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Aléas Ich: Roman
Aléas Ich: Roman
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Aléas Ich: Roman

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"Die Wahrheit existiert nur, solange niemand von ihr erzählt."

Aléa Torik, 1983 in Rumänien geboren, promoviert in Literaturwissenschaft zum Thema Fiktionalität. Sie schreibt an ihrem zweiten Roman, führt ein Blog im Netz, wohnt mit der schönen und melancholischen Olga in einer WG und ist mit der Schauspielerin Luise und dem Unternehmensberater Lauritz befreundet. Die Vergangenheit in Siebenbürgen und Bukarest, die große Liebe in Berlin, ein obsessiver Verehrer Olgas und ein penetranter Verfolger, der Aléa, was sie sehr spät erst bemerkt, offenbar nie von der Seite weicht: Das sind die biografischen Daten und Ereignisse. Oder sind es die Erzählfäden aus dem Roman, an dem sie arbeitet? `Aléas Ich´ ist ein ausgeklügeltes Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, das dem Namen der Autorin alle Ehre macht.
LanguageDeutsch
PublisherOsburg Verlag
Release dateFeb 26, 2013
ISBN9783955100179
Aléas Ich: Roman

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    Aléas Ich - Aléa Torik

    natürlich.

    »Merkur: Halt dort! Wer geht dort?

    Sosias: Ich.

    Merkur: Was für ein Ich?

    Sosias: Meins mit Verlaub.«

    Heinrich von Kleist, Amphitryon

    »Das moderne Denken aber entspricht dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Die moderne Welt ist die der Trugbilder (simulacres). Hier überlebt der Mensch nicht Gott, überlebt die Identität des Subjekts nicht die der Substanz. Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein optischer ›Effekt‹ durch ein tieferliegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Differenz und Wiederholung.«

    Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung

    (Übersetzung Joseph Vogl)

    »Der postmoderne Mensch glaubt an keine andere Wirklichkeit als die von ihm selbst erschaffene. […] Phantasie und ›Wirklichkeit‹ befinden sich auf ein und derselben Ebene und überschreiben einander unaufhörlich.«

    Mircea Cartarescu, Postmodernismul romanesc

    (Übersetzung Aléa Torik)

    Es ist September, der frühe Morgen des 11. September 2011, und ich sitze im Lesesaal der Zentralbibliothek der Humboldt-Universität, dem Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, es ist der frühe Morgen eines strahlend schönen Septembertages, den ich durch die Oberlichter sehen kann, ich sitze vor dem aufgeklappten Laptop und schaue auf den Bildschirm, auf die erste Seite meines Manuskripts; ich schaue über den Bildschirm hinweg in den riesigen, terrassenförmig angelegten Lesesaal, in dem ich, auch wenn das in einer Stadt mit mehr als drei Millionen Einwohnern, einer Universitätsstadt mit 150 000 Studenten ausgesprochen un-wahrscheinlich ist, ganz alleine bin, ich bin vollkommen allein.

    Ich lebe seit fünf Jahren in Berlin. Ich habe in den ersten beiden Jahren einen Roman geschrieben und mein Studium beendet. Seither promoviere ich in Literaturwissenschaft und führe ein Blog im Netz. Ich wohne mit der exzentrischen Olga und dem kaum minder exzentrischen Amer Amira Al Amour im Prenzlauer Berg. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und habe an meinem letzten Geburtstag öffentlich verkündet, dass ich es dabei belassen werde, da ich das Altern für keine adäquate Weise des Reifeprozesses halte. Ich bin einen Meter achtundsiebzig groß, schlank und sehe, wie man mir zu verstehen gibt, recht manierlich aus und bisweilen lerne ich Männer kennen, die sich noch zu ganz anderen Beschreibungen versteigen. Ich bekomme ein Stipendium und mein Professor hält große Stücke auf mich. Ich bin lernwillig, fleißig und zielstrebig. All das macht einen guten, einen hervorragenden Eindruck. Es sieht aus, als könnte im Leben noch etwas aus mir werden. Aber in Wirklichkeit bin ich geradezu verzweifelt.

    Es war der frühe Morgen dieses 11. September und ich wollte am liebsten aus dem Fenster springen. Aber es gab keine Fenster. Es gab nur die Oberlichter weit über mir. Die gesamte Decke bestand aus etwa einhundert Glasquadraten. Ich saß an meinem Schreibtisch im großen Lesesaal, einer zwanzig Meter hohen Halle, in die zu beiden Seiten ansteigende Ebenen eingelassen waren, die acht Leseterrassen mit etwa zweihundertfünfzig Arbeitsplätzen, und stellte mir vor, wie ich durch ein Oberlicht sprang. Ich schaute nach oben und in genau diesem Moment explodierte eines dieser gläsernen Quadrate und mit rasender Geschwindigkeit fiel ein menschlicher Körper durch die Halle, verschwand aus meinem Blickfeld und schlug mit einem entsetzlichen Geräusch auf der untersten Ebene auf. Einen erschreckenden Moment lang dachte ich, dass es mein eigener Körper gewesen wäre, aber es war ein Frauenkörper, den ich nicht kannte. Obwohl ich ihn von hier oben nicht dort liegen sehen konnte, obwohl der visuelle Eindruck vorüber war, blieben der Schrei und das Geräusch, mit dem dieser Körper unten aufgeschlagen war, deutlich spürbar. Das befand sich noch in dieser Halle, das lief die Wände hoch und runter, auch wenn ich es, weil es ja Geräusche waren, nicht sehen konnte. Seltsamerweise konnte ich sie aber auch nicht hören.

