Ravens Nemesis: Dritter und letzter Teil der Raven-Trilogie
By Ruth Gogoll
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Ravens Nemesis - Ruth Gogoll
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1
»Mutter? Was hast du?«
Raven betrat Elaynas Räume im Schloss, in dem sie nun seit nahezu einem Jahr residierten. Besorgt warf sie einen Blick auf Elaynas blasses Gesicht, das in den letzten Tagen immer blasser geworden war. Dabei hatte sie sich zuvor so gut erholt, man hatte ihr die Jahre der Gefangenschaft kaum noch angesehen.
»Nichts.« Elayna lächelte sie beruhigend an.
»Warum verschließt du dann deine Gedanken vor mir?«
Ertappt verzog Elayna das Gesicht. »Ich vergesse immer wieder, wie gut du bist.«
Raven lachte. »Dabei hast du es mir beigebracht.«
»Lektra und ich«, korrigierte Elayna. »Sie war die erste, ich war ja nicht da.«
»Das war nicht deine Schuld.« Raven ließ sich vor ihrer Mutter auf ein Knie nieder und nahm ihre Hand. »Mach dir keine Vorwürfe mehr. Du konntest nicht anders handeln, als du es getan hast.«
»Konnte ich nicht?« Elaynas zweifelnder Gesichtsausdruck rief Widerspruch in Raven hervor.
Sie drückte Elaynas Hand mit ihren beiden Händen. »Das ist schon so lange her. Du kannst nichts mehr daran ändern. Heute ist heute.«
Mit einem überraschten Lachen schaute Elayna ihre Tochter an. »Man könnte meinen, du wärst die Mutter und ich das Kind.«
»Nicht für eine Sekunde.« Raven stand auf und lächelte auf ihre Mutter hinunter, die auf einer bequemen Ottomane lag, direkt vor der großen, geöffneten Fenstertür, die den Blick auf die blühende Landschaft freigab. »Es wird nie eine größere Do-Lla geben als dich.«
In Gedanken versunken wanderte Elaynas Blick zum Fenster hinaus, als wäre dort weit mehr zu sehen als die farbenprächtigen Bäume und von Saatgut und Früchten fast berstenden Felder. »Du weißt, dass das nicht wahr ist. Du bist schon jetzt besser, als ich es je war. Und deine Ausbildung ist noch nicht einmal abgeschlossen.«
»Du sagtest, das wäre sie nie.« Raven seufzte. »Obwohl ich immer gehofft habe, es wäre einmal soweit.«
»Es gibt verschiedene Stufen.« Elaynas Gesicht nahm wieder diesen besorgten Ausdruck an, den es getragen hatte, als Raven hereingekommen war. »Du bist schon sehr weit. Weiter, als jede andere es in der kurzen Zeit geschafft hätte. Durch deine überdurchschnittliche Begabung ist dir vieles leicht gefallen. Aber es gibt Teile der Ausbildung, die jahrelange Übung verlangen, und so viele Jahre hattest du noch nicht.«
»Das macht doch nichts.« Raven lächelte. »Ich bin noch jung. Ich habe noch viele, viele Jahre vor mir, in denen ich lernen kann.«
»Das ist die Frage . . .«
Raven runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Ich sollte Adriana besiegen, und das habe ich getan – wir gemeinsam. Ich frage mich sowieso, weshalb ihr so darauf drängt, dass ich die Ausbildung fortsetze. Es gibt keine Bedrohung mehr.«
»Denkst du das?« Elayna atmete tief durch. »Das dachten wir damals auch. Es war über sechzig Jahre her, dass es eine Bedrohung gegeben hatte. Nur einige alte Leute erzählten noch davon. Wir hielten das für Unsinn – bis Adriana uns das Gegenteil bewies. Das Böse stirbt nie aus.«
Raven lächelte. »Ich habe keine böse Schwester.« Sie hob die Augenbrauen. »Oder?«
Elayna schwieg eine ganze Weile. »Nein«, sagte sie dann. »Du bist das einzige Kind der alten Do-Lla. Und du bist jetzt die junge Do-Lla. Es gibt nur uns beide.« Das schien sie zu beunruhigen.
