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April in Stein
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April in Stein

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"April in Stein" erzählt vom (Über-)Leben im Zuchthaus, von Zwangsarbeit und politischem Widerstand, vor allem aber erstmals vom Massenmord in Krems.

Während der NS-Gewaltherrschaft war das Zuchthaus in Krems-Stein das größte der "Ostmark". Hier wurden Regimegegner eingesperrt - Kommunisten und "Saboteure", Widerständler aus Österreich und Osteuropa. Am 6. April 1945 öffnet der Gefängnisdirektor angesichts der vorrückenden Roten Armee die Tore der Haftanstalt, doch SS, SA und lokale Bevölkerung jagen und ermorden Hunderte politische Häftlinge in einem beispiellosen Massaker. Einigen gelingt die Flucht, einige überleben versteckt im Keller, und ihre Berichte bilden die Grundlage von Robert Streibels vielstimmigem Panorama.

am 6. April 2015 ist der 70. Jahrestag des Häftlingsmassakers von Krems-Stein
LanguageDeutsch
Release dateMar 3, 2015
ISBN9783701744992
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    April in Stein - Robert Streibel

    Rand.«

    1. Ankunft in Stein

    Als Leopold Hart im Jänner 1945 zum zweiten Mal auf dem Bahnhof in Krems ankommt, hat er ein Lied auf den Lippen. Es ist so etwas wie eine Heimkehr, er weiß, was ihn im Gefängnis erwartet. Er ist sicher, dass er wieder in eine Gemeinschaftszelle kommt, hoffentlich geben die Politischen den Ton an, aber ein paar ehrliche Einbrecher wären sicherlich für Geschichten gut, sie verkürzen die Zeit zwischen Dämmerung und Morgengrauen. Vor Messerstechern und Mördern hat er Angst. Doch den Grund für seine Verhaftung trägt keiner auf der Stirn, und bis man weiß, warum jemand eingesperrt ist, vergehen oft Tage und Wochen und die Meinung über den Zellengenossen hat sich längst geformt, im Guten wie im Schlechten. Leopold Hart ist kein Neuling mehr, die Verhöre, der Keller des Gestapo-Gefängnisses am Morzinplatz, das Landl und dann Stein. Ihn kann fast nichts aus der Ruhe bringen, wenn er nur seine Gedanken im Zaum halten kann. Er hat sich vorgenommen, nicht darüber nachzugrübeln, wer ihn verraten haben könnte. Dass er überwacht worden ist, ist für ihn ausgeschlossen, irgendjemand muss in den Verhören seinen Namen genannt haben. Er hatte niemand verraten, auch nicht, als er geschlagen wurde. Wer hat »gespieben«? Vielleicht ist es besser, den Namen nicht zu wissen. Mit dieser Gedankenkette muss Leopold Hart leben, hat er gelernt zu leben. Das bringt ihn nicht mehr aus der Fassung, aber als es Mitte 1944 nach einem Jahr in Stein geheißen hat, er käme auf Transport, da quälte ihn die Frage: wohin? Diese Ungewissheit ist ärger als alles, was er in der Vergangenheit erlebt hat. Diese Ungewissheit ist seine Zukunft oder eben sein Ende. Dass Häftlinge in Konzentrationslager verlegt wurden, war bekannt, dass das schlimmer war als Gefängnis, war ihm klar, zurückgekommen ist noch keiner, um darüber zu berichten.

    Karl Rudolf Marischler war im Jänner 1945 ins KZ Mauthausen gekommen, Franz Häberle war ebenfalls ins KZ Mauthausen überstellt worden und Otto Freund war von Stein nach Graz und von dort am 22. Jänner 1945 ins KZ Buchenwald verfrachtet worden.

