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Südtiroler Almgeschichten
Südtiroler Almgeschichten
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Südtiroler Almgeschichten

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Südtiroler Almen hautnah erleben!

Eine Großfamilie, die sich den Traum vom Landleben erfüllt, ein etwas anderer "Rustikal-Golfplatz", Hausbesuche des Käse-Doktors - der Südtiroler Almalltag hat viele Gesichter. Irene Prugger machte sich auf, um diese zu porträtieren.
Entstanden sind 28 unterhaltsame und informative Almporträts, die von Almen erzählen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten - von beeindruckenden Hochgebirgsalmen im Norden und in den Dolomiten bis zu Almen mit südlich-exotischem Flair. Zusätzlich lässt sie in einfühlsamen Interviews Menschen zu Wort kommen, die eine besondere Verbindung zum Almleben haben - vom Journalisten Florian Kronbichler, der als Kind Hüterbub war, über die Politikerin Martha Stocker, die als Zehnjährige allein mit dem Pferdefuhrwerk auf die Alm fuhr, bis hin zu Reinhold Messner, der darüber Auskunft gibt, warum ihn als Extrembergsteiger auch die Almlandschaft fasziniert.

- 28 Almporträts, mit Charme und Gefühl erzählt
- ein Lesebuch, das in die Welt der Almen eintauchen lässt
- faszinierende Einblicke in den echten Alltag auf Südtiroler Almen
- spannende Interviews
- viele wissenswerte Hintergrundinformationen
- stimmungsvolle Farbfotos
LanguageDeutsch
Release dateApr 15, 2014
ISBN9783706627139
Südtiroler Almgeschichten

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    Südtiroler Almgeschichten - Irene Prugger

    2010.

    1. April

    Castelfeder, Montan

    Almpark mit Ziegen

    und Wildkirschenbäumen

    Mein Südtiroler Almsommer beginnt mit einer kleinen Herde Ziegen. Ein bescheidener Anfang, wenn ich an jenes Jahr zurückdenke, als ich zum Auftakt meiner Nordtiroler Almgeschichten den Übertrieb von 1500 Schafen vom Schnalstal auf die Niedertalalm von Vent im Ötztal begleitet habe. Damals ging’s auf über 3000 Meter, heute gerade einmal auf 350 Meter Seehöhe. Dafür befinde ich mich an diesem 1. April aber zwischen blühenden Wildkirschenbäumen und uralten Eichen auf einer der schönsten Almen Südtirols, auf Castelfeder bei Montan, oberhalb von Auer.

    Nein, kein Aprilscherz! Castelfeder ist tatsächlich eine Alm, und zwar die niederste Alm Südtirols. Auch gute Südtirolkenner sind überrascht, wenn sie das hören, denn ein almerisches oder gar älplerisches Wesen hat sie ja wirklich nicht, diese 110 Hektar große parkähnliche Naturoase, die eines der beliebtesten Ausflugsgebiete im südlichen Teil des Alto Adige ist und ein geschütztes Biotop. Für die höher gelegenen Almen gibt es allerdings keinen Grund, geringschätzig auf die etwas extravagante Kollegin herabzuschauen, denn sie erfüllt ihre Aufgabe als sommerliches Weidegebiet für landwirtschaftliche Nutztiere hervorragend, und eine Alm- bzw. Hirtenhütte gibt es auch.

    Diese steht etwas versteckt im Weidegebiet unter alten Eichenbäumen und sieht ein bisschen, nun ja, vergessen aus. Aber das ist kein Wunder, weil sie ja kaum gebraucht wird. Castelfeder ist so gut zugänglich und liegt so nahe an den umliegenden Ortschaften, dass es nicht nötig ist, die Hirten hier nächtigen zu lassen. Sie kommen tagsüber nachsehen, ob alles in Ordnung ist, und fahren dann wieder nach Hause. Und da hier nur Galtvieh weidet, wird auch keine Sennerei betrieben.

