Geschrieben für dich
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Book preview
Geschrieben für dich - Sylvia Brownrigg
FRAUEN IM SINN
Verlag Krug & Schadenberg
Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)
Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben
Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.
Sylvia Brownrigg
Geschrieben für Dich
Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Krug
K+S digital
Für eine Freundin
PROLOG
Was würde geschehen, wenn ich einige Seiten für dich schriebe? Jeden Tag eine Seite, um dir zu zeigen, dass ich eine Geschichte finde, die Geschichte, wie wir einst hätten zusammensein können. Wie wir zusammensein könnten.
Wir werden nie zusammensein. Sweetheart. Ich bin zu spröde, zu verhalten, zu schroff. Und du bist alles in allem zu verheiratet. Für diejenigen unter uns, die diesen Zustand nicht aus eigener Erfahrung kennen: Er segelt an uns vorüber wie ein Kreuzfahrtschiff, alle Lichter brennen, die Party in vollem Gange, während das Wasser dir sanft oder stürmisch erlaubt, darüber hinwegzustreichen. Wir winken von unserer selbstgefälligen oder vielleicht einsamen Küste, warten, bis die seezerteilende Helligkeit ihre silbrige Musik hat verklingen lassen, und wir bleiben allein in der Dunkelheit zurück, auf dem Trockenen, um unsere mitternächtlichen Erkundungen ungehindert fortzusetzen.
Er ist ein wunderbarer Mann, dein Jasper, nicht dass ich ihn kennen würde. Ich weiß um seine Vorzüge, weil er dich erstrahlen lässt – man erblickt sein Licht durch deine Gestalt und insbesondere dein Gesicht, wenn du Geschichten von euren gemeinsamen Abenteuern erzählst: Klippen und Waldspaziergänge und gewundene, kühle mittelalterliche Gassen. Vergissmeinnicht-Meere, gesäumt von herzensreinen Stränden, auf denen ihr beide euch schweigend oder redend in der Sonne ausstreckt. Galerien und nächtliches Bummeln, Konzerte und Festessen. Sprache und Reisen, und die vielen Weisen, auf denen ein Paar sich begegnet. Diese Erzählungen werden so lebendig durch deinen begehrten Mund und das Wesen deiner Augen, dass ich sie sehen kann, Filme in meinem stillen Geist, die ich abspiele, wenn ich zu Hause bin, mich in meinen leeren Räumen rege und darauf warte, dass mein eigenes Schiff einläuft.
Es wird kommen. Irgendwo wird sich ein Platz für mich finden. Irgend jemand wird auf diesem oder jenem Deck eine Extrakoje finden, oder jemand wird zum Glück in letzter Minute abspringen. Wer weiß, vielleicht bekomme ich sogar einen Platz am Tisch des Kapitäns zugewiesen, um mich unter all die uniformierten Typen und ihre Frauen zu mischen. Nein, der Tisch des Kapitäns ist vermutlich nicht für mich bestimmt. Vielleicht eher etwas wie Tisch Dreizehn, mit den Versicherungsvertretern und medizinischen Exzentrikerinnen, die mich als Geschichtenerzählerin feiern – Wirklich! Wie wundervoll! Erzählen Sie, welche Art von Geschichten? – und wo ich mein Mineralwasser trinken darf, ohne allzu viele Umstände zu verursachen. Ich werde an meinem Tisch an Bord sitzen und dir still zuprosten, über die Meere hinweg, dahin, wo du an deinem funkelst.
Bis dahin habe ich Genüsse für dich in petto. Eine vollkommene tieflila Aubergine; karamellisierten Fenchel; Röstkartoffeln mit Rosmarin; zur Erinnerung. Koriander-Orzo mit Huhn und Okra. Kiwis und Tangerinen. Kuchen saftig vor soviel Ingwer und Butter, wie sich eine Frau nur leisten kann, um etwas duftend Gewürztes und Verlockendes zu erschaffen, einen Geschmack, der dich an ein spätes Glas Wein und stimmungsgelöste Glieder erinnert: jene Frage in den Augen oder die zufällige Berührung eines Armes durch eine andere Hand. Der nie geküsste Kuss. Die entflammte Vorstellungskraft.
Genug. Genug. Die kulinarischen Genüsse sind echt oder werden es sein. Hier nun sind deine Seiten.