    Ich saß im Lesesaal der Bibliothek und hatte die erste Seite meines zweiten Romans vor mir auf dem Bildschirm. Ich würde von nun an jeden Tag hier sitzen und arbeiten. In einem Jahr wolle ich fertig sein. Ich säße dann noch immer hier und hätte die letzte Seite des Textes vor mir. Diese beiden weit auseinanderliegenden Tage sehen einander ähnlich. An jenem jetzt noch fernen Tag werde ich mich an den heutigen erinnern, ich werde mich erinnern, dass ich genau dies ein Jahr zuvor bereits gedacht hatte, und ich werde dann nicht mehr wissen, ob der vergangene oder der gegenwärtige Moment intensiver ist. Übereinandergelegt werden sie zu einem einzigen Eindruck verschmolzen sein.

    Am Tag zuvor hatte ich ein Gespräch mit meinem Professor über diesen Text, in dem er mir vor Augen geführt hat, dass ich noch einige Arbeit würde investieren müssen, da meine Auffassung von der Wirklichkeit unzureichend war. Jedenfalls habe ich ihn so verstanden und eine andere Möglichkeit als mein eigenes Verstehen habe ich nicht. Die hat niemand. Kein Mensch erkennt etwas, das er nicht selbst erkennt. Angenommen, es gäbe etwas in der Welt, das man nicht sieht, nicht riecht und nicht versteht, dann ist es auch nicht Teil der eigenen Wirklichkeit. Oder angenommen, es wäre genau umgekehrt, man sieht, riecht oder versteht etwas, das es gar nicht gibt, dann ist es dennoch Wirklichkeit für die erlebende Person. In beiden Fällen gibt es keine Möglichkeit zur Korrektur. Alle Menschen haben nur eine ihnen natürlich erscheinende Sichtweise, die Ich-Perspektive. Dieser Umstand war verantwortlich für meine Verzweiflung, denn er war zentral für meinen Roman. Ich hatte ein Problem, das größer war als alles, was ich mir sonst noch vorstellen konnte: mich selbst. Ich war das größte Problem, das ich hatte, und gleichzeitig die einzige Lösung. Denn dieser Roman war meine Welt. Ich existierte nur, wenn er es tat. Ich existierte in ihm und mit ihm und durch ihn.

    Ich stamme aus einem kleinen rumänischen Bergdorf in den Karpaten. In den tiefen Tälern dieses urtümlichen Gebirges ist die Zeit ein gemächliches Fließen, gleichförmig, freundlich, wohlgesonnen. Eines Tages liegt das Verflossene hinter einem. Man sitzt mit seinen Enkelkindern auf dem Schoß auf einem Holzstapel oder einem Stein und erzählt ihnen von früher, als man noch jung war und die Zeit ein gemächlicher Fluss. Während des Erzählens, vermischen sich diese beiden Zustände, es ist ein Aufwärts- und ein Abwärtsfließen, sodass man nicht mehr unterscheiden kann, welche der beiden Zeiten die wirkliche und welche die erzählte ist. Bilder ein und derselben Sache, ein und desselben Lebens, die nicht nacheinander, sondern übereinander liegen. In den Gebirgstälern gab es nur diese eine Zeit, deren Abschnitte ineinanderflossen. Das Leben in der Stadt war ganz anders organisiert. Die einzelnen Abschnitte waren streng voneinander getrennt, die übereinanderliegenden Bilder werden auseinandergerissen, weil die Menschen Wert darauf legen, dass sie sich nicht miteinander vermischen, und dass, was klar und deutlich geschieden werden konnte, auch voneinander geschieden wurde.

    Ich bin in Marginime aufgewachsen. Dort habe ich gelebt, bis ich zum Studium nach Bukarest gegangen bin, das auf der anderen Seite der Berge in der Walachei liegt. Von da an verbrachte ich nur noch einen Teil der Sommermonate und die Weihnachtsferien zu Hause. Als ich dann von Bukarest nach Berlin umgezogen war, fuhr ich noch seltener dorthin. Es war teuer und es wurde, wenn man öfter fuhr, auch nicht billiger. Außerdem war es weit weg. In deutschen Ohren klingt Rumänien nach ›Am Arsch der Welt‹. Das liegt am Schwarzen Meer, wo immer das nun wieder liegen mochte. Konnte dieses Meer keine ansprechendere Farbe haben, konnte es nicht wenigstes blau oder grün sein? Bukarest klingt nicht nach der Hauptstadt Rumäniens, weil es leicht mit Budapest verwechselt wird. Transsilvanien klingt nach Blut und Dracula, Siebenbürgen nach ›Hinter den sieben Bergen mit den sieben Zwergen‹ und Sibiu, die nächstgrößere Stadt, in der ich geboren wurde und zur Schule gegangen bin, klingt nach Sibirien. Nichts klingt so, wie es wirklich ist.