    Mich interessiert der Hirtenunterstand deshalb, weil ich auf meinen Fotos immer die Almhütten zeigen will, obwohl die Burgruine hier bei Weitem repräsentativer wäre. Denn wenn von Castelfeder die Rede ist und damit vom Arkadien Südtirols, denkt man sofort an die pittoresken Überreste der prähistorischen und römischen Siedlungen. Auf der strategisch günstig gelegenen Porphyr-Hügelkuppe mitten in fruchtbarem Gebiet siedelten Volksstämme aus der Steinund Bronzezeit, Räter, Römer, Rätoromanen, Ostgoten, Langobarden, Franken, Bajuwaren und mittelalterliche Adelsgeschlechter. Die Ruine der Barbarakapelle sowie die Steinbögen bzw. Kuchelen – das sind übrig gebliebene Bestandteile einer fast 600 Meter langen Mauer einer byzantinischen Festung – wurden schon unzählige Male auch für Tourismusprospekte fotografiert, ebenso die Überreste des alten Römerweges. Über 160 Häusergrundrisse einer vermutlich frühmittelalterlichen Siedlung wurden ebenfalls hier gefunden, deren Ursprünge von einigen Forschern sogar für das legendäre vorrömische Endidae gehalten werden.

    Idyllische Ausblicke auf das „Arkadien Südtirols".

    Außerdem gibt es auf Castelfeder auch Schalensteine, Felszeichnungen und natürliche Steinwannen zu sehen – eine davon ist die Fruchtbarkeitsrutsche, über die offenbar schon viele Frauen und wahrscheinlich auch Männer gerutscht sind, so blank geschliffen wie der Stein aussieht. In manchen Fällen wird es wohl geholfen haben, falls sie wussten, dass man das bäuchlings tun muss, um Erfolg zu erzielen. Etwas weniger weit, aber auch in eine geschichtsträchtige Vergangenheit zurück weisen die Dämme der alten Fleimstalbahn, die sich früher in einer abenteuerlichen Trassenführung um den Hügel schlängelte. Sie wurde im Ersten Weltkrieg, als 1916 der Kampf in den Dolomiten gegen Italien begann, von Kriegsgefangenen und der einheimischen Bevölkerung für die Waffen-Nachlieferung gebaut. Die Bahnstrecke führte von Auer bis Predazzo, wurde bis 1963 genutzt und dann stillgelegt. Heute verläuft auf einigen Wegstrecken der Bahn ein Radweg.

    Emilio und Robert bei einem Kontrollspaziergang auf Castelfeder.

    Prähistorische Siedlungen und Biotop

    Ein historisch überaus bemerkenswerter Boden ist dieses Castelfeder, aber so eine alte, halb verfallene Hirtenhütte hat auch ihren Charme. Mir gefällt besonders gut das „Hirschgeweih" aus knorrigem Geäst und der alte steinerne Ofen, der allerdings fast schon wie die Vorbilder auf der Hügelkuppe Ruinencharakter hat. Hirte ist heute keiner in der Nähe, dafür habe ich zwei sehr sympathische und kompetente Begleiter mit, die mir viel über Castelfeder erzählen: Forstrat Dr. Emilio Dallagiacoma vom Amt für Bergwirtschaft der Südtiroler Landesregierung und Robert Franzelin von der Forststation Neumarkt.

    Von den beiden Experten erfahre ich, dass sich zur Ziegenherde, die jetzt in genüsslicher Abgeschiedenheit hier weidet, schon bald Schafe, Rinder, Pferde und voraussichtlich auch ein Esel gesellen werden. Insgesamt sind 60 Großvieheinheiten von Bauern aus der Umgebung den Sommer über auf Castelfeder untergebracht. Bei den Rindern ist es hauptsächlich Grauvieh, also eine widerstandsfähige Rasse, die hier nicht wie andernorts auf Almen oft gegen Kälte und überraschende Schneefälle zu kämpfen hat, sondern gegen die Hitze, die durchaus sizilianisch sein kann. Eine der dringlichsten Aufgaben des jeweiligen Hirten ist es deshalb zu prüfen, ob die Wasserzuleitungen in Ordnung sind und die Tiere ausreichend zu trinken haben.