    Verstehe einer die Logik der Nazis. Warum kam er auf Transport? Er wusste es nicht. Bisher musste man damit rechnen, wenn etwas vorgefallen war, wenn man beim Schmuggeln erwischt wurde, Streit mit einem Aufseher hatte oder wegen der Organisation von Lebensmitteln aus der Küche. Der Transport war eine Strafmaßnahme. Vielleicht brauchten sie einfach Platz in Stein und deshalb mussten einige Häftlinge verlegt werden, versucht sich Leopold einzureden. Der erste große Transport mit griechischen Häftlingen war am 13. April 1944 in Stein angekommen. Das stellte die Leitung des Zuchthauses vor eine organisatorische Herausforderung. Auf einen Schlag mussten 82 Häftlinge untergebracht werden. Dies war nicht einfach. Am folgenden Tag trafen weitere 9 ein. Bis Ende April waren es nochmals 25, im Mai waren 201 Neuzugänge zu verbuchen, im Juni 125 und im Juli nochmals mehr als 80.

    Zu Beginn des Jahres 1944 war Stein bereits mit Häftlingen überfüllt gewesen, Mitte des Jahres waren die Zellen bis an die Grenzen ihrer Kapazität überbelegt. Die Anweisung, Gefangene gleicher Nationalität zu trennen, um Solidarität erst gar nicht aufkommen zu lassen, war unter diesen Bedingungen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Als es nun also hieß, Leopold Hart und weitere 50 Häftlinge kämen auf Transport, da schwirrten viele Gerüchte durch die Zellen. Nach einer langen Fahrt erreichten die Häftlinge aus Stein Zwickau, wo sie für den Arbeitseinsatz bestimmt waren. Leopold Hart war Schlosser, er arbeitete in den folgenden Monaten in Zwickau im Auto-Union-Werk DKW und produzierte Gewinde für die Rüstungsindustrie. Jeden Samstag beim Appell wurden zur Abschreckung die neuen Todesurteile verlautbart, der Grund lautete immer Sabotage. Im Herbst 1944 erlebte Leopold die ersten Luftangriffe auf Zwickau. Während die DKW-Arbeiter Zuflucht in den Bunkern suchten, wurden die Häftlinge in ein umzäuntes Gebiet vor dem Werk gebracht, wo sie sich auf den Boden kauern sollten. Deutsche Luftabwehr oder Luftverteidigung gab es damals längst nicht mehr. Den Bombenangriff, bei dem 30 gestaffelt fliegende Maschinen das Auto-Union-Werk zerstörten, erlebte Leopold auf dem Boden liegend. Er hatte sich vorgenommen, zuzusehen, um Zeuge zu sein. Die Zerstörung würde den Gefangenen die Freiheit oder den sofortigen Tod bringen. Nach der ersten Welle war es mit der Beobachtung jedoch vorbei. Schutt, Staub und Trümmer flogen durch die Luft. Als die Häftlinge nach einer Stunde zurückgebracht wurden, waren vom Werk nur mehr Ruinen geblieben. Mit sieben anderen österreichischen Häftlingen wurde Leopold im Dezember 1944 abermals auf Transport geschickt. Wieder die Ungewissheit, wieder endloses Warten in der Kälte. Durch ein Guckloch im Waggon betrachtete er die Landschaft, fahl schien die Sonne, wie in Trance lehnte er an diesem Ausblick. Dass er längst nicht mehr die Sonne, sondern den Mond betrachtete, fiel ihm erst auf, als er durch ein Bremsen des Zuges mit dem Kopf gegen die Planke schlug. Im Bahnhof von Preßburg hat einer der Begleitpolizisten auf der Mundharmonika gespielt.