ERSTER TEIL
Bunt verstreut wie Konfetti lagen die Blätter auf dem Gehweg, als sei soeben ein Umzug vorübergekommen, und Flannery meinte noch nie im Leben solche Farben gesehen zu haben. Sie würden sich vertiefen und eindringlicher werden, wie Flannery wusste, warme Orange- und Granatapfeltöne, und sie konnte es kaum erwarten. Wie jedes andere eindrückliche Erlebnis lag dieser Anblick noch vor ihr. Doch schon bedeckten die Blätter goldruten- und walnussfarben den Boden, und oben in den Bäumen (sie blickte himmelwärts) fand sie unendliche Grünschattierungen, sämtliche Apfel- und Limonen- und Melonenfleischtöne, die sie sich nur vorstellen konnte. Sie waren so schön, dass sie sie am liebsten verspeist hätte oder eingeatmet, in sich aufgenommen, zu einem Teil ihrer selbst gemacht hätte. Wenigstens wollte sie sie niemals vergessen. Sie befahl ihrem Erinnerungsvermögen, sie zu bewahren; später mochte eine Zeit kommen, in der sie ihren Trost brauchte.
Sie stammte von einem Ort, an dem Herbst das Herannahen von Feuchtigkeit und Nebel bedeutete, die erneute Zähigkeit des Schuljahres: eine schlichte, öde Last auf Schultern und Hoffnung. Etwas ganz anderes als diese Leuchtkraft des Lichts und den frischen Biss der Kälte in die Wangen, ein spielerisches Zwicken, ein Liebesbiss eher als ein ernsthafter Schlag, der vor dem herannahenden Winter warnte. Sie war der hiesigen Winter noch nicht müde, da sie noch keinen erlebt hatte. Sie wusste, dass die nahende Pracht Tod und Verfall bedeutete, die Verheißung von eisgefangenen Ästen und schlüpfrigschwarzen Straßen, doch sie brachte es nicht fertig, die ihr innewohnende Trauer zu verspüren. All die Lebendigkeit vermochte sie nur als Heiterkeit zu deuten. Nicht als Melancholie.
Flannery überließ sich den Filmklischees vom Osten, wie sie sie als Tochter des Westens erfahren hatte. In ihren Turnschuhen kickte sie das Laub. Sie grub die Hände in die Taschen ihres Mantels, der ein ernstes Gewicht besaß, das ihr ungewohnt war. Sie wusste, dass diese Herbstpracht, die sie auf einen unerhörten Gipfel des Glücks trug – von dem sie unverhofft einen vollen Panoramablick hatte; sie erkannte die Gestalt ihrer Zukunft, den weiten Wirkungskreis der ihr bevorstehenden Städte und Tage – sie wusste, dass sie nie wieder einen solchen Höhepunkt reinen, sinnlichen Vergnügens erleben würde. Nie wieder in ihrem ganzen Leben.
Sie war siebzehn. Sie hatte im Grunde keine Ahnung von irgendwas. Und sie war im Begriff, jemandem zu begegnen – buchstäblich hinter der nächsten Ecke.
Mit dieser Person erwartete sie ein neues und vollkommen ungeahntes Glück.
Um die Ecke befand sich ein Diner. Diner: Schon allein die Wörter waren neu hier, als befände sie sich in einem anderen Land, und genau so fühlte sie sich jede einzelne Minute. Sie war mit Coffeeshops aufgewachsen, nicht mit Diners. Sie hatte keine Grinders gegessen, sondern Submarine Sandwiches. Sie hatte noch nie, nicht eine Sekunde lang, in Erwägung gezogen, ein Geleeomelette zu essen.