    Bis vor ungefähr 40 Jahren hielt noch nahezu jeder Bauer in Südtirol Vieh, aber dann stellten viele auf Obstbau um. In Montan und Umgebung gibt es noch einige Mischbetriebe und Bauern, die sich weiterhin der Viehhaltung verschreiben. Solche Idealisten sind für ein Gebiet wie Castelfeder besonders wichtig, denn ohne die Sommerweide würden die Flächen sehr rasch verbuschen.

    Damit sind wir beim Thema, bei dem sich Emilio und Robert besonders gut auskennen: die Vegetation auf Castelfeder. Sie können hier jedes noch so unspektakuläre Pflänzlein bestimmen und nicht alle machen ihnen Freude. Denn auf dem flachgründigen Boden inmitten der Gletscherschliffe wachsen zwar viele saftige Futtergräser wie die Wiesenrispe – „Man erkennt sie an der feinen Linie in der Blattmitte, die wie eine Skispur oder Langlaufloipe aussieht", erklärt Emilio –, aber es gibt auch eine Menge hartnäckiger Unkräuter. Diese werden zwar vom Vieh gemieden, doch deshalb vermehren sie sich nur umso schneller. Außerdem zertreten die Kühe die Samen und so kommen diese in den Genuss einer schönen Umarmung durch die Erde und finden optimale Bedingungen für ihre Ausbreitung vor.

    Auch Königskerzen, Brombeersträucher, Stinkbäume, Schlehdorn und Konsorten lauern überall auf feindliche Eroberung des Gebietes. Zwar sind sie für die Überwinterung der reichhaltigen Vogelwelt wichtig, geböte man ihnen aber nicht Einhalt, wäre der Strauchdruck innerhalb von Jahren so groß, dass aus dem herrlichen Naherholungs gebiet ein unzugängliches Dickicht würde. Deshalb kümmert sich die Forstbehörde um die notwendigen Maßnahmen, wie zum Beispiel um Einhaltung der Schutzbestimmungen, Bodenanalysen, Mulcharbeiten und Teilrodungen.

    Noch gehört die Alm den Ziegen allein.

    Es bleibt trotzdem noch genügend Natur in dieser uralten Kulturlandschaft übrig und Besucher können sich im submediterranen Mischwald an Flaumeichen, Manna-Eschen, Hopfenbuchen, Perückensträuchern, Felsenbirnen, Kornelkirschen, Steinweichseln und Heckenrosen erfreuen. In den Trockenrasen wiederum finden sich Walliser Schwingel, Knabenkraut, Schafgarbe und Sonnenröschen. Und dort, wo die eiszeitlichen Gletscher Mulden hinterlassen und sie mit wasserundurchlässigem Ton abgedichtet haben, gedeihen in den Mooren und Feuchtgebieten Seerosen, Seggen, Binsen, Schilf, Mooskolben, Weiden und Erlen. Die Tierwelt ist ebenso vielfältig, auch wenn keine landwirtschaftlichen Nutztiere weiden. Allein die Hecken im Naturparadies bieten Unterschlupf für über 1000 Tierarten.

    Die Ziegen, die auf der Weide grasen und ihr beschauliches Leben sichtlich genießen, kümmern sich nicht um botanische Kategorien, sie fressen einfach die Gräser, die ihnen am besten schmecken. Davon gibt es hier genug, da gibt es nichts zu meckern. Für Besucher wie mich ist aber auch dieser landwirtschaftlich genutzte Teil von Castelfeder in seiner bukolischen Anmutung nicht nur eine Viehweide, sondern vor allem eine Augenweide. Danke Emilio und Robert, das war ein Ausflug, der noch lange in Erinnerung bleibt, und ein wunderbarer Auftakt für einen vielversprechenden Almsommer!