    Das Lied bekam Leopold nicht mehr aus dem Kopf. Als er das Lied zum ersten Mal im Radio gehört hatte, war er noch in Freiheit gewesen. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai.« Mit diesem Lied kam er nun am ersten Donnerstag des Jahres 1945 erneut in Krems an, die Häftlingstransporte waren durch die Weihnachtsfeiertage nur kurz unterbrochen worden. Mit ihm kommen etwa 40 weitere Häftlinge: Mehmed, Giuseppe, Arturo, Ivan, Chuy, Pietro, Rocco, Mijo, Jaroslav, Melodey, Louis, Tihomir, Dervis, Marian, Branko, Henri, Stefan, Karol, Hasan, Guy, Franz, Ladislaus, Angel, Ivan, Rudolf, Otto, Enrico, Ivan, Filip, Stjepan, Djördje, Eugen, Andreas, Nemad, Gottlieb, Ilija.

    Sie kommen aus den verschiedensten Ländern Europas und werden mit unterschiedlichen Zügen aus Wien oder St. Pölten nach Stein gebracht. Nur für Leopold Hart ist es fast so etwas wie eine Heimkehr, für alle anderen ist die Haftanstalt neu. Er kennt das Aufnahmeritual, eine Nacht verbringt er im Keller, am Freitagvormittag wird er als neunter Häftling in eine Sechsmannzelle verlegt. Drei Griechen, zwei von ihnen liegen am Fenster. Bei der Begrüßung hat er ihre Namen nicht verstanden, jetzt weiß er: Dimitri und Kostas dürften schon länger hier sein, Evangelos ist einen Tag vor ihm nach Stein gekommen. Im zweiten Stockbett, das ebenfalls vor das Fenster gestellt wurde, liegen der Bibelforscher Walter Schuster und über ihm der Kommunist Alois Westermann, der Dreher bei der Austro-Fiat war. In Stein hat er zuerst unter den Tschechen im Gustloff-Werk, in der Patronenfabrik gearbeitet. Der Mann über ihm ist Franz Strassak, wegen Feindsender-Hörens wurde er zu vier Jahren verurteilt. Er scheint krank zu sein, denn er kann sich nur mühsam aus dem Bett erheben. Über Evangelos liegt der Einbrecher Leopold Fuhrich. Und dann ist da noch der Valentin Wanger und über ihm ein leeres Bett. Die Letzten, die in die Zelle verlegt werden, bekommen die schlechtesten Betten, das ist für Leopold Hart keine Neuigkeit. Er und Evangelos liegen in unmittelbarer Nähe des Abortkübels.

    Walter Schuster wurde als Bibelforscher zu fünf Jahren verurteilt und ist sicher schon an die sechzig Jahre alt, er hat Briefe verschickt und zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen. »Als wahre Christen und Nachfolger Christi Jesu sind wir gottgeweihte Knechte, somit bereits Soldaten in der Armee seines Sohnes, angeworben als Glaubensstreiter.« Seit Mai 1944 teilt er die Zelle mit den zwei Griechen und predigt vom Beginn der Zeit des Endes. Obwohl sie nur Bruchstücke verstehen, redet er auf sie ein. Sooft man an der Zelle vorbeikommt, dringt der stoßweise Singsang Schusters wie das Rauschen einer Wasserleitung durch die Tür.

    Die beiden Griechen verstehen nur Christ und müssen sich nicht in den haarsträubenden Details der unsichtbaren Gegenwart Jesu verlieren. Beide sind alles andere als gläubig, aber ein Heiliger in der Zelle kann ebensowenig schaden wie ein Pope im Dorf. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich das kleine, dürre Männchen, an dessen Glatze einzelne dünne, weiße Haarsträhnen zu kleben scheinen und der Gott öfter im Mund führt als jedes andere Wort, als Prediger vorzustellen. Vielleicht ist es die Ehrfurcht vor dem Alter oder ein Tribut für die Ewigkeit, jedenfalls tritt Kostas dem älteren Zellengenossen häufig etwas von seiner Zigarettenration ab.

