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Der Campus Vienna Biocenter: Entstehung, Entwicklung und Bedeutung für den Life Sciences-Standort Wien
Der Campus Vienna Biocenter: Entstehung, Entwicklung und Bedeutung für den Life Sciences-Standort Wien
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Der Campus Vienna Biocenter: Entstehung, Entwicklung und Bedeutung für den Life Sciences-Standort Wien

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Die Life Sciences haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Disziplin entwickelt, der in der Forschungs- und Wissenschaftspolitik große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mit dem Campus Vienna Biocenter beherbergt die Stadt Wien einen international renommierten Standort, der universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen ebenso wie eine Fachhochschule, biotechnologische Firmen und Akteure aus dem Bereich der Wissenschaftskommunikation verbindet.

Der Campus gilt heute nicht nur als "Hot Spot" der Wiener Biowissenschaften und als einer der bedeutendsten Life Sciences-Standorte in Österreich. Von ihm sind immer wieder auch wichtige Impulse für die Forschungs-, Innovations- und Universitätslandschaft ausgegangen.

Die Studie von Maria Wirth zeichnet seine Geschichte von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart nach und verortet diese im forschungspolitischen Kontext. Sie beleuchtet die Genese seiner Institutionen und Gebäude im Zusammenspiel von Unternehmen, Politik und Wissenschaft und analysiert seine Bedeutung für den Forschungs- und Innovationsstandort Wien sowie die Universitäten.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateSep 2, 2013
ISBN9783706557238
Der Campus Vienna Biocenter: Entstehung, Entwicklung und Bedeutung für den Life Sciences-Standort Wien
Author

Maria Wirth

Dr. Maria Wirth ist Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die Geschichte wissenschaftlicher Institutionen, Demokratie- und Rechtsgeschichte sowie Biografieforschung.

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    Book preview

    Der Campus Vienna Biocenter - Maria Wirth

    Personenregister

    Einleitung

    Die Life Sciences oder Lebens- bzw. Biowissenschaften¹ haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Disziplin entwickelt, der in der Forschungs- und Wissenschaftspolitik in vielen Staaten und Kommunen eine große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Besonders der Biotechnologie,² die nach der Kerntechnik und Mikroelektronik bzw. elektronischen Datenverarbeitung zu den zentralen Schlüsseltechnologien nach 1945 zählt,³ wird weltweit ein enormes Wachstums- und Innovationspotential attestiert.

    Mit dem Campus Vienna Biocenter im dritten Gemeindebezirk beherbergt die Stadt Wien einen international renommierten Standort in genau diesem Bereich. Auf einem Gelände, das Hunderte WissenschaftlerInnen und Studierende aus über 40 Nationen versammelt, sind universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen ebenso wie eine Fachhochschule, biotechnologische Firmen und Akteure aus dem Bereich der Wissenschaftskommunikation angesiedelt.⁴ Die den Life Sciences oft zugesprochene (und auch von der Politik geförderte) Neigung zur Konzentration und Clusterbildung, die den Transfer und Austausch von Wissen erleichtern und vielfältige Möglichkeiten für Kooperationen ermöglichen soll, ist hier somit deutlich sichtbar.

    Wie ein Blick in den aktuellen Bericht über die Life Sciences in Wien zeigt, ist der Campus Vienna Biocenter nicht der einzige Life Sciences-Standort in Wien. So nennt dieser als weitere Life Sciences-Zentren bzw. „Hot Spots" der Wiener Biowissenschaften auch den Campus MedUni Wien (bzw. das AKH und die in seiner Umgebung angesiedelten Institute), den Campus Vetmeduni, die TU Wien und das an der Universität für Bodenkultur (Boku) angesiedelte Life Sciences-Zentrum Vienna Muthgasse.⁵ Der Campus Vienna Biocenter gilt jedoch als besonders wichtiges „Aushängeschild der Wiener Life Sciences-Szene und wird häufig als bedeutendster Life Sciences-Standort in Österreich bezeichnet.⁶ Wesentlich ist hierfür nicht nur, dass er maßgeblich dazu beigetragen hat, Wien auf der internationalen Life Sciences-Landkarte zu platzieren. Bedeutend ist vor allem, dass er – wie auch die nationalen und städtischen Forschungsprogramme der letzten Jahrzehnte belegen – ein wichtiges „Zugpferd für die Entwicklung Wiens zum Life Sciences-Standort war bzw. er darüber hinaus der gesamten österreichischen Wissenschafts- und Forschungslandschaft wichtige Impulse verliehen hat.⁷