Dieser Diner nannte sich Yankee Doodle, ein fröhlicher Name, der der gedrückten Düsterkeit des Lokals Hohn sprach. Das Yankee Doodle hatte Geleeomelettes auf seiner Speisekarte, und Flannery kam sich verwegen vor, als sie Platz nahm. Sicher, sie hätte ein getoastetes Kleie-, Mais- oder Blaubeermuffin bestellen können – egal, es war im Grunde alles ein und dasselbe, und sie meinte den knusprigen gebutterten Rand dieser wohlgeformten Rundstücke bereits zu schmecken –, doch noch immer trug sie die goldene Pracht der Blätter in ihren Gedanken, und so sagte sie zu der sauertöpfischen Bedienung, die, vor Ungeduld geladen, wartete:
»Ein Geleeomelette, bitte. Und ein Glas Orangensaft.«
Die Kellnerin nickte, kritzelte auf ihren Block und verschwand hinter dem engen Formica-Tresen, an dem einige jackettragende Gestalten über heißen Getränken und Doughnuts hingen oder über Hash Browns mit ketchupblutigen Eiern. Einen gebeugten Mann in weißem Hemd, dessen kahl werdender Schädel von dampfenden Fettwolken gezeichnet war, wies die Kellnerin mit unnötiger Lautstärke an:
»Geleeomelette!«
Das Wort, absurd, wenn man es aussprach, vor allen Dingen so laut und mit der gelangweilten Stimme der Bedienung, hatte einen Vorzug: Es erregte die Aufmerksamkeit einer Person, die an einem Tisch in einer nahegelegenen Ecke saß, einer Person, vor der Flannery sich ansonsten vielleicht hätte verbergen können, als sie in den vertrauten Zustand linkischer Befangenheit versank.
Schwarz gekleidet, Kaffee trinkend, eine Zigarette rauchend. In ein Buch vertieft – zumindest bis »Geleeomelette!« sie aus ihrer Konzentration riss. Dank einer gnädigen Ahnung bemerkte Flannery die Leserin einen Moment bevor »Geleeomelette!« gebellt wurde, so dass sie ihren Blick bereits auf den eleganten herbsttonfarbenen Schopf gerichtet hatte und sich schon neugierig fragte, um welches Buch es sich da handeln mochte.
Die grünen Augen blickten irritiert auf, um zu sehen, wer um alles in der Welt eine solche Bestellung aufgegeben haben mochte.
Flannery erblickte die Augen der Leserin, ihre katzengrünen Augen, und hielt den Atem an. Niemals zuvor im Leben – zumindest nicht seit dem Laub – hatte sie eine solch herzzerreißende Farbe gesehen.
Auf den grünglitzernden Spott – Flannerys Frühstücksbestellung war vom Standpunkt einer Erwachsenen kaum zu begreifen – antwortete das hungrige Mädchen mit einem verlegenen Lächeln und einem entschuldigenden Schulterzucken. Ich kann es nicht ändern, versuchte Flannery zu vermitteln. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Es erfolgte kein Lächeln im Gegenzug. Das flüchtige Aufblicken der Leserin war so kurz, dass Flannerys Schultern noch hochgezogen waren, als jene Augen bereits wieder auf die Buchseiten zurückkehrten und die ernsten Lippen einen tiefen Zug von der Zigarette nahmen.
Oh. Gott. Diese Lippen. Es war die Zigarette, die Flannerys Aufmerksamkeit auf sie lenkte, jetzt, wo die Augen der Leserin wieder auf ihr Buch gesenkt waren. Flannery hatte nichts weiter zu tun, als diesen Mund beim Rauchen zu beobachten, und obwohl sie nicht hätte sagen können, warum er so schön war, oder die Faszination seiner Form hätte beschreiben können – sie war zu jung, um Worte für derlei Dinge zu haben –, konnte sie doch nicht umhin, ihn zu beobachten, geschminkt in einem dunklen Persimonenton, der seine Spuren auf der Zigarette hinterließ. Doch sie war heruntergebrannt, wie Flannery bemerkte, und bald drückten die zarten, entschlossenen Finger sie aus. Flannery sah rasch beiseite, voller Panik, befürchtete weiteren smaragdgrünen Spott, würde sie bei diesem schamlosen Starren erwischt.
Die Kellnerin brachte ihr den Orangensaft, und Flannery trank einen großen Schluck, als kippe sie einen Wodka. Er war künstlich süß und von unwahrscheinlicher Farbe, eher wie eine Werbetafel oder Wandfarbe als wie echter Fruchtsaft. Sein seltsamer Geschmack ließ ihren Gaumen pochen, und sie war erleichtert, als die Bedienung kurz darauf mit einem anderen Aroma wiederkehrte, um ihn zu vertreiben: ein leicht gebräuntes gelbes Omelette, das lieblos auf einen dicken, ovalen weißen Teller bugsiert worden war.