    Bereits nach wenigen Stunden in der Zelle glaubt Leopold Hart nur mehr Griechisch zu hören. Der Erzählfluss der drei scheint nicht zu enden. Dass ist verständlich, denn mit Evangelos gelangten die neuesten Nachrichten aus der Heimat ins ferne Stein an der Donau. Evangelos kommt nicht direkt aus Griechenland, sondern war in der Zwischenzeit auch in Ungarn inhaftiert gewesen. Er weiß mehr als alle anderen über die Lage in Europa und die Situation in Griechenland. Evangelos dürfte nicht aus politischen Gründen eingesperrt worden sein, sondern wegen Schmuggel oder Devisenvergehen, vermutet Leopold Hart.

    Kostas und Dimitri sind bereits seit Mai 1944 inhaftiert. Es ist mehr als bitter, kurz vor dem vermeintlichen Sieg über die deutschen Besatzer das Land verlassen zu müssen. Die Andarten, die Widerstandskämpfer, die für die Deutschen nur die »Banden« waren, beherrschten längst nicht mehr nur das Gebirge in Griechenland. Kostas hatte einige Monate hindurch am Militärflughafen in der Nähe von Athen gearbeitet. Zufällig war er bei einer Razzia der Deutschen im Kaffeehaus an der Ecke gegenüber seiner Wohnung aufgegriffen worden, um mit vielen anderen Aufräumarbeiten zu leisten. Damals war er bereits Mitglied der ELAS, der griechischen Widerstandsorganisation, gewesen. Nach zwei Tagen Zwangsarbeit für die Deutschen, an denen sie morgens mit dem Lastwagen abgeholt wurden, bestand die Möglichkeit, sich freiwillig für den Dienst auf dem Flughafen zu melden. Das war für Kostas eine einmalige Chance gewesen, Waffen für den Widerstand zu organisieren, in Holzbündeln hat er englische Granaten durch die Kontrolle geschmuggelt, später Fotos der deutschen Flugzeuge und der Anlagen gemacht. Auf dem Flughafen haben sie ihn nicht einmal dann erwischt, als er im Benzindepot Feuer gelegt hat. Verhaftet wurde er erst später.

    Leopold Hart ist tatsächlich in eine gläubige Gemeinschaftszelle verlegt worden: Alois glaubt an Stalin, der Bibelforscher an den Heerführer Jesus und Dimitri an Aris, den Partisanenanführer. Dimitri hat seinen Aris einer Ikone gleich neben seinem Bett an die Wand gezeichnet, die Umrisse seines Helden festgehalten, mehr Bart als Gesicht. Aris kämpft seit Jahren, er hat zu kämpfen begonnen, als seine Partei noch zögerte und meinte, die Zeit wäre noch nicht reif für den bewaffneten Kampf. Das hatte Dimitri an seinem Aris imponiert, dass er sich nicht um die Anweisungen der Intellektuellen aus der Stadt kümmerte, sondern das Ohr in den Häusern und Kneipen des Volkes hatte. Gegen die Krawattenträger, das war seine Maxime gewesen, und mit Verrätern und Kollaborateuren, da machte er kurzen Prozess. Dimitri konnte und wollte die Formulierung eines Vertreters des ZKs nicht für sich übernehmen: »Wir müssen höflich sein«, hatte dieser Tzimas, den sie Aris als Aufpasser in die Berge nachgeschickt hatten, gemeint und sich gegen »Rowdytum und Radikalismus« ausgesprochen. Höflichkeit gegen volksfeindliche Elemente? Was waren das für Töne? Die Folterknechte von Metaxa waren auch nicht höflich, und von Höflichkeit war ebenso keine Rede, als die Menschen im ersten Winter der italienischen Besatzung verhungerten, während die griechischen Großgrundbesitzer nichts von ihrem Reichtum abgaben. Daher galt für Dimitri: keine Pause im Befreiungskampf gegen den Kapitalismus, auch nicht während des Partisanenkriegs gegen die Besatzer. Wenn Dimitri versuchte, Kostas zu überzeugen, dann schien es den anderen, als wären Maschinengewehre in Anschlag gebracht worden.