    Im internationalen Vergleich hat die kommunale bzw. staatliche Förderung der Life Sciences bzw. Biotechnologie zwar verspätet eingesetzt. Heute zählt die Stadt Wien die Life Sciences – sowohl was den Wissenschafts- und Forschungs-, als auch den Unternehmenssektor betrifft – jedoch zu ihren wichtigsten Stärkefeldern. So beherbergt sie insgesamt 22 Forschungsinstitute mit Life Sciences-Schwerpunkten – darunter fünf Universitäten und zwei Fachhochschulen sowie 15 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen –, in denen mehr als 14.000 MitarbeiterInnen beschäftigt und 35.000 Studierende ausgebildet werden. In rund 400 Unternehmen – darunter 99 Firmen, die der Biotechnologie und Medizintechnik als Kernbereiche der Wiener Life Sciences zuzurechnen sind – arbeiten desweiteren mehr als 9.000 Menschen. An Fördermitteln haben allein die Wiener Fördereinrichtungen (Wiener Wirtschaftsförderungsfonds/WWFF bzw. Wirtschaftsagentur Wien/WAW, Zentrum für Innovation und Technologie GmbH/ZIT und Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds/WWTF) zwischen 1998 und 2009 117 Millionen Euro für Life Sciences-Projekte ausgegeben. Weitere 430 Millionen Euro hat die Förderbank Austria Wirtschaftsservice (AWS) in den letzten Jahren in die Life Sciences in Wien investiert.

    Sich mit dem Campus Vienna Biocenter zu beschäftigen, ist somit besonders vor dem Hintergrund dieser Entwicklung interessant. Seine Entstehungsgeschichte reicht in die 1980er Jahre zurück, als Wien im Bereich der Biowissenschaften nur wenig zu bieten hatte. Den Anfang machten das Institut für Molekulare Pathologie (IMP) sowie ein neues Universitätsgebäude. Ende der 1990er Jahre, als die Life Sciences und Biotechnologie sowohl von Seiten des Bundes als auch der Stadt Wien zu einem wichtigen Fördergebiet wurden, folgten die Gründungen der Biotech-Firma Intercell sowie jene von zwei neuen Instituten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Mit Intercell, dem Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) und dem Gregor Mendel Institut für Molekulare Pflanzenbiologie (GMI) erhielt der Campus nicht nur neue Akteure, sondern auch neue Gebäude. Zugleich wurde mit der Bildung von dialog<>gentechnik der Erkenntnis Folge geleistet, dass Wissenschaft und Forschung auch einer modernen Wissenschaftskommunikation bedürfen und erste Pläne für die späteren Max F. Perutz Laboratories (MFPL) als heutigem Joint Venture der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien entwickelt. Weitere Gebäude für Firmen, darunter auch das erfolgreiche Biotech-Start-up AFFiRiS, und akademische Institutionen folgten. Zuletzt wurde mit dem Bau des Solaris-Gebäudes und der Marxbox sowie der Entwicklung und Umsetzung der „Vision 2020" nicht nur dafür Vorsorge getroffen, dass Raum für ein weiteres Wachsen vorhanden ist, sondern der Campus auch in Zukunft auf moderne Facilities zurückgreifen kann.

