Metapher für unsere ökologische Situation, müssen Sie wissen«, erklärt sie mir. »Die Capulets und die Montagues haben die Umwelt mit ihrem Egoismus so vergiftet, dass die jungen Leute daran zugrunde gehen.« Und weil ich immer noch überrascht wirke, setzt sie freundlich nach: »Viele Werke der Literatur haben eine versteckte Botschaft, glauben Sie nicht? Sonst würden sie sich nicht so lange halten, davon bin ich überzeugt.«

    Tiefschürfend, das muss man schon sagen. Aus unerfindlichen Gründen fällt mir Agatha Christies »Mord im ­Orient-Express« ein. Vielleicht nicht unbedingt ein Werk der Hochliteratur, aber doch eine Geschichte, die sich schon eine Weile hält. Was für eine Metapher könnte darin wohl verborgen sein? Das muss doch etwas zu bedeuten haben, wenn ausgerechnet in einem Verkehrsmittel, das wir für umweltfreundlich halten, so grausige Dinge passieren, oder nicht? Ha! Jetzt hab ich’s: Damals wurden die Züge noch mit Kohle beheizt und die ist gar nicht umweltfreundlich. Und die Leute, die trotzdem weite – und teilweise ganz unnötige – Reisen damit unternommen haben, waren natürlich auch Egoisten, die dadurch ihre Umwelt vergiftet haben …

    Doch während ich Julia gerne gefragt hätte, ob sie es für möglich hält, dass alle Dramen irgendwie ökologischen Ursprungs sind, ist sie schon einen Schritt weiter und führt stolz aus, dass sie »immer wieder für den WWF« spendet und auch »ein großer Fan der Vier Pfoten« ist, »weil die Welt kann nicht so bleiben, wie sie ist. Sonst geht sie unter.« Für weitere Erkenntnisse aus der Welt der Fauna und Flora ist keine Zeit mehr – auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein dicker Mercedes aufgefahren und hupt herrisch.

    »Ich muss leider gehen«, entschuldigt sich Julia, »Mein Regisseur ruft …« Ein hilfloses Schulterzucken, ein bezauberndes Lächeln. »Bringt er Sie zum Bahnhof?«, frage ich unschuldig. Offenbar harrt ihr Regisseur noch der Bekehrung zum Umweltschützer. Durch die Windschutzscheibe kann ich ihn sehen: Er ist locker zwanzig Jahre älter als seine Hauptdarstellerin und hat eine Glatze, wird aber trotzdem mit einem Kuss auf den Mund begrüßt – obwohl man mit dem, was sein Mercedes so von sich gibt, eine ganze Menge unglücklich Verliebter vergiften könnte.

    Nicht zum ersten Mal verfluche ich Hugo in Gedanken. Natürlich war es eine einmalige Chance für ihn – man wird ja nicht jeden Tag Chef vom Dienst –, aber was ist mit mir? Nicht nur sitze ich seit drei Monaten mit einer neuen Chefin herum, die zehn Jahre jünger ist als ich, blond, lieb, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, und keine Ahnung vom Zeitungsgeschäft hat, ich muss mich auch noch mit Kultur­heinis herumschlagen, von denen jeder – also jedenfalls Hugo und ich – weiß, dass ich sie verabscheue. Wenn man mich fragt, verachtet jeder anständige Redakteur die sogenannten »Kulturschaffenden« – zumindest so lange, bis sie einen hohen runden Geburtstag haben oder tot sind.

    Jedenfalls habe ich in den letzten paar Wochen mehr Interviews mit Schauspielern und Regisseuren gemacht, als man bei einer so bescheidenen Zeitung wie der unseren für möglich halten möchte. Wenn es nach Dagmar, meiner neuen Chefin, gegangen wäre, hätte ich auch gleich noch ein paar Vernissagen und Konzertabende mitgenommen, aber ich konnte sie dann doch davon überzeugen, dass das den betroffenen Künstlern gegenüber nicht nett wäre: Ich verstehe von klassischer Musik nur unwesentlich weniger als von Malerei, und davon verstehe ich schon nichts. Dagmar kann sich »das gar nicht vorstellen – so ein kreativer Mensch wie du!« und lacht immer sehr, wenn ich zum Besten gebe, wie ich mich als Kind ein Jahr lang mit meiner Blockflöte herumgeplagt habe, und dass alles, was ich zeichnen kann, Gänseblümchen und stark stilisierte Osterhasen sind.

    Aber sie kann lachen, soviel sie will, sie kann mir auch das Du-Wort anbieten, was sie gleich am ersten Tag gemacht hat, und sie kann dreinschauen, als würde sie mich am liebsten

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