Die Gedichte
By Rainer Malkowski and Nico Bleutge
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Book preview
Die Gedichte - Rainer Malkowski
Rainer Malkowski
Die Gedichte
Mit einem Nachwort
von Nico Bleutge
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zweite Auflage 2012
© Wallstein Verlag, Göttingen 2009
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-0523-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2458-9
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2459-6
Inhalt
Was für ein Morgen (1975)
Einladung ins Freie (1977)
Vom Rätsel ein Stück (1980)
Zu Gast (1983)
Was auch immer geschieht (1986)
Das Meer steht auf (1989)
Ein Tag für Impressionisten und andere Gedichte (1994)
Hunger und Durst (1997)
Die Herkunft der Uhr (2004)
Nachwort von Nico Bleutge
Verzeichnis der Gedichttitel und -anfänge
Inhalt
Was für ein Morgen
Für Margarete
Laufende Untersuchung
Mein Schrank kann nichts dafür
meinem Tisch kann ich keinen Vorwurf machen
auch Stühle und Sessel
sind außerhalb jeder Verantwortung
sollten aber Pfannen und Töpfe
schuld daran sein
daß ich nicht mehr leben mag in meinem Haus:
ich werde es schon noch herausfinden.
Schlechter Esser
Stockige Luft,
in der zwei mal zwei vier ist.
Die eiserne Klammer um meinen Kopf.
Wenn ich sie löse,
zerplatzt er.
Und schneller
als mein Nachbar über der Suppe
erstaunen kann,
sind alle meine Gedanken
in zwanglose Winde zerstreut
– und ich mit ihnen:
unauffindbar
unter zufälligen Planeten.
Auf der Strecke
Mäßiges Schnitzel vor Ulm.
Im Zwielicht
die entzündeten Augen eines Signals,
das auf Rot steht.
Wir alle
müssen einmal sterben,
sagen die Überlebenden.
Der Zusammenstoß war laut
und vermeidbar.
Nur der Familienvater mit der
Verbundscheibe im Hals
sah verwundert aus.
Aber, nicht wahr:
so sind die Lokomotivführer heute.
Alles wissen sie,
und es hilft ihnen nichts.
Wüßte ich einen
Dies ist ein Morgen
zu schön
um nicht an den Tod zu denken.
Die fabelhaft indirekte
Beleuchtung,
die Wolkenschollen
locker im Blau.
An einem Morgen wie diesem
fuhr ich durch Simmering;
sah Grabmal und Küchenkraut.
Sah die erbitterte Steinmetzfrau
staubwischen
auf den Schultern der Engel.
Wüßte ich einen –
ich gäb ihm meinen Tag
unbenutzt.
Ausgrabung
Gestern haben sie hier ein antikes
Theater ausgegraben,
fast zweitausend Jahre alt.
Aber das ist nicht das Erstaunlichste:
auf der untersten Steinstufe
fanden sie
ein nahezu vollständiges Skelett.
Offensichtlich ein Zuschauer, der sich weigerte,
zu glauben,
daß alles aus ist.
Leichenzug
Gleichschritt.
Die Frau, die ins Schweigen
ihr Taschentuch verliert.
Die Delle in der Tuba.
Die schaufelnden Schuhspitzen
des Pfarrers –
Wär ich so jung
wie der picklige Meßbub vorn.
Er kämmt mit den Fingern
gelangweilt den Scheitel.
Kinderfoto
bis an die Hüfte reicht
das Gras dem Knaben
er sieht den Vögeln zu
wer darum weint
wird der nicht Flügel haben
der Knabe geht
mit einem Traum zur Ruh
Wollte ich heute sein wie am Anfang
Am Anfang hatten sie keinen Teller für mich,
denn ich war ihnen nicht ähnlich.
Da begann ich mich zu verstellen.
Ich lernte die Suppe zu löffeln wie sie.
Jedes Jahr wurde ich ihnen ähnlicher,
und eines Tages
heiratete ich die Tochter des Kochs.
Wollte ich heute sein wie am Anfang:
ich müßte mich wieder verstellen.
Erst wenn der Schlüssel verlegt ist
wenn die Tür Rost ansetzt in den Angeln
wenn Radio und Fernsehen gesperrt sind
und natürlich das Telefon
wenn der Briefträger nicht mehr klingelt
wenn die Freunde verreist sind
wenn die Nachbarn sich abgewöhnt haben
nach dir zu fragen
erst dann
dann vielleicht
wird sich herausstellen
was du bist
ein Ruf
oder ein Echo
und ob dein Ohr fein genug ist
das zu entscheiden.