    Rumänien bestand lange Zeit lediglich aus zwei unbedeutenden Fürstentümern an der Donau – die Moldau und die Walachei –, die zusammen die Tara Romaneasca* bildeten. In seiner heutigen Form existiert das Land erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Mit den Verträgen von Trianon und Neuilly, mit der geografischen und geopolitischen Neuordnung Europas, wurde Siebenbürgen, das jahrhundertelang zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte, am Ende des Ersten Weltkrieges dem neu entstandenen Rumänien zugesprochen. Was im besten Sinne Zentraleuropa gewesen war und kulturell unter dem prägenden Einfluss von Deutschen, Österreichern und Ungarn gestanden hatte, rutschte aus der Mitte Europas an den unteren Rand und lag von einem auf den anderen Tag überraschenderweise in Osteuropa. Nach Ceausescus Machtübernahme in den 60er-Jahren verschwand das Land nahezu von der Landkarte und es ist bis heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur, trotz der Mitgliedschaften in der EU und der NATO, auch nicht wieder aufgetaucht. Rumänien blieb auch nach der Wende in einem diffusen Nebel verschwunden, einem Vorhang aus Vorurteilen, der dichter ist, als es Mauern und Betonabsperrungen, sprachliche und ideologische Barrieren jemals gewesen waren. Nachrichten aus Rumänien hören sich noch heute an, als stammten sie aus einer anderen Welt.

    * Kursiv gesetzte, rumänische Worte und Begriffe ziehen eine Anmerkung am Ende des Textes nach sich.

    Inzwischen, da ich schon mehr als fünf Jahre in Berlin lebe, hatte ich selbst den Eindruck, dass es weit weg war. In diesen Jahren hatte sich in meinem Leben nahezu alles verändert und was sich nicht verändert hatte, machte gerade aufgrund seiner Unwandelbarkeit den Eindruck großer Ferne. War das noch meine Heimat? Neben ›Schnaps‹, ›Autobahn‹, ›Kindergarten‹ und ›Angst‹, neben ›das ist eine große Katastrophe‹ war ›Heimat‹ das deutscheste Wort, das ich kannte. Bedeutete mir das etwas? Ist Siebenbürgen, ist Transsilvanien mein Zuhause? Bin ich Rumänin? Ich hatte noch ein Zimmer im Haus meiner Eltern, aber da stand nur noch Krempel aus der Kindheit. War das mein Zuhause oder war Deutschland seit jeher mehr als eine abstrakte Option? War dieses Land meine eigentliche Heimat, weil ich seit langer Zeit wusste oder ahnte, dass ich eines Tages hierher kommen würde?

    Ich hatte Angst, als ich nach Berlin gekommen bin. Angst, dass ich hier nicht klarkäme. Deutsch war zwar meine Muttersprache, mein Vater war Deutscher und ich war auf eine scoala germana gegangen, aber ansonsten war mir das Land fremd. Ich befürchtete, dass ich am Studium, an den Menschen in Deutschland oder an mir selbst scheitern würde und mir das Leben hier fremd und unzugänglich bliebe. Diese Angst hat sich als mehr oder weniger unbegründet herausgestellt. Ich spürte sie nicht mehr oder ich konnte sie in eine kleine Ecke meines Lebens drängen: Ich habe eine ausgeprägte Flugangst. Mein erster Freund war bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich kann kein Flugzeug betreten, ohne in Panik zu geraten. Außerdem habe ich eine überaus lebhafte Fantasie und bei solchen Menschen ist es einerlei, ob sie wirklich abstürzen oder nur in ihrer Einbildung: Tot sind sie in jedem Fall. Sie sind nach einem eingebildeten Absturz toter, als sie es nach einem wirklichen je sein könnten.

    Weil ich auch nicht gerne mit dem Auto unterwegs bin, kommt, wenn ich nach Rumänien fahre, nur die Fahrt mit dem Zug in Frage. Ich breche in der Regel frühmorgens in Berlin auf und bin dann 24 Stunden unterwegs, eine ganze Erdumdrehung lang. Die Fahrt geht durch Tschechien, die Slowakei und Ungarn. In Budapest habe ich den ersten Aufenthalt. Ich muss in den Zug nach Bukarest umsteigen, der meist gegen acht Uhr abends abfährt. In Alba Iulia steige ich mitten in der Nacht ein weiteres Mal um. Ich muss stundenlang auf den Anschluss warten, weil diese Züge erst gegen sechs Uhr morgens fahren. Sie bringen die Pendler nach Sibiu, das neben dem weit größeren Brasov eines der beiden kulturellen und wirtschaftlichen Zentren Siebenbürgens ist.