Flannery starrte es einen Augenblick an. Was hatte sie da bestellt? Was war überhaupt ein Geleeomelette? Sie drückte die flache Seite der Gabel zögernd hinein, stach ein sauberes Stück davon ab. Aus dem Schnitt quoll ein dickes, durchsichtiges Purpurrot, als hätte sie eine außerirdische Vene getroffen. Das Purpurrot war, stellte sie fest, nichts anderes als Traubengelee. Voller Unbehagen mieden das Purpurrot und das Gelb einander auf dem Teller. Sie waren nicht füreinander geschaffen: Zusammenzusein sagte ihnen nicht zu. Flannery legte die Gabel hin und trank in kleinen Schlucken ihren Saft, um Mut zu fassen.
Irgend etwas veranlasste sie, einen Blick auf die Leserin zu riskieren, und sie war sicher, eben noch ein verräterisches Neigen des Kopfes zu erhaschen, als hätte die Frau gerade sie beobachtet. Dieser ermutigende Gedanke bewog Flannery, ihren Blick auf die nun nicht mehr rauchende Gestalt zu heften, die einen Schluck schwarzen Kaffee trank. Und noch einen. Sie blätterte die Seite um. Sie schürzte die Lippen. (Diese Lippen!) Sie strich sich eine Strähne des tief rotbraunen Haares hinter das zarte Ohr. Sie trank ihren Kaffee. Ihre Augen glitten zur nächsten Seite hinüber. Flannery vergaß ihr Omelette und beobachtete die Frau beim Trinken ihres Kaffees. Noch immer wollte sie wissen: Was war das für ein Buch?
Es funktionierte. Die Konzentration der Leserin ließ nach, und schließlich blickte sie auf, eine Augenbraue hochgezogen, mit ironischem Gesicht.
»Schmeckt dir dein Frühstück nicht?« fragte sie hinterhältig laut, so dass die Kellnerin sie hören konnte. Flannery mochte nicht ehrlich antworten und es zugeben, also zuckte sie erneut die Schultern, stumm. Idiotisch. »Du scheinst Gefallen an meinem Kaffee zu finden«, fuhr die Leserin fort und griff nach einer weiteren Zigarette, »so wie du ihn anguckst. Vielleicht solltest du dir selbst eine Tasse bestellen, wenn du Lust darauf hast.«
Das reichte. Flannery errötete von der Brust an aufwärts, eine saftige, heiße pflaumenrote Demütigung. Sie wandte den Blick ab, bat um die Rechnung, zahlte und verließ das Yankee Doodle fluchtartig. Ohne zurückzublicken. Ohne auf ihr Wechselgeld zu warten.
Auf der Straße pochte ihr das Herz laut in den Ohren, vor Hast und vor Verlegenheit. Nicht so laut allerdings, als dass es die inneren Worte ihrer stummen Entgegnung übertönt hätte.
Es war keineswegs so gewesen, dass sie den Kaffee gewollt hatte, nein. Das nicht. Sie hatte der Kaffee sein wollen: Sie hatte das schwarze Getränk darum beneidet, jene Lippen kosten zu dürfen.
Sie hätte nie hierherkommen sollen. Sie gehörte hier nicht hin. Wenn Flannery irgendwo hingehörte – woran ihre unausgeglichene Haut und ihr unbeholfener langbeiniger Gang sie zweifeln ließen –, dann keinesfalls auf dieses geschäftige altehrwürdige Universitätsgelände, in ein Jahr, das Jahreszeiten besaß, unter diese missmutigen Menschen. Sie hatten allesamt vor, sie auszulachen, ganz klar, Tag für Tag, bis sie schließlich einknickte und in das Land der Computer und Eukalyptusbäume zurückkehrte, in dem einem alle – im Ernst – einen schönen Tag wünschen.
»Hey, Flannery!« rief eine Verbündete in einem dünnen Mantel über die verkehrsflirrende Straße hinweg. Eine Kommilitonin aus dem Westen, der Flannery gleich am ersten Tag begegnet war. Sie wohnten auf demselben Stockwerk und teilten sich einen überbesetzten Waschraum. Sie hieß Cheryl, was Flannery leichtes Unbehagen verursachte, doch mit einem Namen wie Flannery konnte man es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. »Gehst du zu Einführung in die Literaturkritik? Es fängt in zehn Minuten an.«
»Noch was Neues? Ist das jetzt nicht ein bisschen spät?« Es kam ihr bereits vor, als sei sie schon ihr halbes Leben hier, dabei waren es erst zwei Wochen.