    In der Medienberichterstattung nimmt der Campus Vienna Biocenter seit vielen Jahren – nicht zuletzt deshalb, da eine Reihe wichtiger Wissenschaftspreise an seine Institute gegangen sind und er „Vorzeigefirmen" im Bereich der Biotechnologie beheimatet – einen fixen Platz ein. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm ist abgesehen von einer 2004 an der Universität Wien approbierten Diplomarbeit,⁹ auf Grund seines jungen Alters und den damit verbundenen Problemen beim Zugang zu wichtigen Unterlagen jedoch bis jetzt ausgeblieben.¹⁰ Die vorliegende Studie unternimmt einen Versuch, diese Lücke zu schließen und die Geschichte des Campus Vienna Biocenter von seinen Anfängen bis herauf in die Gegenwart (mit Abschluss Ende 2012) nachzuzeichnen.

    In einem ersten Kapitel erfolgt eine kurze Beschreibung des Geländes, auf dem sich der Campus Vienna Biocenter befindet und dessen historischer Entwicklung. Der Campus soll eingangs somit im Stadtgebiet und dessen Geschichte verortet werden, da diese in seinem Zusammenhang nicht nur immer wieder angesprochen wird, sondern auch in seiner Selbstdarstellung eine wichtige Rolle spielt.¹¹ Ihm angeschlossen sind eine Darstellung der Geschichte des Campus Vienna Biocenter, seiner Institutionen und Gebäude, wobei die wichtigsten Entwicklungslinien im Kontext der nationalen und städtischen Wissenschafts- und Innovationspolitik beleuchtet werden. Besondere Beachtung kommt hierbei der „Frühgeschichte" des Campus und dem Zusammenspiel von Wissenschaft, Unternehmen und Politik, den Universitäten am Campus, den wichtigsten hier ansässigen Firmen und seiner Bedeutung für die Wissenschafts-, Forschungs- und Innovationspolitik zu. Desgleichen verfolgt die Studie insofern einen biographischen Ansatz, als jene Personen vorgestellt werden, die zentral für die Geschichte des Campus sind, seine Entwicklung bestimmt, ermöglicht oder mitgetragen haben.

    Die Studie wurde durch eine finanzielle Unterstützung von IMP, MFPL, WWTF und der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7), Wissenschafts- und Forschungsförderung, ermöglicht und begleitet von einem Beirat bestehend aus Mag. Harald Isemann (IMP), Univ.-Prof. Dr. Andrea Barta (MFPL), Dr. Michael Stampfer (WWTF) und Dr. Rupert Pichler (BMVIT) durchgeführt. Sie stützt sich – soweit ein Zugang zu schriftlichen Quellen möglich war – auf Aktenmaterialien, die Medienberichterstattung und eine Reihe von Interviews. Wichtige Dokumente konnten insbesondere im Archiv des IMP und jenem der Universität Wien, in den Rektoraten der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien sowie der Magistratsabteilung für Finanzwirtschaft und Haushaltswesen (MA 5), dem WWTF und der Raumabteilung des BMWF eingesehen werden.¹²

