Tagebuch eines griechischen Euro: Eine europäische Geschichte
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Jorgo Chatzimarkakis erlaubt dem Leser mit seinem "Tagebuch eines griechischen Euro" einen Blick hinter die Kulissen der Eurokrise - aus der Perspektive der täglichen Nutzer und Ausnutzer der europäischen Währung.
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Tagebuch eines griechischen Euro - Jorgo Chatzimarkakis
8. April 2001
Heute bin ich um 11:33 Uhr in der staatlichen Münzprägeanstalt in Chalandri in Athen gestanzt worden, seit heute gibt es mich. Ich bin jetzt eine griechische Ein-Euromünze. Mein Durchmesser beträgt 23,25 Millimeter, dabei bin ich 2,33 Millimeter dick. Ich wiege 7,5 Gramm.
Meine Vorderseite sieht genauso aus wie die der übrigen Ein-Euromünzen. Ein messingfarbener Ring umgibt kreisförmig eine Nickelmünze mit einer ganz großen 1 auf der linken Seite. Die Zehenspitze der Ziffer 1 ragt vom Nickel- in den Messingbereich hinein. Rechts sieht man die geographische Darstellung der Europäischen Union in Umrissen und kann den Grenzverlauf zwischen den Mitgliedstaaten erkennen. In lateinischen Buchstaben steht hier das Wort ‚Euro‘. Am oberen und unteren Rand sind jeweils sechs Sterne, insgesamt also zwölf. Schon bei den alten Griechen symbolisierte die Zahl Zwölf das Thema Harmonie.
Besonders stolz bin ich auf meine Rückseite. Dort befindet sich ein Motiv, das bereits 2500 Jahre alt ist: Erstmals erschien es auf der athenischen 4-Drachmenmünze aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Viele sagen, die Drachme sei die älteste Währung der Welt. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber die abgebildete Eule, genauer gesagt der Steinkauz, war so etwas wie das Wappentier Athens. Diese Eulenart galt im antiken Hellas als Symbol der Weisheit und als Sinnbild der Göttin Athene, daher auch der offizielle Name dieses Tiers: Athene Noctua, übersetzt »nächtliche Athene«.
Übrigens verdanke ich dem Eulensymbol auf meiner Rückseite eine fast magische Fähigkeit: Selbst bei Dunkelheit verfüge ich über einen ausgezeichneten, nahezu röntgenartigen Sehsinn - nicht umsonst sind Eulen als nachtaktive Vögel bekannt. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich Ihnen Augenzeugenberichte liefern werde aus düsteren Kellern, verschwiegenen Hosentaschen und zugeknöpften Portemonnaies. Dank des griechischen Wappenvogels ist meine Sehschärfe legendär!
Wie alle meine Kollegen, auch denen aus anderen Euroländern, bestehe ich aus zwei Legierungen: Kupfernickel und Messing. Der Ring ist aus Messing gefertigt, der innere Teil, die sogenannte Pille, aus Kupfernickel.
Bevor ich so richtig zum Einsatz komme, muss ich noch mehrere Monate warten. Dann erst wird der Euro zur offiziellen Währung in der Eurozone. Ich bin schon sehr gespannt darauf, von den Menschen getauscht zu werden, und glaube, dass es für mich viel zu erleben gibt. Jetzt muss ich aber erst mal in den Tresor der griechischen Zentralbank, hier werde ich aufbewahrt, bis es endlich losgeht.
3. Januar 2002
Heute ist der große Tag, ich darf endlich raus! Jetzt darf ich das machen, wofür ich geschaffen wurde: Ich stelle den Gegenwert dar für etwas, was Menschen oder Firmen haben wollen. Mein Wert ist genau ein Euro, er bleibt auch ein Euro. Im Verhältnis zum amerikanischen Dollar oder zum chinesischen Yüan wechselt mein Wert. Aber das muss nicht an mir liegen. Es kann auch mit der schwachen Nachfrage nach dem US-Dollar zu tun haben, dass mein Wert steigt, einfach im Verhältnis der Währungen zueinander. Da ich eine völlig neue Währung verkörpere, muss das Vertrauen in mich erst noch wachsen. Zwei Jahre gab es mich schon als Buchwert; also, rein rechnerisch konnte ich schon testen, was ich wert bin. Aber so richtig los geht es vom Gesamtgefühl erst, wenn die Menschen mich in ihren Händen halten, wenn sie sich unter dem Euro etwas Konkretes vorstellen können.
Da kommt auch schon der Gabelstapler, der meine Palette abholt. In wenigen Momenten werde ich das Licht erblicken. Ein gesichertes Fahrzeug bringt mich zur Nationalbank von Griechenland. Dort, in der Athener Hauptfiliale, werde ich den heutigen Tag verbringen. Bin gespannt, wohin es danach geht, ob ich in der Hauptstadt bleibe oder vielleicht doch in eine entferntere Gegend verfrachtet werde.