    Evangelos hingegen brachte unglaubliche Nachrichten, die Engländer kämpften gegen die Widerstandskämpfer in Athen, die linken Partisanengruppen hatten nach dem Abzug der Deutschen im Oktober Athen bereits fast ganz unter ihrer Kontrolle, nur mehr ein Zehntel gehörte den britischen Truppen. Im Dezember 1944 hatte der offene Kampf begonnen, nachdem an einem Sonntag auf eine friedliche Demonstration geschossen worden war. Doch dann schickte Churchill Verstärkung. Dimitri hatte das dank seines Aris immer schon vorausgesehen. Churchill schickt Truppen und später den König und dann werden die gemeinsam gegen die Sowjetunion ziehen. Als die drei Griechen in Stein versuchen, sich aus den bruchstückhaften Informationen ein Bild der Lage zu machen, wissen sie noch nicht, dass in ihrem Land längst ein neuer Krieg begonnen hat. Deutsch verstanden die Griechen kaum, für eine politische Diskussion hätte es nicht gereicht. Vielleicht war das auch gut so, denn Alois Westermann hätte nicht geduldet, dass es angeblich Stalin war, der den Kampf des griechischen Widerstandes wie auch die Meuterei der griechischen Soldaten in Kairo als schädlich abgetan hatte. England bekam Griechenland zugeschlagen und dabei sollte es bleiben. So schwach hätte Alois nicht sein können, um seine Sowjetunion nicht zu verteidigen.

    Denn seit einigen Tagen fieberte Alois Westermann genauso wie sein Zellengenosse Franz Strassak. Das sonntägliche Schauspiel, das sich jede Woche wiederholte, bekamen beide daher nur im Dämmerschlaf mit, als Dimitri und Kostas am späteren Nachmittag ihr Lied anstimmten: »Synnefiasmeni kyriaki«. Alle griechischen Häftlinge in Stein warteten auf dieses Lied. Am Sonntag sangen sie vom bewölkten Sonntag, an dem der Himmel so trüb ist wie das Herz.

    Bewölkter Sonntag, du ähnelst meinem Herz

    in dem es immer bewölkt ist, bewölkt,

    bei Christus und der Heiligen Jungfrau

    Du bist ein Tag wie dieser, an dem ich meine Freude verloren habe

    Bewölkter Sonntag, Sonntag,

    du lässt mein Herz bluten, mein Herz bluten,

    Wenn ich dich verregnet sehe, komme ich nicht zur Ruhe

    Du machst mein Leben schwarz, mein Leben

    und ich seufze schwer, seufze schwer.

    Keine Strafmaßnahme hatte in den letzten Monaten diesen Akt des Widerstandes verhindern können. Wer sang? Wer stimmte das Lied an? Die Gefängnisleitung konnte es nicht feststellen, dafür war die Akustik des Hofes zu gut. Die Stimmen brachen sich an allen Wänden, und nach wenigen Momenten entstand der Eindruck, als würde der Gesang aus jeder Zelle dringen. Seitdem sich dieses Schauspiel ab dem Frühsommer 1944 jeden Sonntag wiederholte, ordnete der Direktor des Zuchthauses eine Untersuchung an. Er bekam eine Mitschrift des Textes. »Synnefiasmeni kyriaki / Miazeis me tin kardia mou / Pou ehei panda synnefia, synnefia / Hriste kai pa hriste kai panayia mou«. Da in diesem Lied auch von Christus und Maria die Rede war, schien eine kommunistische Agitation ausgeschlossen. So einfach war das Leben jedoch 1945 schon längst nicht mehr. Ob Kostas, Dimitri und Evangelos an diesem 7. Januar tatsächlich den Text leicht geändert hatten und vom »blutigen« Sonntag sangen, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden.