    Informationen

    Lage: Das zu Montan gehörende Weidegebiet von Castelfeder liegt auf 350 m, die Hügelkuppe auf 450 m Seehöhe; 190 m über der Talsohle, Größe ca. 110 ha. Man kann von Auer hinauf wandern oder einige Kehren auf der Straße nach Cavalese zurücklegen und das Auto am Sportplatz von Montan abstellen. Radweg auf der alten Bahntrasse.

    Besonderheiten: Niederste Alm Südtirols, auch Arkadien Südtirols genannt, Überreste prähistorischer Siedlungen wie z. B. die Ruine der Barbarakapelle und die „Kuchelen"; bedeutender Ausgrabungsort, geschütztes Biotop, herrliches Ausflugs- und Naherholungsgebiet mit genutzter Alm- und Weidefläche für 60 Großvieheinheiten.

    Verpflegung: Das Jugendhaus Castelfeder wird für Seminare und Projekt-wochen genützt. Ansonsten gibt es auf Castelfeder keinen Ausschank, aber in den hübschen Dörfern ringsum finden sich viele Einkehrmöglichkeiten mit hervorragender Küche.

    Die Rückeroberung der Weideflächen

    Wer in Südtirol etwas über Almen wissen will, muss mit den Beamten vom Forst reden. Nachdem Emilio Dallagiacoma mir so ausführlich und kompetent Castelfeder gezeigt hatte, nahm er sich auch Zeit für ein Gespräch zur Gesamtsituation der Südtiroler Almen. Emilio Dallagiacoma wurde 1968 in Bozen geboren, studierte in Padua Forstwirtschaft und war anschließend an der Universität Padua bei der Abteilung Viehwirtschaft, bei der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Gumpenstein in Österreich in der Abteilung Grünland und im Südtiroler Versuchszentrum Laimburg in den Bereichen Grünland, Viehwirtschaft und Almwirtschaft tätig. Seit 1996 ist er Forstrat beim Landesforstkorps Südtirol und in dieser Funktion auch zuständig für die Almen.

    Foto: Gabriel Tschöll

    Wie viele bewirtschaftete Almen gibt es in Südtirol?

    Emilio Dallagiacoma: Ungefähr 1700, sie werden mit jährlich bis zu 95.000 Stück Vieh bestoßen. Da es sich in der Hauptsache um Hochalmen über der Waldgrenze handelt, wo die Böden mit ihrem sauren pH-Wert für die Milchviehhaltung nicht so geeignet sind, wird vorwiegend Galtvieh und Jungvieh aufgetrieben. In ganz Südtirol gibt es nur zwischen 40 und 50 Milchviehalmen, die meisten im Vinschgau. Knapp über 70 Prozent der Südtiroler Almen befinden sich in privatem Besitz, 13 Prozent fallen auf Interessentschaften, der Rest verteilt sich auf andere Körperschaften wie Gemeinden, Forst oder Kirche. Die gesamte Almfläche in Südtirol beträgt 248.750 Hektar, das sind 34 Prozent der Landesfläche. Als reine Weidefläche sind ca. 100.000 Hektar ausgewiesen. Wir vom Forstamt arbeiten daran, dass sie so groß bleibt bzw. noch größer wird.

    Warum? Gibt es einen größeren Bedarf an Weideflächen?

    Emilio Dallagiacoma: Es gibt einen höheren Bedarf an Einflussnahme durch die Behörden, damit die bestehenden Weiden erhalten bleiben. In den letzten Jahrzehnten gab es einen großen Strukturwandel unter der bäuerlichen Bevölkerung, viele Landwirte und Almbesitzer sind jetzt aus Existenzgründen Nebenerwerbsbauern. Auch für die Almarbeit versucht man aus Kostengründen mit weniger Personal auszukommen. Wo früher ganze Familien im Einsatz waren, um das Zuwachsen der Weiden zu verhindern, sind heute dafür kaum noch Arbeitskräfte vorhanden. Auf das Vieh allein kann man nicht setzen. Das sucht sich, wenn es vorwiegend sich selbst überlassen bleibt, immer die Weideplätze mit dem saftigsten Futtergras. Das bedeutet, dass die besten Weiden überdüngt werden und die Randweiden verbuschen.