Ich trete meine Uhr in den Sand.
Ich will mir den Baum nicht merken,
unter dem ich meinen Anzug ablege.
Und wenn ich hinausschwimme,
höre ich nichts als den Wind.
Unablässig
durchwühlt er die Zweige nach seinem Namen.
Verlassene Wallfahrtskirche
Dieser Platz, groß genug
für zehn oder zwölf Busse:
jetzt
mit toten Blättern bedeckt.
Im Pfarrhaus drüben
eine fleischige Hand an der Gardine.
Was ist zu halten von Bittgängern
außerhalb der Saison?
Die eisenbeschlagene Tür
ruckt zögernd ins Schloß;
unsicher über das Maß
an Stille, das mir zumutbar ist.
Ob Gott an mich glaubt?
Ich zähle die Rautenfliesen
im Mittelgang.
Es ist sehr weit
zu den Gesichtern der Heiligen
und dem Altartuch, das steif
vor Kälte
um den Marmorblock steht.
Wo Raum ist
Nicht in Häusern, nicht in Worten,
nicht unter Händen im Dunkeln –
wo der Horizont mitwandert,
wo alle Ziele gleich weit sind,
wo Raum ist
und keine Herberge, wo kein Strauch
die Unendlichkeit bedeckt,
da ist Zuflucht.
Ich trage meine Unruhe über die Felder,
und sie steigt auf mit den Krähen.
Versuch mit Zürich
Hier, im Goldenen Winkl,
wurde Gottfried Keller geboren.
Leberli
ißt man in der Reblaube vorzüglich.
Darf ich Ihnen mehr zeigen?
Vielleicht den schwimmenden Käfig
der Frauenbadeanstalt.
Oder möchten Sie die patriotischen
Brunnen besehen?
Ich habe sie gezählt
an einem leeren Novembertag.
Meine Zufälligkeit,
abgespiegelt in den Scheiben
honetter Juweliere und Confiserien,
zwingt mich zur Präzision.
Wenn es auch wenig hilft,
diese oder eine andere Stadt
auswendigzulernen
gegen das Fremdsein.
Stilleben
Der Mond scheint
auf die halbleere Bierflasche
vor mir.
Wie lange schon?
Irgendwann diese Nacht
ging der Ofen aus.
Irgendwann diese Nacht
hörte die Uhr auf zu ticken.
Irgendwann diese Nacht
hatte ich eine Verabredung mit mir
und bin nicht gekommen.
Stadtrand vor Tag
Hundertstimmig schreien die Vögel
in den verlassenen Gärten den Tag herbei.
Dir bleiben noch drei Stunden Schweigen.
Dann werden die Brötchen vor die Tür gelegt,
der Nachbar läßt sein Auto an:
du gehst von dir fort
und lebst.
Morgende gibt es
leicht weiß
da
scheint alles möglich.
Gestern abend, zum Beispiel,
habe ich lange daran gedacht.
Einmal, auf einem Sandberg
Einmal, auf einem Sandberg,
an einem heißen Sommertag an der Havel,
habe ich einen gelben Vogel erfunden
als ich noch jung war.
Der flog nur für mich
und meine Freunde
und starb im Schilf bei Lindwerder
am Abend des Tags.
Nun weide ich ihn aus.
Pfadfinder rückwärts
Immer wieder die Rucksäcke,
die man als Junge
keuchend über Chausseen trug,
alte Kähne im Spreewald,
das Oberschenkelreißen
in zu enger Schulbank.
Die Lucies und Marions
auf Kellertreppen
und unter Kirschbäumen.
Krankenzimmer, Schläge,
Hoffnungen,
in eine Tapete geritzt.
Der erste Schreibtisch, Verse,
eine Silbe, die nicht auf der Zunge zerging.
Ich sagte, er sagte,
wir taten, wir unterließen:
dieses ganze verdammte
Wiederkäuen der Vergangenheit bis
sie immer schmackhafter wird.
Sonnenaufgänge
und -untergänge,
die kühle Zwiesprache,
nachts,
mit dem Brunnen in Goslar.
Reisen, Räusche
und hastig abgeworfene Bettdecken.
Pfadfinder rückwärts –
immer
über die eigene Fährte gebeugt.
Ja, da ist einer gegangen und also
lebt er.
Lebt er auch heute?
Heute, ein Tag,
der verdeckt
geschieht.
Morgen, das ist
die Zeit bis zum Tod.
Kartographie
Frag mich
oder frag mich nicht –
mein Lindos
wirst du nicht finden.