    Leopold Hart erfährt nach einigen Tagen, dass auch Kurt Hofer, der vor ihm verhaftet worden ist, in Stein sitzt. Welche Rolle Kurt in der Illegalität spielte, wusste Leopold nicht. Sie kannten sich vom Sport, sie spielten in derselben Mannschaft Feldhandball und das schon seit 1933. Sie wussten voneinander, dass sie Kommunisten waren, doch keiner von beiden fragte den anderen. Keiner von beiden wäre auf die Idee gekommen, dieses stille Übereinkommen zu beenden, weder 1934 noch nach 1938. Die Mannschaft änderte zwar den Namen, die Funktionäre wechselten, die Spieler blieben dieselben, sieht man von den durch Verletzungen bedingten Wechseln ab. Kurt hatte er zum letzten Mal beim Auswärtsspiel in Neunkirchen gesehen. Kurt war der letzte Mann. An diesem Tag hatte Kurt viele Bälle abgewehrt. Ein schöner Sieg, dank des Torwarts. Am nächsten Tag war Kurt der Erste, der verhaftet wurde. Kurt ist ein harter Knochen. Kurt würde niemanden verraten.

    Eine Woche später kam die Gestapo zu Leopold.

    2. Krems im Krieg

    Rolf Torring fällt aus dem Bett. Der Aufprall auf dem Dielenboden weckt niemanden in der kleinen Wohnung. Das dünne Heft ist Josef aus der Hand gerutscht und landet mit der gezeichneten Titelseite nach unten neben seinem Bett. Was wird die Zukunft bringen? Während es fast an Hochverrat grenzt, diese Frage außerhalb der Wohnung zu stellen, da dies Zweifel am Endsieg beinhaltet, ist für Josef zumindest eines klar. Die nächste Abenteuerserie mit Rolf Torring verspricht ihm ein Abenteuer in Indien, wenn er die notwendigen Pfennige auftreiben kann und ein Heft in der Trafik gegenüber der Schule bekommt. Obwohl die Serie seit 1939 eingestellt wurde, hat der Trafikant immer wieder neue Hefte für Josef unter dem Ladentisch. Dann kann er reisen, doch zuerst muss er gesund werden. Seine Mutter ist nicht begeistert, wenn er diese »Schundheftln« liest, wie sie zu sagen pflegt. Aber was versteht sie schon … Mit Rolf Torring und Bongo hat er schon die halbe Welt bereist. Wenn er krank ist, kann er die Geschichten auch im Bett lesen, er kann bei Licht einschlafen und muss nicht fürchten, dass die Mutter, bevor sie zur Schicht in die Tabakfabrik geht, das Heft entdeckt und vor ihm versteckt. Seit Tagen wird Rolf Torring daher von der Mutter als Gast in der Wohnung geduldet. Ihre Angst um den hoch fiebernden Buben ist groß und lässt sie alle Vorbehalte vergessen. Eine sonderbare Allianz ist es, die ihr Bub da geradezu vergöttert, Rolf Torring und seinen treuen Helfer Bongo, einen Schwarzen. Zumindest aber hat Josef den Wunsch, Segelflieger zu werden, aufgegeben. Nun liegt er fiebernd im Bett, keine Malaria in Indien, sondern eine Blutvergiftung in Stein.

    Durch ein Fernrohr betrachtet, stehen die Sterne ganz nahe beieinander, auch wenn Lichtjahre sie trennen. Von weit weg ordnet sich selbst das Chaos zu Sternbildern. Wenn im Jänner 1945 ein Blick aus unbeteiligter Distanz möglich gewesen wäre, die beiden Fiebernden wären als Nachbarn nebeneinandergelegen, nur wenige Meter entfernt: Alois Westermann wird in der Gefängniszelle vom Schüttelfrost geplagt, und zwei Häuserblocks weiter liegt der 13-jährige Josef in seinem kleinen Zimmer in einem ehemaligen Klosterhof von Stein. Beide werden vom selben Arzt, von Dr. Witter behandelt. Der Gefängnisarzt macht normalerweise keine Hausbesuche, aber als die Tabakarbeiterin Maria Streit nach ihrer Frühschicht in der Ordination gesessen ist, da hat er ihr versprochen, noch vorbeizuschauen, immerhin geht sein Bub mit dem Josef in dieselbe Klasse. Sonst verband die beiden Familien nichts, denn bei der Partei war die Streit nicht, das wusste Dr. Witter, ihr Mann hatte zwar zu den Illegalen gehört, aber das war lange her. Und war der Streit nicht bei der SA gewesen? Und hatte diese Maria nicht bei einem Juden gearbeitet? Antisemiten haben ein Gedächtnis wie Elefanten, sie vergessen nichts. Immerhin war ihr Mann jetzt bei der SS und kämpfte in Ungarn.