»Du bist doch nicht alt!« Raven lachte auf. »Du bist noch nicht einmal grau. Deine Haare haben jetzt wieder dieselbe Farbe wie meine. Man könnte uns für Schwestern halten.«
»Es geht mir gut. Seit ich meine Kräfte wiederhabe«, bestätigte Elayna. »Aber es ist nicht gut, dass ich damals nur ein Kind bekommen konnte. Es sollte immer mehrere Kinder geben, damit die Nachfolge gesichert ist. Man weiß nie, was kommt. Was wäre gewesen, wenn Adriana das einzige Kind meiner Mutter geblieben wäre?«
Raven fühlte sich unbehaglich. Auf irgendetwas wollte ihre Mutter hinaus, aber sie wusste nicht, auf was. »Ich bin aber nicht Adriana«, sagte sie. »Oder hältst du mich für böse? Hast du Angst, ich könnte der Schwarzen Magie verfallen?«
»Nein.« Elaynas Gesicht verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln. »Du bist das Beste, was unserem Land passieren konnte.« Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und hielt sie fest. »Aber auch du musst für die Nachfolge sorgen. Jetzt, wo du noch jung bist.«
Für einen Moment war Raven sprachlos. Das hatte sie nicht erwartet. »Du bist so gern Mutter, du kannst dir das wahrscheinlich nicht vorstellen«, entgegnete sie dann mit schief verzogenen Mundwinkeln, »aber ich bin nicht dafür geschaffen, Mutter zu sein. Ganz und gar nicht. Ich könnte mir vorstellen, Vater zu sein, aber Mutter . . .«
Elaynas Mundwinkel zuckten. »Du kannst alles sein, was du willst.«
Irritiert schüttelte Raven den Kopf. »Was soll das heißen?«
»Wie oft hast du dich schon in einen Mann verwandelt?«, fragte Elayna.
»Ja, aber . . . aber doch nur äußerlich. Ich kann doch nicht . . .« Raven war völlig überrumpelt.
»Doch, du kannst«, schmunzelte Elayna. »Tatsächlich, du kannst.«
»Ein Kind . . . zeugen?«, fragte Raven ungläubig. »Wie ein Mann?«
»Ja.« Elayna nickte. »Du kannst eine Frau schwängern, wenn du das willst. Du bist die mächtigste Do-Lla aller Zeiten. Du kannst so gut wie alles.«
Auf Ravens Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. »Reola wird begeistert sein«, sagte sie. »Im Gegensatz zu mir ist sie ganz sicher die geborene Mutter.«
Elayna hob etwas unglücklich die Augenbrauen. »Reola gehört nicht zu den sieben Familien. Sie ist ein ganz normaler Mensch ohne jegliche . . . Begabung.«
»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Raven.
»Du weißt, was ich meine. Sie kann nicht die Mutter einer Do-Lla sein, das ist unmöglich.« Elayna stand auf und ging zur Tür, schaute hinaus. »Mittlerweile haben sich so viele Überlebende aus den alten Familien wieder eingefunden. Es sind auch junge Frauen dabei.«
»Das meinst du nicht ernst!« Raven starrte sie mit aufgerissenem Mund an. »Ich kann doch nicht mit irgendjemand ein Kind zeugen. Mit einer Frau, die ich gar nicht liebe!«
»Ich hatte genauso wenig die Wahl.« Elayna drehte sich um und betrachtete sie mit einem zärtlich mitleidigen Blick. »Wir haben unsere Verpflichtungen, weil wir nicht so sind wie die anderen. Diesen Verpflichtungen können wir uns nicht entziehen. Es gibt größere Dinge zu berücksichtigen als irgendwelche menschlichen Gefühle.«
»Tatsächlich?« Raven verschränkte grimmig die Arme vor der Brust. »Und das soll ich Reola so sagen? Sie ist das personifizierte Gefühl. Sie wird kaum verstehen, dass es etwas Wichtigeres geben kann. Es wird sie umbringen.«
»Wird es nicht. Sie ist stärker, als du denkst.« Elayna verzog bedauernd das Gesicht. »Es ist nun einmal, wie es ist. Wenn ich sterbe, übernimmst du die Verantwortung. Und jemand muss die Verantwortung übernehmen, wenn du stirbst. Wir leben lange, aber nicht ewig.«
»Dann habe ich ja noch Zeit.« Raven wollte sich umdrehen und die Gemächer ihrer Mutter verlassen.