    Ich danke allen Institutionen und Personen, die trotz vorhandener Schutzfristen einen Zugang zu projektrelevanten Unterlagen ermöglicht und mich bei der Recherche unterstützt haben bzw. bereit zu einem Interview waren: Univ.-Prof. Dr. Peter Swetly; Univ.-Prof. Dr. Gottfried Schatz (Universität Basel); Univ.-Prof. Dr. Max Birnstiel, Dr. Heidemarie Hurtl, Mag. Harald Isemann, Gerti Kölbl, Univ.-Prof. Dr. Kim Nasmyth, Prof. Dr. Nikolaus Zacherl (IMP); Univ.-Prof. Dr. Andrea Barta, Georg Bauer, Univ.-Prof. Dr. Roland Foisner, Dr. Barbara Hamilton, Mag. Claudia Kögler, Univ.-Prof. Dr. Karl Kuchler, Univ.-Prof. Renée Schroeder, Rektor Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Schütz, Univ.-Prof. Dr. Tim Skern, BM a. D. Univ.-Prof. Dr. Hans Tuppy, Univ.-Prof. Dr. Georg Winckler, Univ.-Prof. Dr. Erhard Wintersberger (Universität Wien, Medizinische Universität Wien, MFPL); Univ.-Prof. Dr. Arndt von Haeseler, Dr. Heiko Schmidt (CIBIV); Mag. Thomas Maisel, Michaela Nußbaum (Archiv der Universität Wien); Mag. Dieter Spadt (RRM der Universität Wien); Univ.-Prof. Dr. Alexander von Gabain, DI Olivier Jankowitsch, Mirja Kokkonen (Intercell); Julia Bock, Dr. Walter Schmidt (AFFiRiS); Manuela Ringbauer, MSc (Vienna Open Lab), Dr. Evelyn Breiteneder, Dr. Stefan Sienell, Univ.-Prof. Dr. Werner Welzig (ÖAW); VB Mag. Renate Brauner; VB a. D. Dr. Sepp Rieder; OAR Gerhard Kammerer (MA 5); Kathrin Harrauer (MA 27); Mag. Christian Bartik (ZIT); Ing. Robert Wolfgring, Mag. Gerhard Hirczi, Mag. Martin Pahr (WWFF/WAW); Dr. Heinrich Berg (WStLA); Dr. Michael Stampfer (WWTF); BM a. D. Dkfm. Ferdinand Lacina; BM a. D. Dr. Caspar Einem; SC i. R. Dr. Wolf Frühauf; SC Mag. Friedrich Faulhammer (BMWF); Mag. Hana Keller, Thomas Helesic, Dieter Lautner (ÖStA/AdR); Dipl.-Ing. Martin Reishofer (FFG); Mag. Werner Matt (Stadtarchiv Dornbirn); Mag. Regina Wonisch (VGA); Prof. Karl Hauer (Bezirksmuseum Landstraße).

    1 Unter dem Begriff „Life Sciences werden alle Wissenschaften zusammengefasst, die mit dem Leben und seinen Prozessen im Zusammenhang stehen. Hierzu gehören etwa die Biologie, Ökologie, Medizin und Veterinärmedizin. Der Begriff „Life Sciences umfasst die Grundlagenforschung ebenso wie die industrielle F&E, Biotechnologie und Medizintechnik.

    2 Die Biotechnologie verbindet Erkenntnisse aus Biologie und Biochemie mit technischer Nutzbarkeit. Biologische Systeme, lebende Organismen oder deren Produkte werden für technologische Herstellungsverfahren und Anwendungen genutzt. Die moderne Biotechnologie arbeitet vor allem mit Methoden der Gentechnik und Molekularbiologie. Fälschlicherweise wird „Biotechnologie häufig mit „Life Sciences gleichgesetzt.

    3 Wieland, Thomas, Neue Technik auf alten Pfaden? Forschungs- und Technologiepolitik in der Bonner Republik. Eine Studie zur Pfadabhängigkeit des technischen Fortschritts, Bielefeld 2009.

    4 Vgl.: http://www.viennabiocenter.org

    5 LISAvienna, Vienna Life Science Report. Sector Survey: Facts and Directory 2011/2012, Berlin 2011, 14f.

    6 Vgl. etwa: http://www.wien.gv.at/forschung

    /staerkefelder/lsfoerderungen.html (14.11.2012).

    7 Dies hat zuletzt auch der aus Österreich stammende Nobelpreisträger Eric Kandel im Rahmen der Tagung „Der lange Schatten des Antisemitismus" am 11.10.2012 im Archiv der Universität Wien betont.

    8 LISAvienna, Vienna Life Science Report. Sector Survey: Facts and Directory 2011/2012, 4 und 6ff.

    9 Fischl, Iris, Der „Campus Vienna Biocenter". Zur politischen Strategie der Clusterbildung in der Biotechnologie, Univ. Dipl.-Arb., Wien 2004.

    10 Das österreichische Bundesarchivgesetz und auch das Wiener Archivgesetz sehen eine Schutzfrist für Unterlagen, die jünger als 30 Jahren sind, vor. Um diese Unterlagen trotzdem einsehen zu können, sind Sondergenehmigungen erforderlich. Zusätzliche Schwierigkeiten kann bei so jungen Unterlagen die Frage bereiten, wo sich diese – bereits im Archiv oder noch bei der Akten produzierenden Stelle – befinden.