Anders die Krüge,
anders die Schwellen
und anders,
später,
werden die Läden
gegen die Mauer geschlagen
für eine kurze Spanne Tanz
und Gelächter
hinter dem Rücken
der Ewigkeit.
Frag mich
oder frag mich nicht:
kein Ort, an dem wir
wirklich
gewesen,
ist auf der Karte verzeichnet.
Nach Art der Familienfotografen
Ganz schön von Zeit zu Zeit
den Finger auf die Karte legen
und sagen zu können: hier
war ich.
Weißt du noch – Attersee?
Der Auspuff war kaputt.
Wir warteten in dem Gasthof,
in dem Gustav Mahler drei Sommer lang –
oder waren es vier?
Magda Schneider
saß unter den Kastanien
und wehrte mit dem Bierfilz
die Wespen ab.
Mir fiel eine ins Glas.
Kurz darauf,
mittags, feuriges Geläut
über dem Feld.
All das am Rande.
Du kennst ja die ungeschickte Art
der Familienfotografen.
Ganz vorne ein Bootssteg, ein Dampfer
und irgendwo hinten
der,
auf den es ankommt:
ein schwer erkennbarer Mensch
mit Brille und Hut.
Lektüre bei Schnee
Es führt keine Spur zu mir
durch den Schnee.
Wen könnte ich herbeiwünschen?
Die Wirklichkeit
ist eine fremde Erzählung auf meinen Knien.
Selbst die Fabelwesen in ihr
leben.
Tagebuch
Wir verstehen uns nicht,
das ist gut.
Lange glaubte ich,
es gäbe vielleicht eine Brücke
von dir zu mir.
Ich schlief unruhig.
Ich hoffte mich krank.
Nun schneide ich mir Weiden
und pfeife
im Dickicht des Ufers.
Mit deinen Augen
Einmal war ich dir nah.
Ich durchwuchs dein Fleisch.
Ich legte meine Lider
genau unter deine.
Zusammen schlugen wir die Augen auf
und ich sah:
drei Schritte weiter ein Korbstuhl,
darin ein Mann,
der Zeitung las.
Schwere Zigarre
Schon seit zwei Jahren
möchte ich ein Gedicht über eine Zigarre machen.
Aber eher
spießt man die flüchtige Liebe aufs Wort
als daß mit Silben
eine 70er Fehlfarbe gelingt, eine veritable,
verstehen Sie, eine mit Rauch
und Effekt:
genußvoll nimmt sie der Leser
meinem Gedicht aus der Hand.
Die Liebe, denkt er und zieht mal:
na, ich weiß nicht,
aber die Fehlfarbe hier
brennt verläßlich und gut.
Wir zwei
Sie und ich zusammen in einem Raum
das sind zwei Personen.
Sie allein in einem Raum
und ich allein in einem Raum
das sind zwei andere Personen.
Sie allein in einem Raum
und ich allein in keinem Raum
oder umgekehrt oder anders
oder früher oder später –
wir zwei
sind nicht zu zählen.
an eine die nicht gemeint ist
du bist schön
du bist hochbeinig
glatthäutig im blauen Tuch
ich bin
zu jeder Vokabel bereit
hilf
meiner ermatteten Sehnsucht
hilf ihr weit
über dich hinaus
zu mir
Auf dem Friedhof St. Margarethen
Wange an Wange sehen wir:
im Beinhaus die Schädel
der Ungeliebten.
Hüftknochen, um die
nie zärtliches Fleisch war.
So sicher urteilen
über die Lieblosigkeit der Liebe
die Liebenden.
Mitten in einen Vers
Mitten in einen Vers
über die Vergeblichkeit menschlicher Beziehungen
klingelt das Telefon.
Sollen wir kommen? fragen die Freunde.
Ja, rufe ich erleichtert, ja!
Und der Vers bleibt auf dem Schreibtisch liegen,
wo er eine Weile verstaubt.
Was ist mit denen
die unbeschwichtigt ausfahren
nur für eine Stunde
und sie kommen nicht zurück?
Und was mit denen die
warten
das Wort auf der Zunge?
Die Zeit wird fleckig
auf ihren Händen.
Ach, sagen sie:
so viele Jahre vergingen?
Und erleichtert
zerfallen sie zu Staub.
Was geht er mich an?
Wie wichtig ist ihm, was
mir
wichtig ist?
Und doch schreckt mich, er könnte
entmutigt stehenbleiben –
er,
da drüben,
auf der anderen Straßenseite,
der sich wie ich
stemmt gegen den Novemberwind.