    Ich sitze mitten in der Nacht in der Wartehalle dieses Bahnhofs. Es lungern seltsame Gestalten dort herum. An einer Wand hängt eine Uhr, der ein Zeiger fehlt. Ein Spaßvogel hat ›Rolex‹ darunter geschrieben. Auf der Bank neben mir schläft jemand. An der Decke flackert ein Licht. Irgendwo grölt ein Betrunkener. Die Zeit, die Stunden des Wartens und die Jahre, die zwischen meinen Aufenthalten in dieser Wartehalle liegen, hängen unsichtbar, aber spürbar im Raum. Nach einer kurzen Melodie, die kaum mehr als eine lose Aneinanderreihung von Tönen ist, wird mit einer aufdringlich plärrenden Lautsprecherdurchsage der Zug angekündigt. Ich trotte mit den anderen auf den Bahnsteig. Im Zug riecht es, wie es in diesen Zügen immer schon gerochen hat, nicht sehr angenehm, aber auf sehr angenehme Weise vertraut. Ich setze mich und schlafe beinahe ein, mein Kopf sinkt langsam gegen die Scheibe. In Sibiu steige ich aus. Ich gehe wie alle anderen über die Gleise, da es weder eine Unterführung noch eine Brücke gibt. In Rumänien geht man quer über die Gleise, weil es sonst keine Möglichkeit gibt, auf die andere Seite zu gelangen. Oder man bleibt zeitlebens auf der Seite, auf der man geboren wurde.

    Dann ist da, in all diesen Jahren immer gleich, eine Hand, die mein Gepäck nimmt. Ich muss gar nicht erst hinsehen, es ist mein Vater, der mich abholt. Er nimmt mein Gepäck und er nimmt mich dabei in den Arm. Das geschieht im Gehen, ohne dass wir unsere Schritte verlangsamen. Ohne viele Worte heißt mein Vater mich bei der Ankunft auf seine warmherzige Weise willkommen. Ich lehne meinen Kopf kurz an seine Schulter.

    »Da bist du ja endlich«, sagt er jedes Mal.

    Er sagt das in einem Tonfall, als habe er das ganze Jahr hier auf dem Bahnsteig verbracht und auf seine Tochter gewartet, die von der Welt verschlungen worden war.

    »Ja«, antworte ich dann, »da bin ich.«

    Nach der letzten Grenze haben die Gleise nicht mehr diese nahtlosen Übergänge und das typische Klackklack Klackklack Klackklack beginnt. Ich weiß nicht, ob mich das am Schlafen hindert oder es befördert. Ich schlafe und träume, dass ich nicht einschlafen kann. Die Züge werden immer langsamer, je näher ich meinem Ziel komme. Auf dem letzten Teilstück könnte ich gut zu Fuß nebenher laufen. Ich habe den Eindruck, dass diese letzten Kilometer am längsten dauern. Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist oder ob ich es nur träume. Ich weiß nicht, ob ich wirklich nebenher gehe. Ich gehe nebenher und sehe mich durch die Scheibe im Zug sitzen, der Kopf zur Seite gerutscht, beinahe schlafend und träumend. Langsam fahrend, gehend, schlafend und träumend komme ich wieder in der unendlichen Gegenwart meiner Kindheit an.

    Ich beklage mich nicht über die Dauer dieser Zugfahrt. Nicht die Fahrzeit ist Zeitverschwendung, denn die ist nicht zu vermeiden, sondern die Klage darüber. Wo ich herkomme, ist man im Einklang mit den Dingen. Zumindest ist man im Einklang mit ihrer Dauer.

    Anfang, vor allem Anfang

    Der Anfang ist nicht das Erste. Es gibt etwas, das vor jedem Anfang liegt. Die Frage: wie anfangen? Wie hat das Universum, wie hat Gott angefangen?

    Am besten fängt man einfach an, ohne lange nachzudenken. Irgendwie haut es dann schon hin. Das Universum hat mit dem Urknall angefangen und die Menschheit mit Adam und Eva. Meine Hochachtung an die Kollegen vom physikalischen und theologischen Institut, beides sind gelungene Anfänge. Irgendwie muss jede Geschichte losgehen. Es muss losgetreten werden: das Vergehen von Zeit. Denn nur wenn Zeit vergeht, geschieht etwas. Oder umgekehrt.

    Die Vertreibung aus dem Paradies ist zu verstehen als das erste Vergehen, im doppelten Sinne des Wortes, im temporären wie im moralischen. Das Erkennen der Sündigkeit, das Erkennen der eigenen Nacktheit, aber auch jenes Erkennen, dass das Elysium, der Garten Eden, das Unreflektierte und das Nichtwissen bereits hinter einem liegen, sind Vergehen. In dem Moment, da man erkennt, dass etwas hinter einem liegt, entsteht Vergangenheit. Erkenntnis und Reflektion: Das sind die eigentlichen Vergehen des modernen Menschen.

    Auch die erste Geschichte musste irgendwie anfangen. Vielmehr die Geschichte vom Ersten. Die Geschichte vom Anfang ist schon nicht mehr der Anfang selbst. Das Erste ist bereits vorüber, wenn es erzählt werden kann. Das ist unser Schicksal und das unseres Bewusstseins: Die Würfel sind bereits gefallen, wenn wir hinzukommen. Aber das ist nicht weiter schlimm. Weil wir erneut anfangen müssen. Immer wieder müssen wir den Würfel in die Hand nehmen.

    Meine Webpräsenz besteht aus sechs einzelnen Seiten, den sechs Seiten oder Möglichkeiten eines Würfels. ›Gott würfelt nicht‹, hat Einstein behauptet. Ein schönes Bild dafür, dass im Universum nichts zufällig geschieht. Die Sentenz Einsteins sagt jedoch nichts darüber aus, warum Gott nicht würfelt: weil er nämlich lieber Karten spielt. Die Aleatorik – das Zufällige und Willkürliche – scheint keine Methode von Gottes Gnaden zu sein. Und schon gar keine divinatorische. Die Aleatorik, die sich des klassischen Kubus bedient, also ein regelmäßiges Hexaeder ist, hat nämlich nur sechs Flächen. Da ist kein Platz für einen Sonntag.