    Auf dem Weg zur Parteiversammlung im Gasthof Puchinger wird Dr. Witter bei der Tabakarbeiterin Station machen. Bevor er jedoch den fiebernden Josef besucht, hat Dr. Witter noch Alois Westermann von der Arbeit in den Nibelungenwerken befreit. Gebückt war der ohnehin nicht groß gewachsene Gefangene ins Arztzimmer im Gefängnis gekommen und gestöhnt hatte er. Wenn er ein Wort für ihn übrig gehabt und gewusst hätte, dass sein Gegenüber mit der Bemerkung: »Nur die Kundry stöhnt schöner« etwas anfangen hätte können, dann hätte er seinem Zynismus gewiss so beredt Ausdruck verliehen. Dr. Witter ist Wagnerianer, sein Sohn heißt Siegfried und die fünf Mädchen würden in jeden deutschen Eichenwald passen. Warum aber Richard Wagner bemühen, wenn es einfacher auch geht. Sein »Soll ich ihre Maße dem Tischler für den Sarg schon durchgeben?« war in Stein gefürchtet.

    Es ist schon früher Abend, als Dr. Witter in die Zweizimmerwohnung der Tabakarbeiterin Maria Streit kommt. Die Untersuchung dauert nicht lange, dass der Bub Fieber hat, das sagt der Griff an die Stirn, er beschränkt sich auf ein paar Fragen, wie lange er schon Fieber habe, und verspricht, übermorgen nochmals vorbeizukommen. In einem knappen Befehlston rät er zu Essigpatschen, wenn das Fieber in der Nacht höher werden sollte. Medikamente kann er keine verschreiben, aber das Fieber sollte in ein, zwei Tagen zurückgehen, das verspricht er ihr. Kein Grund zur Sorge. Dass Josef die linke Hand hinter dem Rücken versteckt und zum Pulsfühlen die andere hinstreckt, fällt weder Dr. Witter noch seiner Mutter auf. Die Revolverkugel steckt noch immer in Josefs Handballen. Gleich nach dem Unfall hatte er sich im Schock bemüht, die Kugel herauszumassieren, doch die Schmerzen, die sich nach einigen Stunden einstellten, ließen ihn seitdem vor derartigen Versuchen zurückschrecken.

    Vor drei Tagen war wieder einmal die Schule ausgefallen, Fliegerangriff. Sie waren in der Au herumgestreift. Josef und Fritz. Josef war der Kleinste und Fritz ein Steirer, dessen Vater im Stahlwerk in Lerchenfeld arbeitete. Es war eine Ehre, dass die beiden von den um drei Jahre älteren Burschen geduldet wurden. In der Nähe der Offizierslacke hatte einer der Anführer einen Revolver gefunden, eine Damenpistole, so wie sie in der Pfannl-Fabrik im Kremstal erzeugt werden. Jeder probierte den Abzug, doch nichts geschah. Josef war der Letzte in der Reihe, und als er mehrmals versuchte abzudrücken, krachte es, es roch nach Pulver und brachte ihm ein Schulterklopfen ein. »Schau an, der Pepi kennt sich aus.«

    Rolf Torring kennt keinen Schmerz und Josef lächelt sogar über die Anerkennung. Josef kennt die Geografie Indiens, über die Behandlung von Schussverletzungen hat er in den Rolf-Torring-Heften nichts gelesen. Vorgestern hat er Fieber bekommen und war im Bett geblieben, er hoffte, die Kugel werde wie ein eingezogener Schiefer in Kürze von selbst herauseitern und alles werde vorbei sein.