    11 http://www.viennabiocenter.org/sites/about

    /history.html (15.11.2012).

    12 Keinen Aktenzugang hat – trotz einer Unterstützung von IMBA und GMI – die ÖAW für Unterlagen gewährt, die die Entstehungsgeschichte dieser beiden Institute betreffen. Die Ablehnung des Ansuchens auf Akteneinsicht hat die ÖAW damit begründet, dass sie sich der herrschenden Rechtslage in Österreich bzw. den geltenden Schutzfristen anschließt.

    1. Der Standort – das Gelände des Campus Vienna Biocenter und seine historische Entwicklung

    Der Campus Vienna Biocenter befindet sich im dritten Wiener Gemeindebezirk. Zwischen äußerem Rennweg, Landstraßer Hauptstraße (bzw. der parallel zu ihr verlaufenden Dr. Bohr-Gasse) und Viehmarktgasse gelegen, befindet er sich auf einem Areal, das heute zum pulsierenden Stadtentwicklungsbiet Neu Marx zählt. Als der Campus in den 1980er Jahren auf den Gründen der ehemaligen Hornyphon-Fabrik zu entstehen begann, zeigte es sich jedoch als verlassenes Industriegelände am Stadtrand, das direkt an den Schlachthof St. Marx grenzte.

    1.1. Das Siechenhaus St. Marx

    Dort, wo heute die Landstraßer Hauptstraße und der Rennweg aufeinander treffen, befand sich ab Mitte des 13. Jahrhunderts ein Siechenhaus des Lazarus Ordens, in dem – weit weg von der historischen Stadt – ansteckende Krankheiten und die Pest gebannt werden sollten. Eine ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts dokumentierte Kapelle, die dem Heiligen Markus gewidmet war, wurde im Volksmund bald „St. Marks genannt und hat später dem gesamten Stadtteil seinen Namen gegeben. Das Siechenhaus wurde 1394 zum Bürgerspital zu St. Marks, in dem vor allem Arme betreut wurden und 1529 zur Kampfstätte während der ersten Türkenbelagerung Wiens. 1683, während der zweiten Türkenbelagerung, wurde das Spital weitgehend zerstört, in den Folgejahren als St. Markser Bürgerspital aber wieder aufgebaut und um ein Gebäude für Geisteskranke erweitert. 1728 erhielt es die Aufgabe, die Kranken aus den Gefängnissen und Bettelkottern, „Verruckte, Aussätzige, gebrechliche Armen und „schwangere Weibspersonen" aufzunehmen. Nach der Eröffnung des Allgemeinen Krankenhauses 1784 bzw. der Übersiedlung der Kranken, Irren und Gebärenden in dasselbe wurde das St. Markser Bürgerspital bis zu seiner Schließung 1861 zum Versorgungshaus St. Marks und diente somit als Altersheim.¹³

    1.2. Die Marxer Brauerei

    Die im Areal dieser Anlage befindliche Bierbrauerei wurde ab 1840 von Adolf Ignaz Mautner – zunächst als Pächter, später als Besitzer – sukzessive ausgebaut.¹⁴ Dokumentiert ist eine Brauerei auf dem Gelände des Siechenhauses bereits seit dem 14. Jahrhundert, später hatte das Armenhaus das Recht, Bier zu brauen auch aus dem Grund, um nicht von Spenden allein abhängig zu sein. Die Marxer Brauerei umfasste ab 1861 das gesamte Areal des ehemaligen Bürgerspitals und war um die Jahrhundertwende nicht nur eine der größten Brauereien der Monarchie, sondern die drittgrößte Europas.¹⁵