Dame im Museum
Das ist ein Tag, wie sie ihn liebt:
Stille und ein schwacher Geruch
nach Bohnerwachs.
In den Akazien draußen
stoßweise Wind.
Der Wächter auf seinem Stuhl
ist eingeschlafen.
Keine Schulklasse heute.
Niemand da, der sie stört,
wenn sie sich von den alten Meistern
Stunde für Stunde
dasselbe Rätsel aufgeben läßt.
Sommer
Spiegelnde Chaussee
unter der Julisonne.
Mein Schritt
klopft Nägel in die Luft.
Ein Fenster schlitzt
erschrocken den Mittag.
Im Schatten der Kammer
schlägt die Bäuerin das Kreuz.
Ihr träumte,
es hätte der letzte Mensch
die Erde
schon gestern verlassen.
Dorfstraße,
von den Schatten verlassen.
Der zögernde Schritt einer Katze
erprobt
die Dehnbarkeit der Zeit.
so einfach ist das
ein Stuhl eine Blume
ein gefüllter Teller
ein geschlossener Mund
eine Hand die sehr weiß ist
ein Bild ein Baum
eine Note
dies alles will nichts und
heißt nicht
und segelt lautlos durch den Tag
Vor Würzburg ohne Posaunen
Der Main
stellt Pappeln auf und
strömt
gegen die Fahrtrichtung.
Aber der Wind
faltet die Bäume zusammen.
Erzähl mir nicht,
es sei
etwas jenseits des Flusses
außer Campingwagen
und flatternder Wäsche.
Die Welt,
eben noch zugfenstergroß,
geht klanglos unter
mit dem sinkenden Lid.
Meistens gebe ich mir vorher
ein Pensum auf.
Aber wenn ich den verwachsenen Jagersteig geh,
vergesse ich,
was ich herausfinden will.
Denke nur: die Häuser
liegen so klein im Tal.
Und bin sonderbar getröstet
über die Richtigkeit dieser Banalität.
Später
raste ich in einem Holzschlag.
Döse,
höre: die Schafe
schellen über den Berg.
Was für ein Morgen
Was für ein Morgen!
Die Sonne kam
als wir sie schon nicht mehr auf unserer Rechnung hatten.
Jetzt den Rücken hinhalten
und stillsein.
Carl Philipp Emanuel Bach ist an der Reihe.
Er begleitet uns zu Honig auf Toast
und schwarzem Kaffee.
Sonata d-Moll. Es geht uns zu gut
für gebotene Präferenzen.
Erleichtert,
mit triumphierend geschlossenen Augen
nehmen wir Abschied von allen Plänen.
Jeder für sich:
auf glückliche Weise
verschollen in seinem Stuhl.
Samstag, Bahnhofstraße
Welche Erleichterung auf einmal,
samstags, im Menschengewühl
der Bahnhofstraße,
wenn der Blick auf die steinernen Züge
der Brunnenfigur fällt.
Unbewegt
lächelt die Nymphe ins Leere;
keinem Ziel ergeben,
das läppisch ist.
Die ist nicht von mir.
Die las ich bei Becker.
Die Geschichte des Mannes,
der ein Jahr lang nichts anderes
tat
als den Baum
vor seinem Fenster zu fotografieren.
Ich finde, das ist
eine gute Geschichte.
Einer erzählt sie dem andern
und schweigt dann und wünscht
sich auch
für soviel Hingabe
einen Gegenstand.
Interview zum Neunzigsten
70 Jahre Arbeit – unbeirrt:
ein schwerer Stand für den Reporter,
einen Mann im Alter
der Absichtserklärungen.
Die Schmetterlinge, Käfer und Bienen
in den Glaskästen an der Wand
geben sich für eine Anklage nicht her.
Sie verlassen das Arbeitszimmer.
Gehen im rauchenden Morgen
den privaten Uferweg.
Haben Sie sich nie
für Politik interessiert?
Nein, sagt der alte Mann.
Aber glauben Sie nicht,
daß eine solche Haltung der Professoren
den Nationalsozialisten die Machtübernahme
erleichtert hat?
Möglich, sagt der alte Mann.
Sie steigen ins Boot,
und der Alte rudert den Jungen
höflich über den See.
duldsamer Himmel
der da selig in sich
über das Feld stolpert
den brockigen Acker
der Ausflügler an Föhntagen
im jungen November
unter einem Himmel der postkartenblau
ist und duldsam
aus sehr großer Höhe –
der Einzelne der nichts
beiträgt
zur Lösung der Fragen
die in