    Bekanntlich brauchte Gott am siebten Tag vor allem Ruhe. Obwohl man ihn durchaus im Verdacht haben könnte, schon an den Tagen zuvor in Pausenlaune gewesen zu sein: Wenn man sich die Welt anschaut, dann muss man zugestehen, dass ein genialer Plan anders aussieht. Was manche hochtrabend ›Die Schöpfung‹ nennen, macht doch einen recht zusammengewürfelten Eindruck. Vielleicht kommt die Aleatorik ja doch noch zu ihrem Recht.

    Der erste Eintrag in diesem Blog: mein Anfang. Ein geradezu göttliches Gefühl. Mir wird’s, zugegeben, ein wenig schwindelig. Gott hat wahrscheinlich auch geschwindelt an seinem Anfang. Warum sollte ich also die Wahrheit sagen?

    »Was ist das Wirkliche an der Wirklichkeit?«, fragte Joseph Vogl.

    Ich saß in der Sprechstunde meines Professors. Ich hatte ihm das erste Kapitel meines Romans und ein Exposé gegeben und ihn um einen Rat gebeten – vielmehr um dieses Gespräch, und mir dann wohl einen Rat erhofft. Er aber stellte eine Frage. Vielleicht erkannte er nicht, dass ich einen Rat erhofft hatte, oder ich erkannte nicht, dass diese Frage ein Rat war. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. Er wollte mir wohl, indem er fragte, die Möglichkeit zur Antwort geben. Davon war ich allerdings weit entfernt. Ich war, wenn ich einen Termin hatte, etwas angespannt. Mein Professor war die wichtigste Autorität in meinem Leben. Ich konnte nicht antworten, indem ich schwieg.

    »Wirklichkeit ist, dass Sie und ich uns in diesem Zimmer gegenübersitzen«, sagte ich zögernd.

    »Das ist recht sensualistisch gesagt. Mit solchen Annahmen beginnen nur alle Zweifel. Und bald haben Sie nichts mehr als Ihr kleines Denkich, an dem Sie sich festhalten können. Und müssen noch einmal von vorne anfangen. Nein, das ist für einen dermaßen exponierten Begriff zu wenig!«

    Ich fand’s auch zu wenig. Hätte ich mehr Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre meine Antwort sicherlich ausführlicher ausgefallen.

    »Außerdem könnten Sie sich dieses Gespräch ausdenken. Sie könnten das erfinden. Sie könnten einen Roman schreiben mit einem Kapitel, in dem Sie behaupten, wir hätten einander gegenübergesessen, Sie hätten mich um einen Rat gebeten und ich hätte Ihnen stattdessen einen kleinen Vortrag über den Wandel des Wirklichkeitsbegriffes gehalten.«

    Ich wusste nicht, ob er einen Scherz machte. Er lächelte mich immerhin an.

    »Das würde ich nie tun«, antwortete ich.

    »In Wirklichkeit würden Sie das nicht tun«, antwortete er lächelnd. »Und in Wirklichkeit würde ich Ihnen auch einen solchen Vortrag nicht halten. Aber angenommen, rein hypothetisch, Sie täten es doch? Angenommen, Sie schrieben einen Roman, in dem wir einander gegenübersitzen, so wie hier, wir sitzen in einer Art Nebenzimmer der Wirklichkeit, wir sitzen im Nebenzimmer Ihres Romans. Was würde ich dann sagen, wenn ich Sie nach der Wirklichkeit fragte, Sie mir eine Antwort gäben, die ich als allzu kurz, allzu schnell, allzu sensualistisch zurückwiese?«

    »Ich weiß nicht, was Sie sagen würden.«

    »Das können Sie auch nicht wissen, weil es ja meine Worte sind. Und doch müssen Sie es wissen, da es Ihr Roman ist. Sie sehen, dass die Frage nach der Wirklichkeit nicht einfach zu beantworten ist. Aber Ihr Roman muss ja irgendwie beginnen. Anfänge sind heikle Angelegenheiten. Fangen wir dennoch an, also ich, vielmehr Sie in Ihrem Text, in dem ich Ihnen einen Vortrag über den Wandel des Wirklichkeitsbegriffes halte und mir den Umschlag vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild herausgreife und damit den Wechsel von bewegten und unbewegten Teilen des Himmels. Hatte sich bis dahin noch die Sonne um die Erde gedreht, änderte sich mit Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei unser Verständnis der Welt, ihres Aussehens sowie der Stellung des Menschen in ihr. Bis dahin glaubte sich der Mensch im Mittelpunkt einer göttlichen Schöpfung, den unwandelbaren bestirnten Himmel über sich, dann musste er zugeben, dass er als abgesprengtes Partikel nur an ihren Rändern herumirrte. Von einem privilegierten Wesen konnte keine Rede sein. Und das war nur die erste in einer langen Reihe der Kränkungen und Desillusionierungen, die man x-mal aufgezählt hat und die ihre Fortsetzung in den Forschungen Darwins oder Freuds fanden. Gibt es keine Möglichkeit, eine Annahme zu falsifizieren, ist sie unsere Wirklichkeit. Wirklichkeit ist, was wir dafür halten, was wir konstruieren. Und konstruieren müssen wir, weil es schlechterdings unmöglich ist, einfach nur wahrzunehmen, zu messen, ohne einen Maßstab anzulegen. Womöglich hat das gesamte Universum eine andere Form als die, die wir heute unterstellen. Wir aber wissen nichts davon, weil wir die Instrumente nicht haben, um es zu messen, und den Verstand nicht, um es zu begreifen. Wir können alles begreifen, jedoch nur in den Grenzen unserer Begriffe. Aber das wird jetzt ja nicht von mir gesagt, sondern von Ihnen geschrieben. Wir sind ja hier, auch wenn wir in meinem Zimmer sitzen, im Nebenzimmer Ihres Roman.«