    Abbildung 1: Eingangstor zur Marxer Brauerei

    Nachdem diese 1913 mit der Schwechater Brauerei und der Brauerei Simmering zur Vereinigten Brauereien Schwechat, St. Marx, Simmering – Dreher, Mautner, Meichl Aktiengesellschaft fusioniert und in Schwechat zentralisiert worden war,¹⁶ wurden die Gebäude in St. Marx als Wohnung genutzt und während des Zweiten Weltkriegs auch als Lager für Zwangsarbeiterinnen verwendet. Das ehemalige Bürgerspital bzw. die Marxer Brauerei erlitt in Folge der Kriegshandlungen so große Schäden, dass die Gebäude zu Beginn der 1950er Jahre abgebrochen werden mussten. Mitte des Jahrzehnts wurden auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei Gemeindebauten errichtet. Benannt wurde die von der Architektengruppe Franz Mörth, Friedrich Albrecht, Alfred Bartosch, Rudolf Jarosch und Ferdinand Zimmermann geplante Wohnhausanlage nach dem Erfinder der Nähmaschine Josef Madersperger, der einst der prominenteste Bewohner des Versorgungshauses St. Marx war.¹⁷

    1.3. Das Hornyphon-Werk von Philips

    Im Anschluss daran entstand das so genannte Hornyphon-Werk von Philips, das in mehreren Ausbaustufen nach Plänen von Karl Kupsky erbaut wurde.¹⁸

    „Hornyphon" leitet sich von Friedrich Horny ab, der 1923 mit der Herstellung von Radios begonnen hatte, die unter dem Namen Hornyphon bzw. Horny bald als Qualitätserzeugnis im In- und Ausland vertrieben wurden. Die Produktion der Geräte erfolgte zunächst bei der Firma Kertel im vierten Gemeindebezirk (Starhemberggasse), später in der Penzinger (Wien 14) und Westbahnstraße (Wien 7). 1934 war Friedrich Horny in Folge einer Produktionsausweitung auf Radiomöbel¹⁹ und des rasant steigenden Umsatzes gezwungen, seine Produktionsstätte erneut zu erweitern. Er mietete die ehemalige Lokomotivfabrik der Staatseisenbahngesellschaft im zehnten Wiener Gemeindebezirk, auch diese Fertigungsstätte wurde jedoch bald zu klein und musste weiter ausgebaut werden. Dass die starke Expansion den finanziellen Rahmen der Firma gesprengt hatte, zeigte sich bereits wenig später. Die Firma Philips, die seit 1933/34 zum Hauptlieferanten für Radioröhren bei Horny geworden war, wurde zunächst zum größten Gläubiger von Hornyphon, später zu dessen Käufer. Friedrich Horny hielt nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft zwar noch einige Anteile selbst, 1936 ging Hornyphon jedoch vollständig in den Besitz von Philips über. Hornyphon erhielt kommerzielle und technische Freiheiten innerhalb des Philips-Konzerns und blieb als eigenständige Marke bestehen, womit eine erfolgreiche Zweitmarkenpolitik eingeleitet wurde, die bis in die 1980er Jahre Bestand haben sollte.

    Die Übernahme von Horny passte Philips Mitte der 1930er Jahre gut ins Konzept. Der niederländische Konzern hatte seit Anfang 1926 eine Niederlassung in Wien, die vorerst nur als Vertriebsorganisation eingerichtet worden war, und nun konsequent erweitert wurde. Ab 1928/29 wurde eine eigene industrielle Entwicklung durch den Ankauf der Fabrik des Radiopioniers Eduard Schrack eingerichtet. Philips gründete zusammen mit Schrack die Radiowerke E. Schrack Aktiengesellschaft und erwarb die leer stehende Fabrikanlage der Firma Zeiss in Wien-Penzing (Abbegasse) für die Fertigung von Radioröhren. Nachdem sich Schrack 1936 aus der Kooperation mit Philips zurückgezogen hatte, gingen die Radiowerke Schrack – wie auch Hornyphon – zu 100 Prozent in den Besitz von Philips über. Zum gleichen Zeitpunkt wurde aus dem Radiowerk Schrack die Wiener Radiowerke Gesellschaft m.b.H. (WIRAG, 1962 in Bandgerätewerk Wien umbenannt).