    Wie gewinnt man die Weideflächen wieder zurück?

    Emilio Dallagiacoma: Da bleibt nichts anderes übrig, als dem Wald zu Leibe zu rücken, das heißt, Büsche und Bäume müssen weichen. Diese Eingriffe schauen für Nichtfachleute manchmal nach Verwüstung aus, Naturschützer können das oft nicht verstehen. Wir gehen aber bei den Meliorierungsmaßnahmen sehr sensibel vor. Mit speziellen Baggerschaufeln kann man die Wurzeln ganz gezielt aus der Erde ziehen, ohne Schaden anzurichten. Wir erweitern die Weideflächen kreisförmig in Wellenlinien, damit die Übergänge natürlich verlaufen. Fichten werden eher gefällt als Lärchen, denn ihre Nadeln sind saurer. Auf den freien Flächen wird Grassamen ausgesät. Dabei wird darauf geachtet, dass es sich um standortsgemäße Saatmischungen handelt, die wir selber zusammenstellen. Die Flächen sollen ja schnell und naturnahe begrünen und schon bald für Weidezwecke zur Verfügung stehen.

    Sät ihr auch Alpenblumensamen aus, damit es hübscher und natürlicher aussieht?

    Emilio Dallagiacoma: Das ist nicht nötig. Die Blumen der Umgebung finden sich ohnedies bald in der Weidefläche wieder, sie erobern sich ihr Revier von selbst zurück. Außerdem ist Blumensamen teuer. Er kostet mehr als das Doppelte des Grassamens, das wäre nicht finanzierbar. So kommen die Glockenblumen oder Enziane eben erst ein oder zwei Jahre später dazu. Und auf die hübschen Almrosen können wir gern verzichten, weil sie die Weiden nur wieder hartnäckig verbuschen würden.

    Warum wird überhaupt so ein großer Aufwand für die Erhaltung von Weide- und Almflächen betrieben?

    Emilio Dallagiacoma: Weil die Weiden nicht nur für das Vieh wichtig sind, sondern auch für den Landschaftsschutz und damit für den Schutz des Menschen. Wenn Bergweiden und Almen nicht mehr bewirtschaftet werden, verfilzt die Grasnarbe, das Wasser dringt langsamer in den Boden ein und viel mehr Wasser wird in viel kürzerer Zeit in die Talsohlen transportiert. Im Winter wiederum friert auf nicht beweidetem, langem Gras der Schnee an und reißt beim Abrutschen die Grasnarben mit sich. Die Erosionsflächen kommen das ganze Jahr über nicht mehr zur Ruhe und es drohen vor allem im Frühjahr und Herbst Murenabgänge und Überschwemmungen. Mit bewirtschafteten Almweiden wird die hydrogeologische Stabilität Südtirols weitgehend gesichert.

    Die dem Wald abgerungenen Weiden bleiben dann nicht wieder sich selbst überlassen?

    Emilio Dallagiacoma: Nein, wir erweitern die Weideflächen ja nur dort, wo auch ein Bedarf dafür besteht. Wir prüfen das zuerst sehr sorgfältig, führen eine Kosten-Nutzen-Rechnung durch und wenn wir den Zuschlag geben, müssen sich die Bauern bzw. Almbesitzer, die bei uns einen Projektantrag stellen, auf 15 Jahre verpflichten, Almwirtschaft zu betreiben und das Vieh auf den von uns wieder gewonnenen Flächen weiden zu lassen. Das wird selbstverständlich auch kontrolliert. Wir haben 40 Forststationen in ganz Südtirol, jede Station hat fünf bis sechs Förster, die für die Kontrolle und Projektentwicklung zuständig sind. Wir können also sehr flexibel agieren und sind auch schnell vor Ort, falls es Probleme gibt.