    »Ich vermute«, sagte ich, weil ich etwas sagen musste oder zumindest das Gefühl hatte, ich müsse, »es geht nicht um die Entwicklung der Astronomie, der Arten oder der Architektur?«

    »Es geht um Grenzen, um Übergänge zwischen Erscheinungen und kulturellen Stufen und Ebenen, auch des Bewusstseins. Die Frage ist nicht, wie die Welt außerhalb unseres Bewusstseins ist, weil es für uns kein Außerhalb gibt. Wir haben nur den Schein, nicht der schlechteste Begriff übrigens, denn der Schein war doch immerhin einmal der Schein der Wahrheit. Die Vermutung, die Annahme oder Unterstellung, dass dahinter die Wahrheit läge, ist ebenfalls scheinbar. Wenn aber hinter den Dingen, hinter der Natur nämlich, oder sagen wir hinter ihrer natürlichen Erscheinungsform, nichts ist, also nichts anderes als das, was vor den Dingen auch ist, dann ist es möglicherweise sinnvoller, nicht die Natur, sondern die Kunst als die Referenzebene der Wirklichkeit zu verstehen. Weil wir die Natur nicht auf natürliche Weise wahrnehmen können, sondern nur so, wie unsere Künstler es uns lehren. Was also ist Wirklichkeit? Caspar David Friedrich, Paul Cézanne, William Turner, Mark Rothko, Kasimir Malewitsch oder M. C. Escher? Wenn alle Wirklichkeit aber nur Konstruktion ist, können wir dann mutwillig alles konstruieren? Gottgleich oder automatengleich kann der Mensch seine multiplen Wirklichkeiten so wählen und strukturieren, wie er das braucht und will? Wir wissen heute, dass der Beobachter durch seine Beobachtung Einfluss auf das Beobachtete nimmt. Denken Sie an die Heisenbergsche Unschärferelation, in der Wirklichkeit als Widerspruch zweier einander ausschließender Zustände verstanden wird. Wir haben womöglich heute keinen homogenen Wirklichkeitsbegriff mehr. Oder denken Sie an die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts, das Netz, an die Radikalität des Virtuellen, wo sich alles in Projektionen auflöst. Es gibt kein Innen und kein Außen mehr, alles wird zur Oberfläche, sagt man. Tiefe ist eine Täuschung, eine Art Hologramm. Im Netz wird der Schein zu etwas, in dem nichts mehr zu erkennen ist. Er zeigt nichts, er spiegelt nichts, er ist nichts. Dem Verlust der Gegenständlichkeit in der Kunst des 20. Jahrhunderts folgt der der Personalität im 21. Jahrhundert. Obwohl alle heutzutage im Netz sind, nahezu ein jeder hat inzwischen eine virtuelle Seite seiner Persönlichkeit, die mit der tatsächlichen kaum noch in Korrelation zu bringen ist, ist doch eigentlich keiner im Netz, denn gerade die Subjektivität fällt dort aus. Jede Veränderung unseres Wirklichkeitsbegriffs reagiert auf die Wirklichkeit. Letztlich kommt es für das Individuum darauf an, in der Lebenswelt zurechtzukommen. Man kann das sogar positiv wenden: Wenn diese Welt so ist, dass die Individuen sich weiter ausspreizen müssen, um die multiple Wirklichkeit zu begreifen, zu beschreiben und zurechtzukommen, dann werden sie das auch tun. So oder ähnlich würden Sie das wohl schreiben, oder?«

    Ich erkannte, dass er verstanden hatte, dass ich einen Rat wollte. Aber er wollte mir keinen geben. Er wollte wahrscheinlich, dass ich selbst herausfand, was für mich wichtig war und was nicht. Dafür schuf er eine Art Rahmen. Malen musste ich das Bild dann schon selbst, er hatte ja genügend Namen genannt. Oder wollte er das alles nicht? Wollte er vielmehr, dass ich dieses Romanschreiben an den Nagel hängte und mich, wie man so schön sagt, auf den Hosenboden setzte und meine Dissertation fertig machte?