    Nach dem Zweiten Weltkrieg war das WIRAG-Werk in Penzing von größten Schäden verschont geblieben, während das Horny-Werk in der Südostbahngasse in Trümmern lag. Um den Betrieb wieder aufnehmen zu können, erfolgte zunächst eine Übersiedlung in ein Miethaus im fünfzehnten Bezirk (Giselhergasse 11). Ab Mitte der 1950er Jahre wurde dann das neue Hornyphon-Werk in St. Marx errichtet, nachdem Philips wenig zuvor am Rennweg 95a bereits eine Glasfabrik in Betrieb genommen hatte. Neu angelegt wurde in diesem Zusammenhang auch die Dr. Bohr-Gasse, die nach dem Arzt Oskar Bohr (1858–1935) benannt wurde. Eingegangen in die Stadtgeschichte ist er vor allem wegen seiner großen Popularität bei der Bevölkerung, die er auf Grund seines sozialen Engagements erreicht hat – hatte er arme und bedürftige Personen doch immer wieder gratis behandelt.²⁰

    Abbildung 2: Das Hornyphon-Werk von Philips

    In den folgenden Jahren wurde Horny immer mehr zum Radiowerk innerhalb von Philips Österreich, während die WIRAG ihren Schwerpunkt auf die Bandgeräteentwicklung und -produktion legte. Bereits ein Jahr nach der feierlichen Eröffnung der ersten Baustufe des neuen Werkes in der Dr. Bohr-Gasse (1955) wurde das erste Volltransistor-Autoradio vorgestellt. Gleichzeitig war Horny auch mit der Produktion von Transistor-Portable-Geräten erfolgreich, die in den 1950er und 1960er Jahren besonders bei Jugendlichen beliebt waren und sich zum Statussymbol einer ganzen Generation entwickelten. Ende der 1960er Jahre wurde verstärkt auf die Produktion von Fernsehgeräten gesetzt, womit aus dem Radiodas Fernsehwerk wurde. Mit dem Beginn des Videozeitalters wurde in der Dr. Bohr-Gasse schließlich auf Videoproduktion umgestellt; der letzte Farbfernseher wurde hier 1978 produziert. Das neue Videowerk sollte aufgrund fehlender Erweiterungsmöglichkeiten jedoch nur kurze Zeit in der Dr. Bohr-Gasse beheimatet bleiben. Bereits 1979 wurde im 23. Bezirk mit dem Bau einer neuen Produktionsstätte begonnen. 1985 folgte in unmittelbarer Nachbarschaft der Spatenstich für die neue Elektronikfabrik, die das alte WIRAG-Gebäude ersetzen sollte. Schließlich zogen auch die Philips Data Systems in die neue Philips-Stadt am Wienerberg, wo sich seit 1965 auch die neue Philips-Zentrale befand.²¹

    Der Wiener Gemeinderat hatte der schenkungsweisen Überlassung des neuen Philips-Geländes im 23. Bezirk (Gutheil-Schoder-Gasse) im Ausmaß von rund 150.000 m² zum Wert von 63.000.000 Schilling bereits am 27. November 1978 zugestimmt und gleichzeitig einstimmig beschlossen, das frei werdende Areal in St. Marx im Ausmaß von 30.607 m² zu einem Gesamtpreis von 209.800.000 Schilling erwerben zu wollen.²² Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass Philips eine „neue Produktionsstätte von europäischem Format für 3.000 MitarbeiterInnen bauen wollte, nachdem im dritten Bezirk bis dato 2.200 MitarbeiterInnen beschäftigt waren. Festgehalten wurde zudem, dass sich Philips auch in anderen europäischen Städten umgesehen hatte. Mit der großzügigen Unterstützung, die „alle bestehenden Förderungsinstrumente der Stadt Wien sprengte, wollte man Philips in Wien halten.²³ Der dem Gemeinderatsbeschluss vom 27. November 1978 entsprechende Kaufvertrag zwischen der Österreichischen Philips Industrie Ges.m.b.H. und der Stadt Wien wurde im Jänner 1982 abgeschlossen.²⁴ Im Mai 1984 wurde das ehemalige Philips-Gelände in St. Marx entsprechend dem Beschluss des Gemeinderats vom 4. Mai 1984 dann als unentgeltliche Nachdotation in das grundbücherliche Eigentum des Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF) übergeben.²⁵ Die ehemalige WIRAG-Fabrik ging im Zuge der Errichtung der neuen Philips-Stadt am Wienerberg hingegen in den Besitz der Republik über, nachdem der damalige Finanz- und Wirtschaftsstadtrat Hans Mayr (1973–1994, ab 1984 auch Vizebürgermeister) auf den Bund Druck ausgeübt hatte, die Verlegung bzw. Zentralisierung der alten Philips-Standorte in Wien ebenfalls zu unterstützen.²⁶