    Gibt es überhaupt noch genügend Bauern in Südtirol, die Almwirtschaft betreiben, oder werden es durch den Strukturwandel immer weniger?

    Emilio Dallagiacoma: Sicher werden es weniger, aber die Situation ist noch nicht so bedenklich wie in den angrenzenden Regionen. Das ist zu einem Großteil dem Erbrecht zu verdanken, das eine Höfeteilung untersagt. Schon seit vielen Generationen gehören deshalb die Südtiroler Bergbauernhöfe denselben alteingesessenen Familien. Im Trentino zum Beispiel, wo ein Hof unter allen Erben aufgeteilt wird, gibt es kaum noch existenzfähige Bergbauern und deshalb auch kaum noch privat bewirtschaftete Almen, die meisten gehören öffentlichen Körperschaften und auch diese Almen dezimieren sich ständig: Die Weideflächen verbuschen, die Waldränder wachsen zu und die Almwege werden oft nicht mehr instand gehalten.

    Die Almen sind ja auch für den Tourismus wichtig. Wie greifen Tourismus und Almwirtschaft in Südtirol ineinander?

    Emilio Dallagiacoma: Das Zusammenspiel funktioniert sehr gut. Der Tourismus braucht die Almen und die Almen brauchen den Tourismus. Es gibt eigene Lizenzen für einen Ausschank auf der Alm. Es liegt ja in unser aller Interesse, wenn ein Almbauer sich durch Ausschank oder den Verkauf seiner Produkte etwas dazuverdienen kann, weil das seine Existenz sichern hilft. Man muss dafür Verständnis haben, wenn daneben oft nicht mehr so viel Zeit für das Vieh bleibt oder die Viehbestände kleiner werden. Mit solchen Kompromissen müssen wir leben. Wenn wir vom Forst „Bäume ausreißen, tun wir es ja auch nicht aus blankem Übermut, sondern weil es der Umwelt und damit uns allen dient. Wir passen auch gut auf unsere „Sonderalmen auf, wie das herrliche Biotop Castelfeder im Südtiroler Unterland. Und genau solche Almen sind es wiederum, die mit ihrer landschaftlichen Schönheit und ihrem großen Erholungswert Touristen und Einheimische begeistern.

    30. Mai

    Tschaufen am Tschögglberg, Mölten

    Zu Gast bei einer sympathischen Großfamilie

    Tschaufen am Tschögglberg habe ich kennengelernt, als ich mit einer Gruppe von Freunden dort für ein paar Tage Urlaub machte. Es war im Jänner, die Gegend war in mystischen Nebel getaucht, aber die landschaftliche Pracht der Lärchenwiesen war dennoch beeindruckend. Als ich Ende Mai wiederkam, schien die Sonne, der Nebelvorhang war weg und die Fernsicht wunderbar. Man sah hinunter bis zum Kalterer See und nach Auer. Ein wunderbarer Tag, um gemeinsam mit Rosl Ladurner in die Vergangenheit Tschaufens zu blicken und neue Einsichten über diesen wunderbaren Ort zu gewinnen.

    Der Pachthof Tschaufen war früher ein Jagd-und Schwaighof, seine Grundmauern stammen noch aus dem frühen Mittelalter. Das Anwesen gehörte zur Zollstation und zur Burg der Herren von Neuhaus, auch „die Maultasch genannt, weil hier Margarete „Maultasch von Görz-Tirol gern zu Gast war. Die Ruine dieser Burg schmiegt sich pittoresk an einen der Porphyrfelsen von Terlan. Um nach Tschaufen zu gelangen, muss man aber noch weiter hinauf, mehr als zehn Kilometer über eine kurvenreiche Strecke in Richtung Mölten. In Verschneid zweigt die Straße nach Tschaufen ab, am Siedlungsende beginnt die Forststraße, die man nur mit Ausnahmegenehmigung befahren darf. Droben am Salten eröffnet sich wie ein riesiges, gut geborgenes Nest auf dem Felsen eine Landschaft, die man beim Blick aus dem Tal nicht vermuten würde: Ein zum Teil dicht bewaldetes Plateau mit vielen Spazier-und Wandermöglichkeiten, dazwischen herrliche Wiesen und Weiden, wo im Frühjahr Enziane und Anemonen blühen.