    »Lassen Sie es doch zu einer Kollision von darstellender und dargestellter Person, erzählendem und erzähltem Ich kommen. So könnte Ihr Roman also beginnen. So beginnt er tatsächlich, wenn Sie tun sollten, was Sie von sich weisen und ein Gespräch zwischen uns imaginieren, in welchem ich Ihnen Möglichkeiten von Wirklichkeit aufzeige und Sie erkennen, dass genau dieser Begriff zentral für Ihren gesamten Text ist. Das ist allerdings auch ein schmerzhafter Prozess.«

    »Welche Schmerzen denn?«

    »Die Schmerzen der Differenz. Jede Differenz zieht einen Schmerz nach sich. Die Differenz, um die es hier geht, ist die denkbar schmerzvollste, die der Wirklichkeit und der Fantasie.«

    »Ich spüre keine Schmerzen, ich spüre nur meine unendliche Lust.«

    »Diese unendliche Lust, das sind die Schmerzen, von denen ich gesprochen habe, von der anderen Seite betrachtet. Ich beneide Sie um das Abenteuer, das Ihnen bevorsteht. Ich wollte, ich könnte mit Ihnen tauschen.«

    »Was haben Sie im Tausch denn anzubieten?«, fragte ich.

    »Ich mag Ihre Schlagfertigkeit«, sagte Joseph Vogl.

    »Bei solchen Abenteuern kann man auch zu Tode kommen«, antwortete ich.

    »In unserer Gesellschaft ist ein aufregender Tod eine Auszeichnung.«

    »›Tod mit Auszeichnung‹, das ist nicht unbedingt das, was ich vom Leben erwarte.«

    »Was erwarten Sie denn?«, fragte er und sah mich neugierig an.

    »Ich mag Ihre Schlagfertigkeit auch«, entgegnete ich.

    Wir lächelten uns an.

    »Ich darf nur nicht durcheinanderkommen mit meinen beiden Disziplinen«, sagte ich.

    »Mit der Literatur und ihrer Erforschung? Die liegen nicht so weit auseinander, das wissen Sie doch.«

    »Ich dachte, ich wüsste das Gegenteil.«

    Joseph Vogl lachte.

    »Denken Sie an David Foster Wallace. Sie haben sich doch mit ihm beschäftigt und dazu publiziert. Wallace hat ebenfalls promoviert, doppelt sogar, und gleichzeitig war er literarisch tätig.«

    »Wenn ich an Wallace denke, dann denke ich an seine Depressionen und sein Ende. Suizid ist ein furchtbarer Tod. Die Freiwilligkeit, mit der jemand diesen Tod wählt, ist ja nur eine scheinbare. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich ein anderes Ende wählen. Wenn man den Tod auch nicht vermeiden kann, so sollte man doch manche Todesarten vermeiden.«

    »Kennen Sie das ›Todesarten-Projekt‹ von Ingeborg Bachmann?«

    »Nicht so genau, mir macht alles, was mit dem Tod zu tun hat, eher Angst.«

    »Das ist bei allen Menschen so, aber man kann sich seinen Ängsten stellen. Indem man sie beispielsweise darstellt. Indem man sie formt, sie aus dem Unförmigen herausholt und in eine Gestalt bringt.«

    Bei diesen Worten stand er auf. Meine Zeit in der Sprechstunde war vorüber.

    »Lesen Sie Bachmann«, sagte er.

    »Lesen Sie alles, was Sie kriegen können«, antwortete ich.

    »Wie meinen Sie das?«

    »Das hat einer meiner Dozenten, der Schriftsteller Mircea Cartarescu, in Bukarest gesagt: ›Lesen Sie, meine Damen und Herren, lesen Sie alles, was Sie kriegen können. Und wenn Sie es nicht kriegen können, dann besorgen Sie es sich. Lesen Sie alles, was Sie sich besorgen können.‹«

    Wir gaben uns die Hand, ich stand in der Tür, auf dem Flur wartete bereits der Nächste.

    »Sie haben doch diese Webpräsenz, Ihr Blog. Machen Sie etwas damit!«

    Damit war ich entlassen. Die Tür schloss sich und ich stand auf dem Flur. Was meinte er damit? Was sollte ich machen? Ich machte doch dauernd. Alle paar Tage stellte ich etwas ein. Wieso kritisierte er einerseits das Netz und ermunterte mich andererseits, etwas mit meinem Blog zu machen? Oder hatte er das nicht getan, hatte er das Netz nicht kritisiert und mich auch nicht ermuntert? Ich ging zum Aufzug, entschied mich dann aber für das Treppenhaus.

    »Frau Torik?«

    Ich drehte mich noch einmal um.

    »Ja?«

    »Das machen Sie doch nicht, oder?«

    »Sie in meinem zweiten Roman darstellen? Das würde ich doch nie tun!«

    »Ja, in Wirklichkeit würden Sie das nicht tun. Sollten Sie es aber doch tun, dann vergessen Sie bitte nicht, dass wir die Welt entsprechend unserer eigenen neurotischen Befindlichkeit zusammendichten: damit wir uns orientieren können. Wir würden die Wirklichkeit dieser Welt nie verstehen, wenn wir sie so nähmen, wie sie ist. Einmal abgesehen davon, dass sie so nicht ist, wie sie ist. Wirklichkeit ist, was nicht sein kann, wie es ist. Wir müssen sie so nehmen, dass wir meinen, sie wäre genauso, wie wir meinen, dass sie sein müsste. Das ist der Punkt, den Sie treffen sollten.«