    Der neue Eigentümer des Hornyphon-Geländes, der WWFF, war Ende 1981 vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung (auch in Folge des zweiten Erdölpreisschocks 1979) gegründet worden. Als wirtschaftspolitisches Instrumentarium sollte er der Wiener Wirtschaft neue Impulse geben und damit die Investitionstätigkeit anregen. Entstanden ist er aufgrund einer Initiative von Hans Mayr mit der Intention, Betriebsansiedlungen in Wien zu unterstützen bzw. hierfür eine zentrale Anlaufstelle für Beratung und Förderungen zu schaffen.²⁷ Neben der Wiener Stadtverwaltung waren die Kammer für Arbeiter und Angestellte, die Kammer der Gewerblichen Wirtschaft für Wien, der Österreichische Gewerkschaftsbund, die Vereinigung Österreichischer Industrieller, Zentralsparkasse und Kommerzialbank, Wien und die Erste Österreichische Spar-Casse an seiner Gründung beteiligt. Ausgestattet mit einer Gründungsdotation von 450 Millionen Schilling – bestehend aus Geld- und Sach-, d. h. Liegenschaftsdotationen – sollte er nach der von der Wiener Landesregierung am 9. Dezember 1981 genehmigten Satzung insbesondere folgende Aufgaben übernehmen: den Erwerb von bebauten und unbebauten Grundstücken, die für die Ansiedlung von Betrieben geeignet sind, die Verwaltung von stadteigenen Betriebsgründen und -objekten, die Mitwirkung bei der Erschließung von Betriebsgründen, die Bereitstellung von aufgeschlossenen, baureifen Betriebsbaugründen für förderungswürdige Industrie-, Gewerbe- und Großhandelsbetriebe, die administrative Abwicklung von Struktur verbessernden Wirtschaftsförderungsaktionen der Stadt bzw. die Einleitung von Förderungen durch diese.²⁸ Zum ersten Geschäftsführer des WWFF wurde Robert Wolfgring bestellt. Als Präsident/in des WWFF fungiert seit dessen Gründung der/die amtierende Stadtrat/Stadträtin für Finanzfragen.

    1.4. Der Schlachthof St. Marx

    Parallel zum Ausbau der Marxer Brauerei entstand in unmittelbarer Nachbarschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Schlachthof St. Marx, der bald als „Bauch von Wien" bezeichnet wurde und in den folgenden Jahren zu einem Synonym für den Südosten der Stadt wurde. Die Entstehung des Schlachthofes ist einerseits vor dem Hintergrund der wachsenden Bevölkerung Wiens im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung zu sehen. Andererseits trugen eine Modernisierung des Städtebaus und – der internationalen Entwicklung folgend – neue Hygienevorstellungen dazu bei, dass die Stadt die Regelung der Schlachthausangelegenheiten selbst übernahm. Das erste Schlachthaus an der heutigen Stelle Schlachthausgasse-Viehmarktgasse wurde zwischen 1846 und 1851 erbaut. Im Mai 1877 beschloss der Gemeinderat der königlich-kaiserlichen Reichshaupt- und Residenzstadt die Errichtung des

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