Das Gebet der Gebete: Gedanken zum Vaterunser
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Der württembergische Landesbischof beleuchtet die einzelnen Bitten und zeigt, welcher Schatz in ihnen verborgen liegt. Bezüge zu unserem heutigen Alltag sowie Erlebnisse und Erfahrungen des Autors ergänzen die biblische Auslegung. Auf diese Weise wird das Vaterunser für Sie ganz neu lebendig, Ihr Gebetsleben wird bereichert.
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Book preview
Das Gebet der Gebete - Frank Otfried July
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Das Vaterunser – das „Gebet der Gebete"?!
In Stuttgart, wo ich wohne, gibt es im Rathaus einen sogenannten Paternoster. Es ist eine Aufzugform, die heute sehr selten geworden ist. Man kann – so man in eine Kabine gelangt ist – darin bleiben und weiterfahren, so lange man möchte. Wie Perlen an einer Schnur sind die Kabinen aneinandergereiht und bringen die Passagiere von Stockwerk zu Stockwerk.
Auch die Bitten des Vaterunsers sind nacheinander aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Mich erinnert das an die Praxis der Gebetsschnüre. Und tatsächlich gibt es im katholischen Brauchtum eine Paternosterschnur, eine Art Zählschnur für das Beten. Bestimmte Kugeln auf der Schnur deuten an, dass nun das Vaterunser (lateinisch: Paternoster) gebetet werden soll. Davon abgeleitet hat der Paternoster seinen Namen erhalten. Das Vaterunser war also ein so geläufiges Gebet, dass es diese Assoziation ausgelöst hat: Bitten wie Perlen an einer Schnur.
Christen sprechen viele verschiedene Gebete. Sie beten täglich, wöchentlich, hin und wieder. Sie beten in sehr persönlichen Worten, sie verwenden vorformulierte Gebete. Sie danken in Situationen des Gelingens, der Bewahrung, der Gesundung. Sie suchen Trost und Kraft in Herausforderungen und in Situationen des Scheiterns, in Krankheit, Tod und Abschied.
Christen beten überall auf dieser Welt. Sie versammeln sich, formulieren gemeinsam Fürbitten, um Gott in der Ungerechtigkeit, Gewaltsamkeit oder sozialen Not ihres Lebens um Hilfe zu bitten: Sie beten für das Kommen einer neuen Wirklichkeit, die die Wirklichkeit dieser Welt beendet. Ob persönlich oder gemeinschaftlich: Christen sprechen Gebete – authentisch, persönlich, anrührend, bewegend.
Ist der Titel dieses Buches – Das Gebet der Gebete – nicht anmaßend, weil er die tausenden Bittrufe jedes Tages mindert, während er das Vaterunser als qualitative Steigerung behauptet? Weil er das Gebet der Gebete als Gipfel betrachtet, um alle anderen Gebete als überwundene Stufen des Betens anzusehen?
Ja und Nein. Ja, weil natürlich jedes Gebet, und sei es nur ein verzweifelter kurzer Hilferuf, vor Gott zählt. Und Nein, weil uns diese Formulierung letztlich auf den verweist, der als Jesus von Nazareth Gottes Nähe unter den Menschen gezeigt hat, der das Gesicht Gottes in Zeit und Geschichte ist.
Jesus Christus redet zu den Menschen, verkündigt das Reich Gottes und zeigt, dass es in ihm schon angebrochen ist. Er heilt, spricht Menschen von ihrer Schuld frei, ruft zur Umkehr und zum Neubeginn mit Gott auf. Er geht mit ihnen den Weg des Lebens. Auf diesem Weg gibt er ihnen – wenige – Worte des Gebets. Denn weniger ist mehr. Er schenkt sie, damit Menschen Worte für Gott haben, auch wenn sie sprachlos sind.
Deshalb dürfen wir Jesu Worte „das Gebet der Gebete" nennen: Jesus selbst betet es uns vor. Wir können es beispielsweise sprechen, wenn uns kein eigenes Wort mehr zur Verfügung steht. So lässt es uns nicht in Sprachlosigkeit fallen.
Das Vaterunser ist das Gebet, das die Christenheit seit 2 000 Jahren betet. Ein universales Gebet. Nicht nur im historischen Horizont, auch im gegenwärtigen. In dieser Welt wird sicher zu jeder Zeit an irgendeinem Ort das Vaterunser gebetet. Ob persönlich, ob in Andachten, ob in Kirchen vor der versammelten Gemeinde, ob im Stillen oder öffentlich. Erklingt es auf der einen Seite der Erde als Abendgebet nach einem langen Tag, so stehen am anderen Ende schon Menschen auf, um das Vaterunser als Morgengebet zu sprechen.
Schon als Kind beeindruckte mich – manchmal mehr als die lange und schwierige Predigt des Pfarrers –, wenn nach längeren Fürbitten „endlich das Vaterunser gesprochen wurde. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass das Ende des „Erwachsenengottesdienstes
nun absehbar war. Wie auch immer: Alle sprachen gemeinsam dieses Gebet, das Vaterunser. Alle konnten es, auch die, denen ich das vielleicht nicht zugetraut hätte. Alle beteten es, und die Glocken läuteten dazu. Ich stellte mir vor: Jetzt sprechen wir wie Gott; Gott selbst ist da in diesem Gebet. Es läutet. Wie bei meiner katholischen Tante bei der „Wandlung in der Messe. Bei „uns
ist Gott im Vaterunser da.
Diese kindliche Faszination, die sicher nicht nur ich empfunden habe, hat sich mit den Jahren ein wenig verändert. Und dennoch: Es ist und bleibt für mich das Herrengebet.
Es gibt aber auch andere Erfahrungen: Für manche Christinnen und Christen klingt das halblaute Gemurmel wie ein halbherziges Herunterleiern von Formeln, die sie gar nicht mehr füllen können. Manchen fehlt der innere Bezug zur Bedeutung der Worte, die da gesprochen werden. Schuld, Versuchung, Reich – diese religiösen Begriffe sind im Alltag fast nicht mehr vorhanden. Sie müssen neu mit Erfahrungen und