»Ja, aber der Professor ist gerade erst zurückgekommen. Aus Paris. Bradley. Er soll toll sein.«
Es hatte so viele Anfänge gegeben, wie es schien – wann würden sie enden? Dennoch: Literaturkritik. Es könnte das sein, was sie brauchte. Eine Waffe. Schlag sie mit ihren eigenen Waffen. Lerne die Sprache der Klugschwätzer.
»Okay.« Sie passte ihre Schritte denen ihrer Halbfreundin an. »Meinst du, ich hab noch Zeit, mir unterwegs in der Cafeteria ein Muffin zu holen?« Ihr Magen gähnte hungrig.
Cheryl sah auf die Uhr. »Wenn wir uns beeilen«, meinte sie. »Aber hab ich dich nicht eben aus dem Yankee Doodle kommen sehen?«
»Aus dem was? Ach, äh – ja …«
»Sieh dich vor«, neckte Cheryl sie. »Sonst hast du den Erstsemesterspeck ruckzuck drauf.«
Das sonnige Geschöpf streckte spielerisch die Hand aus, um Flannery auf den Bauch zu klopfen. Es bedurfte der strengsten Selbstbeherrschung, die Flannery aufbringen konnte, um sie nicht zu schlagen.
Die erste Zusammenkunft eines Seminars war immer ein Gemenge aus Papieren und Gesichtern, eine geschäftige Phantasie über das enorme Gewicht an neuem Wissen, das bald gewonnen sein mochte. Flannery hatte sich bereits für ein breites Spektrum an Themen eingeschrieben: Einführung in die Kunstgeschichte; Revolutionen – Eine Einführung: Frankreich, Russland, China; Einführung in die Weltliteratur; Einführung in das Sozialverhalten von Tieren. Flannery fragte sich, wie sie die Zeit für all diese Einführungen finden sollte.
Vielleicht war die sakkotragende, grauhaarige Gestalt am unteren Ende des Raumes mit den hohen Fenstern, die wie angeheitert an dem hölzernen Stehpult lehnte, in der Tat toll. Aus Bradleys Einführung in die Einführung konnte Flannery keinerlei Rückschlüsse darauf ziehen. Er stimmte eine Litanei von Worten an, die sie nicht kannte, aber als unterschiedliche Wochenthemen des dichten Lehrplans identifizierte; er sprach flüssig europäische Namen aus, deren gedruckte Entsprechungen sie auf der Liste der Pflichtlektüre gerade eben ausmachen konnte. Nachdem er sein verwirrendes Kauderwelsch über den Stoff, den sie eines Tages vielleicht alle beherrschen würden, beendet hatte, erklärte er, dass es Tutorien gäbe, für die man sich anmelden müsse – ergänzende Lehrveranstaltungen, durchgeführt von Graduierten, die die Bewertungen vornehmen würden, wie Cheryl mit unterdrückter Stimme erläuterte, als ob Flannery das nicht längst gewusst hätte. Die Tutorien wurden von Bob und Anne geleitet, die in der ersten Reihe saßen, mit dem Rücken zu den Studierenden, und ihre müden graduierten Arme hoben, um sich zu erkennen zu geben. Wie sich zwischen Montags-Bob und Dienstags-Anne entscheiden? Wie so viele ihrer Entscheidungen traf Flannery auch diese blind. Sie wählte Anne. Dienstags-Anne.
»Au ja, dann gehe ich auch zu ihr«, meinte Cheryl und griff nach Flannerys Arm.
Flannery hielt den Atem an. Einführung in die Literatur-kritik. Jetzt komme ich. »Au ja«, wiederholte sie im stillen, im privaten Raum ihrer Gedanken, au ja ist keine Wendung, die wir als Collegestudentinnen benutzen. Es klingt, als wärst du eine Fünftklässlerin.
Vielleicht bekam sie schließlich doch noch heraus, wie das Leben hier lief. Wurde das Entwickeln derartiger Erwiderungen in diesem grundlegenden Einführungskurs behandelt?
Durch die Tage stolperte sie, nachts jedoch schwamm sie frei durch die kühlen Gewässer ihrer Einbildungskraft. Im Dunkeln war ihr Körper seiner schüchternen Entschuldigungen ledig, und ihre jungen Hände wanderten über ihr Fleisch, wie zum ersten Mal. Sie gestattete sich die Stunden, wie fortgeschritten auch immer sie sein mochten, die sie für diese