»Und was ist, wenn wir beide sterben?«
Mitten in der Bewegung hielt Raven inne. Sie wandte ihren Kopf zurück. »Was ist dann?«
»Dann wird die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr existieren.« Elayna kam auf sie zu und legte eine Hand auf ihre Wange. »Und das ist etwas, das du dir lieber nicht vorstellen möchtest. Es ist nicht so, wie es war, als Adriana mich gefangenhielt. Ich war immer noch da. Aber wenn ich nicht mehr da bin . . . und du nicht mehr da bist . . . wird es nichts Gutes mehr auf dieser Welt geben. Gar nichts.« Sie lächelte liebevoll, aber auch unendlich traurig. »Glaub mir, ich habe dasselbe durchgemacht wie du.« Ihre Hand streichelte Ravens Gesicht. »Es ist unsere Gabe, die das Böse fernhält. Nichts als unsere Gabe. Wenn sie nicht mehr da ist, braucht es nicht einmal so eine starke Schwarze Magie wie die von Adriana, um die Welt zu zerstören. Dann reicht jeder kleine boshafte Gedanke. Die Menschen werden qualvoll sterben. Menschen wie . . . Reola.«
Ravens Knie fühlten sich auf einmal weich an, als ob sie sie nicht mehr halten könnten. Sie sank auf einen reich bestickten Sessel. »Das ist . . . das ist . . .«
»Das ist die Wahrheit.« Elayna schaute auf sie hinunter. »Ich weiß, es ist hart. Es ist für uns alle hart, für alle Do-Llas. Deshalb bekommen wir diese Ausbildung, mit all den Techniken, die es uns erlauben, in uns zu versinken und das größere Ganze zu sehen, nicht nur uns selbst.«
»Ich glaube . . .« Raven räusperte sich, aber ihre Stimme klang immer noch kratzig. »Ich glaube, soweit bin ich noch nicht.«
Elayna blickte durch das Zimmer, das von der Größe her eher einem Saal glich, als ob sie nach etwas suchte. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, während sie ihren Blick in alle Ecken schweifen ließ. »Spürst du etwas?«, fragte sie.
»Außer dass ich mich fühle, als wäre mir gerade der Himmel auf den Kopf gefallen?«, fragte Raven sarkastisch zurück. »Nein, nichts.«
»Spürst du etwas?«, wiederholte Elayna ihre Frage, aber diesmal an Lektra gerichtet, die gerade zur Tür hereinkam.
Lektra blieb stehen und schloss die Augen, öffnete sie wieder, schüttelte den Kopf. »Nein, was?«
»Vielleicht bin ich einfach nur paranoid.« Elayna seufzte. »Das habe ich manchmal, seit ich eingesperrt war. Ich denke, es könnte jederzeit wieder passieren.«
»Ohne Adriana? Wer sollte dich einsperren, mein Engel?« Lektra kam fürsorglich auf Elayna zu. »Hast du immer noch diese schlimmen Träume?«
»Manchmal.« Elayna ließ sich auf die Ottomane sinken und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen. »Aber sie werden weniger.«
»Du hast sehr viel durchgemacht.« Lektra griff nach einer Decke und breitete sie über Elayna aus. »Versuch dich auszuruhen. Geh das Lo\!Agra durch.«
»Das tue ich jeden Tag.« Elayna atmete tief ein und aus. »Mehrmals. Das allein hat mich in der Gefangenschaft am Leben erhalten.«
Lektra warf einen Blick auf Raven. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.«
»Eigentlich . . .« Raven zögerte, stand aber auf.
»Sie hat es dir gesagt.« Lektra schaute sie mit wachen Augen an. »Dass aus der Do-Lla wieder eine Do-Lla entspringen