    Wenn man oben ankommt, hat man das Gefühl, das Tschaufenhaus sei verkehrtherum gebaut. Ist es auch in gewissem Sinn, jedenfalls ist seine Bauweise untypisch. Auf der Südseite gibt es nur wenige, kleine Fensteröffnungen, hier sind auch die Wirtschaftsräume untergebracht, die Zimmer mit den größeren Fenstern richten sich nach Norden aus. Und zwar deshalb, weil die Adeligen früher wegen des Schönheitsideals von nobler Blässe die Sonne mieden. Heute sitzen auf der Südseite die Gäste auf gemütlichen Bänken vor dem Haus, genießen die Sonnenstrahlen, die herrliche Aussicht auf die Umgebung und Rosls schönen Blumengarten, erfreuen sich an der vorzüglichen Küche und fühlen sich wie im Paradies.

    Grenze zwischen Mölten und Jenesien

    Durch den alten Backofen, der zum Tschaufenhaus gehört, verlief früher die Gerichtsgrenze zwischen Mölten und Jenesien. Man konnte hier also Möltener-, Jenesier- oder ein gehaltvolles Mischbrot backen. Gleich neben dem Haus beginnen die Almwiesen, hier weiden die temperamentvollsten Kühe und Kälber, die ich je gesehen habe. Vielleicht rennen sie deshalb so gern in übermütigem Galopp, weil sie es gewohnt sind, gemeinsam mit Pferden zu grasen.

    Die Haltung von Pferden hat auf dem Tschaufen Tradition. 1907 kauften Tschögglberger Bauern einem Schweizer Landwirt namens Valentin Gartmann den Hof ab und benützten ihn als Zuchtstation für die im Jahr 1904 gegründete „I. Haflinger Pferdezuchtgenossenschaft zu Mölten. Sie belieferten mit den Pferden sogar das k.u.k.-Acker-bau-Ministerium. Aufgelassen wurde der Zuchtbetrieb nach dem Ersten Weltkrieg, als Südtirol zu Italien kam, die Almgenossenschaft ist allerdings nach wie vor sehr rührig. Sie sorgte für die Sanierung des Hauses und bestößt die Alm ab Mai mit Galtvieh und Pferden. Einen Reitstall gibt es auch, er gehört Rosls Tochter Ute Ladurner, die als Geländerittführerin hier schöne Ferienreitwochen für Kinder organisiert und auf Tschaufen außerdem für den landwirtschaftlichen Bereich und damit auch für die Kühe zuständig ist. Eva ist im Service des Gastbetriebs tätig, auch Friederike und Jakob helfen fleißig mit, Ari baut auf einem nahe gelegenen Feld Bio-Produkte für die Küche an und auch die Söhne Jörg und Veit schauen regelmäßig vorbei. So haben alle sieben Ladurner-Kinder und wiederum deren Kinder ein Nahverhältnis zum Hof, Tschaufen ist der Lebensmittelpunkt der Großfamilie geworden. Zu verdanken haben sie das ihrer „Mutter Rosl, die, wie sie sagt, ein wohlmeinendes Schicksal hierher geführt hat.

    Als Rosl am 7. Dezember 1999 nach Tschaufen kam, um den Pachtvertrag zu unterschreiben, wusste sie: „Das ist ein Platz fürs Leben!" Den Mann fürs Leben hatte sie damals schon lange in Christoph gefunden. Trotz der sieben Kinder half sie im gemeinsamen Sanitätshaus in Meran mit, aber ein großer Traum war noch offen. Sie hatte sich immer schon für Landwirtschaft und Tiere, insbesondere Pferde, interessiert und auf einem Bauernhof

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