    Als Dr. Witter das Gasthaus Puchinger neben dem Kino im Stadtteil Und betritt, ist die Versammlung bereits zu Ende, schütter sind die Tische des Saals besetzt, kein Vergleich zu jenen Abenden, als die Wehrmacht von Sieg zu Sieg stürmte, als die Kinos noch spielten und die Wochenschau die Familien zu Hause an den Kämpfen zu Wasser und zu Land, in der Luft und in den Bergen teilnehmen ließ. Heute sitzt hier nur ein kleines Häufchen, wie bei der letzten Spendensammlung für das Winterhilfswerk, der Wagen war mit einer Tafel und Hakenkreuzfahnen geschmückt, zwei blonde Buben mit Fanfaren saßen drauf, eine Trommel gab es auch, doch das Pferd war ein klappriger Gaul, und der Lärm, den die Fanfaren und die Trommel machten, konnte das kleine Häufchen nicht vervielfachen. Sein Siegfried hatte zum ersten Mal die Fanfare geblasen, mit leuchtenden Augen ist er am Abend nach Hause gekommen, doch wie hätte er erst gestrahlt bei den großen Paraden im März 1938 auf der Adolf Hitler-Straße, da marschierten hunderte Fahnenträger in Reih und Glied, die neue Zeit und die Heilrufe am Straßenrand, eine Einheit, ein Schrei war das.

    Im Gasthaus Puchinger sitzt am Tisch neben der Tür der Gefängnisaufseher Bert Wagner und, wie könnte es anders sein, neben ihm Karl Sperber, sein treuer Begleiter im Dienst wie auch in der Freizeit. Vorne, beim Vortragenden des Abends, sitzt Walter Baumberger, der stellvertretende Direktor des Zuchthauses. Das Thema der Versammlung dieses 27. Januars 1945 lautet »Krems im Krieg«. Der Stadtarchivar Dr. Plöckner hat berichtet: Der Krieg gehört zu Krems wie der Wein und die Marillen zur Wachau. Er warnt vor den asiatischen Horden. Er wird wohl nichts anderes gesagt haben, als in der »Donauwacht« gestanden hat, denkt Dr. Witter. Die Fortsetzungsgeschichte zieht sich bereits einige Wochen hin. Die Einstimmung auf das Unvermeidliche. Dr. Plöckner und Baumberger sind in eine heftige Diskussion vertieft, wobei Letzterer offenbar versucht, einen Vorschlag abzuwehren. »Dafür haben wir keine Zeit, das ist ein Risiko, da muss ich die ganze Zeit einen Aufseher abstellen. Nur für so ein steinernes Trumm.« Dr. Witter hört nur den Satz: »Wir müssen auch an die Zeit nach dem Endsieg denken.«

    Dass der Endsieg nicht mehr kommen wird, wagt Dr. Witter nicht zu denken. Was wird geschehen, wenn die Front Wien erreicht? Welche Zukunft soll es dann für ihn und für seine Familie noch geben? Zyankali hat er sich schon besorgt, das ist die Versicherung, die er mit der Vorsehung abgeschlossen hat.

    Bevor Dr. Plöckner zu seinem Vortrag vor der Ortsgruppe der NSDAP Und im Gasthaus Puchinger ging, machte er einen kurzen Abstecher Richtung Zuchthaus. Er wollte sich den steinernen Bildstock vor dem Gefängnis ansehen, denn er war vom Oberbürgermeister der Stadt beauftragt worden, sich um die Sicherung der Kunstschätze für die Zeit nach dem Endsieg zu kümmern. Kein Wunsch, sondern ein Befehl. Der

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