    Ich studierte seit dem Wintersemester 2006 an der Humboldt-Universität in Berlin Literaturwissenschaft. Im Frühjahr 2007 begann ich mit der Arbeit an einem Roman, den ich im Herbst 2008 abschloss. Dann musste ich das Studium beenden. Von Januar bis März 2009 schrieb ich das Exposé für die Dissertation. Anfang April fand die Besprechung dazu statt. Nach diesem Gespräch ging ich spazieren. Ich versuchte zu begreifen, dass ich mindestens noch drei Jahre in Berlin bleiben würde. Normalerweise bewegt sich das Leben in kleineren Schritten, man lebt an einem Tag dort weiter, wo man am Tag zuvor aufgehört hatte. Man lebt kontinuierlich, ohne große Sprünge, aber auch ohne Auslassungen und Lücken. Manchmal trifft man jedoch Entscheidungen, die für viele Jahre bestimmend sind. Ich würde, begriff ich nach dem Gespräch mit meinem Professor, für die Dauer der Dissertation in Berlin bleiben und nicht nach New York gehen.

    Ich wohnte, seit ich hier angekommen war, zur Untermiete in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg. Die Hauptmieterin lebte in New York. Ich träumte manchmal davon, nach New York zu gehen, das hatte ich schon als Kind getan.

    »Was man als Kind träumt, das wird wahr«, hatte meine Mutter damals gesagt.

    Ich träumte davon, Fotomodell zu werden. Später wollte ich dann Präsidentin von Rumänien und schließlich Schriftstellerin werden. Und ich wollte nach New York. Seltsamerweise begegnete mir diese Sehnsucht nach diesem Ort, den ich nicht kannte, sehr häufig. Die Mieterin der Wohnung, die ich übernehmen konnte, hätte auch in jede andere Stadt der Welt gehen können, aber sie war ausgerechnet nach New York gegangen.

    Als ich an dem Tag der Besprechung des Exposés nach Hause kam, hatte ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, mit der mir diese Frau mitteilte, dass sie früher als geplant wieder zurückkäme. Ich saß auf dem Boden und hörte die Nachricht drei- oder viermal ab. Eine Stunde nachdem ich begriffen hatte, dass ich nicht nach New York ginge, begriff ich, dass diese Frau von dort zurückkam. Dadurch schien mir, rückte diese Stadt noch weiter in die Ferne. Dabei war sie sowieso unerreichbar, weil ich dorthin hätte fliegen müssen. Womöglich war die Unerreichbarkeit dieses Ortes gerade das, was seinen Reiz ausmachte.

    Ich musste mir also eine andere Wohnung suchen. Weil ich noch beinahe zwei Monate Zeit hatte, wollte ich nichts überstürzen. Am folgenden Tag war ich zum Mittagessen in der Mensa verabredet. Danach ging ich ins Institut, um am Schwarzen Brett nach Wohnungen zu schauen. Dort stand jemand und als ich hinzutrat, drehte sie sich zu mir um. Vor mir stand der mit Abstand schönste Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe. Ich war geradezu geblendet. Sie lächelte mich an.

    »Schaust du für eine Wohnung?«, fragte sie mich.

    Sie hatte einen Akzent. Den haben an einer internationalen Universität viele. Mindestens ein Drittel, eher die Hälfte der Studenten an der Humboldt-Universität kommt nicht aus Deutschland.

    »Ja, ich muss, wo ich gerade wohne, bald raus«, sagte ich. »Ich will mich mal informieren, was hier angeboten wird. Und du?«

    »Ich schaue auch«, antwortete sie.

    »Warum schaust du gerade hier?«

    »Was meinst du?«

    »Ich meine, wenn man so aussieht wie du, dann verdient man doch sicher Geld damit?«

    Ich war plötzlich verlegen. Aber sie strahlte mich an.

    »Die oben verdienen fast alles.«

    »Und wo stehst du?«

    »Ich? Unten. Da verdient man fast nichts.«

    »Du siehst aber aus, als stündest du oben.«

    »Es geht nicht ums Aussehen.«

    »Nein?«, fragte ich überrascht.

    Sie schüttelte den Kopf, beinahe ein wenig unwillig. Als wollte sie sagen, dass es gerade darum nicht ging.

    »Es geht um Kontakte.«

    »Und du hast keine Kontakte?«

    »Wollen wir uns zusammenziehen?«, fragte sie, statt meine Frage zu beantworten.

    »Uns?«

    »Wir!«

    »Ah, man sagt: ›Wollen wir zusammenziehen‹.«

    »Woher kannst du so gut Deutsch?«

    »Deutsch ist meine Muttersprache. Mein Vater ist Deutscher.«

    »Was ist deine Mutter?«

    »Rumänin.«

    »Dann ist Deutsch deine Vatersprache.«

    »Du hast recht, aber das kann man nicht sagen. Das Wort gibt es nicht.«

    »Irgendwelche Worte gibt’s immer nicht.«

    »Auch da hast du womöglich recht. Allerdings kann man nicht sagen, welche das sind, weil es sie dann ja doch gäbe. Und wenn es sie gäbe, könnte man ihr Fehlen nicht beklagen. Eigentlich kann

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