LOS: Eine Erzählung
By Klaus Merz
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Klaus Merz braucht nicht viele Worte, um große Literatur zu schreiben. In LOS erzählt er in präzisem, knappem und dennoch lyrischem Stil, in Sätzen, die man - so kurz sie auch sind - umso länger im Sinn behält. "Ein kostbares Buch." (Der Standard, Stefan Gmünder)
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Book preview
LOS - Klaus Merz
Titel
Klaus Merz
LOS
Eine Erzählung
Mit drei Vignetten von Heinz Egger
und einem Nachwort von Markus Bundi
Zitat
Die Erzählung legt es nicht darauf an, das pure „an sich" der Sache zu überliefern wie eine Information oder ein Rapport. Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen.
So haftet an der Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.
Walter Benjamin, Der Erzähler
Start
Wir hatten nach dir gesucht, gerufen, gegraben. Aber alle Rettungskolonnen kehrten unverrichteter Dinge ins Tal zurück. Die Hubschrauber landeten ohne Ergebnis, wurden aufgetankt und standen wieder für andere Aufgaben zur Verfügung. Auch auf dein Passbild im Fernsehen gab es keine Reaktionen. Die Hellseher führten uns ausnahmslos in die Irre. Mehr konnten wir nicht tun, als unseren Vermutungen zu folgen. Und ein Abtauchen in die Karibik kam nicht wirklich in Frage, nicht für dich, nicht für uns. Auf deinen Konten keine Bewegung.
„Mein Thaler hat sich verwandert." An diesen Satz deiner Frau klammerten wir uns, zusammen mit deinen großen, schweigsamen Kindern, und begannen nach allen gescheiterten Nachforschungen unseren Alltag ohne dein Dabeisein langsam wieder in seine gewohnten Bahnen zurückzulenken. – Nur in den Träumen kehrtest du zu uns zurück. Als ob nichts gewesen wäre, tratest du in unsere Stuben und Zimmer, setztest du dich an unsere Tische, legtest du dich in dein Bett. Bis wir dich insgeheim darum baten zu bleiben, wo du jetzt bist.
Unter der herbstlichen Hochnebeldecke rücken die Häuser des Quartiers zu einem Rudel zusammen. Keine Wölfe, Schafe eher von der ängstlichen Art. Die Flachdächer der Wohnblocks sind noch am mutigsten. Sonst lauter Verzagtheit unter den kleinen spitzen Giebeln.
Nach Fanny und Herta sind auch die beiden Sturmtiefs, deren Namen man sich schon nicht mehr gemerkt hat, grollend übers Land gefahren. Und als wär er ein Neufundländer, bellt ein junger Mann am Radio seine selbstverfasste Morgenlyrik ins Mikrofon hinein. Thaler stellt ihn ab und greift nach seiner Mappe. Der zerfledderte Störig, die „Kleine Weltgeschichte der Philosophie", bleibt auf dem Tisch liegen.
Als Thaler ins Freie tritt, gibt er sich unter der Tür einen Ruck. Die Kinder rundherum sind längst eingetan in Horte und Schulen. Oder sie haben bereits eine Lehrstelle, um zu werden wie wir. Als unverbesserlicher Hoffnungsträger kreist einzig der Postbote mit seiner Makulatur durch den regenfeuchten Ort.
Im Sommer sind die drei Gebäude der Großgarage frisch verputzt worden. Und eine Neonsäule mit Symbol und Namen der altbekannten Automarke steht seither am Straßenrand, um die Region mit noch mehr Nachdruck auf ihren allzeit bereiten Motorenkönig aufmerksam zu machen. Gratis und digital werden den Vorüberfahrenden Lufttemperatur und genaue Zeit auf ihren Weg mitgegeben. – Vor der Tankstelle richtet der Pöstler täglich seine Uhr, sein Nullmeridian liegt zwischen Bleifrei und Diesel.
Mitte September sind wenige Meter unterhalb der Garage zwei Autos aufeinander geprallt. Der eine der beiden Fahrer ist mit ein paar Verletzungen davongekommen, der andere ist noch auf der Unfallstelle verschieden. Seither erinnern stets frische Blumen am Straßenbord an den schnellen, unsinnigen Tod des Mannes. Besonders an Nebeltagen gemahnt die traurige Markierung Thaler immer auch an den Süden, wo diese Art wilder Gedenkstätten schon seit langem gebräuchlich und das Licht heller ist als bei uns.
Neben der Tankstelle macht ein Knabe bei den Blumen Halt. Er trägt einen feldgrünen Militärmantel, hängt den Sturzhelm an die Lenkstange seines Mopeds. Der hochgeschossene Jüngling steht unschlüssig und verlegen am Straßenrand – oder als habe er etwas Ungehöriges im Sinn. Aus den Augenwinkeln schaut er den schnellen Wagen und Motorrädern nach, die schon kurz vor der Außerortstafel beschleunigen und röhrend an ihm vorbeischießen. In den nahen Schaufenstern verdämmern die immer gleichen Möbelstücke.
Als der Knabe seinen Blick wieder von der Fahrbahn löst und sich der Stelle überm Bordstein zuwendet, um seines toten Vaters zu gedenken, ins Gras zu schauen, die Lider einen Augenblick lang zu schließen, leuchten am Ärmel seines ausrangierten Militärmantels die goldenen Rangabzeichen eines Wachtmeisters auf. Auf seinem täglichen Schulweg hat Thaler den Knaben schon dreimal gekreuzt.
Thaler geht an diesem Tag nicht in die Schule, er ist unterwegs zum Internisten. Aber vorher will er noch einmal eine Rauchwurst essen in der Gartenwirtschaft, denn die Sonne drückt durch. Von seinem Tisch aus, Messer und Gabel sind schon aufgetragen, fällt sein Blick auf das alte Steinkreuz am Straßenrand: Jesus fehlt. Nur seine Hände, Füße und sein nacktes Herz stoßen reliefartig aus dem gemauerten Kreuzgebälk hervor.