Einige meiner Kollegen sind schon seit zwei Wochen unterwegs. Es ist noch keiner von ihnen zurückgekehrt. Ich habe aber bereits mitbekommen, dass die Euro-Einführung ein großer Erfolg war. Es gab keine Engpässe in der Versorgung mit frischem Geld, also mit Banknoten und mit Münzen. Auch die Menschen haben offenbar die neue Währung sehr freundlich in Empfang genommen. Sogar in Ländern, wo es eine große Euro-Skepsis gab, war die Stimmung gut. In Deutschland, dem größten Mitglied der Eurozone, hieß es sogar in einer Schlagzeile, der Euro sei sexy. Das hört man gerne! Und dazu aus einem Land, das sehr stark an der alten Währung, der D-Mark hing. Dann wollen wir den Siegeszug über die alten Währungen mal fortsetzen! Wann komme ich endlich ins erste Portemonnaie?
5. Januar 2002
Meine Palette ist gestern abend in einem gesicherten Lastkraftwagen in den Hafen von Piräus und dann auf ein Fährschiff nach Kreta gebracht worden. Aha, dorthin geht’s also: Kreta, jene Insel, auf die einst – der Sage nach – eine phönizische Prinzessin namens Europa von Gottvater Zeus entführt wurde. Auf Kreta, so sagt man, gab es die erste europäische Hochkultur, die minoische Kultur. Ein wunderbarer Ort, um im wahrsten Sinne des Wortes »das Licht der Welt zu erblicken«.
In den frühen Morgenstunden kommen wir im Hafen von Heraklion an. Polizisten achten darauf, dass meinem LKW nichts geschieht. Nach einer guten halben Stunde haben wir den Bauch des Schiffes verlassen und es geht weiter in den Osten der Insel. Zwei Stunden später erreichen wir die malerische Stadt Agios Nikolaos. Vor dem Gebäude der Nationalbank im Herzen der Stadt bewachen zwei Polizisten auf Motorrädern den Eingang. Ein kleiner Hubwagen hievt mich und meine Kollegen in das Bankgebäude. Die Angestellten sind schon ganz aufgeregt, uns in die entsprechenden Safes zu befördern. Man merkt ihnen den Stolz an, dass auch ihr Land, und dazu noch das kleine Agios Nikolaos im Osten von Kreta ebenfalls zu dieser vieldiskutierten Eurozone gehört.
Mein Karton liegt ziemlich weit unten, er wird als letzter von der Palette genommen, und siehe da, ich habe Glück und lande nicht im Safe. Gemeinsam mit meinen Freunden in der Papprolle werden wir in den Kundenraum der Bank getragen. Jetzt wird es Zeit, sich von meinen Kollegen hier zu verabschieden, wir waren aber auch lange genug aneinandergepresst. Noch vor der Mittagspause schaffe ich es in die zentrale Kasse der Filiale. Wenn jetzt jemandem Wechselgeld ausgehändigt wird, bin ich draußen!
Nach einer knappen Stunde ist es so weit. Ein junger Mann, gutaussehend trotz oder gerade wegen der zu vielen grauen Haare für sein Alter, hat eine Rechnung einbezahlt und bekommt Kleingeld heraus. Der Herr an der Kasse, Zigarette in der Hand, legt mich mit einigen anderen Münzen auf den Tresen. Der junge Mann lacht, es scheint, als sei das alles noch ganz neu für ihn. Er hebt mich hoch und führt mich ganz nah an sein Auge. »Na, sind die auch echt?«, fragt er den Mann an der Kasse. »Sind gerade frisch aus Athen gekommen!«, bekommt er zur Antwort. Ich lande in seinem Portemonnaie, braunes Leder, könnte aus griechischer Produktion stammen. Jetzt bin ich endlich raus aus der Bank und mitten im Leben! Der Grauhaarige braust mit seinem Motorroller davon. Zuhause angekommen zeigt er mich allen Bekannten und Verwandten. Staunende Augen sind auf mich gerichtet. Könnte ich rot anlaufen, würde ich das jetzt tun. Ein wenig stolz bin ich schon.
6. Januar 2002
War ganz interessant im Portemonnaie des jungen Mannes. Neben einer Zwei-Euromünze und einigen Centmünzen lagen noch drei 100-Drachmenmünzen darin. Natürlich haben die drei und ich uns sofort gegenseitig misstrauisch beäugt. Was bildet der sich ein?, schien eines der Drachmenstücke zu argwöhnen und stichelte zu seinem Kollegen: »Was hat der bloß, was wir nicht haben?« Als Neuer zog ich es vor, erst mal höflich zu schweigen. Obwohl ich mich, ganz klar, für etwas Besseres halte. Ob die mir das angemerkt haben?
Der junge Grauhaarige nutzt vorzugsweise die Drachmen zur Bezahlung, holt sich Zigaretten zum Selberdrehen und eine Zeitung. Zunächst bleibe ich in seinem Geldbeutel. Der Januar 2002 ist der Monat des Wechsels. Die Menschen werden so schnell wie möglich die alte Währung loswerden wollen. Kann ich gut verstehen, das Neue ist immer interessanter. Außerdem sehen wir Euromünzen ja wirklich attraktiv aus, da können diese Drachmen motzen, so viel sie wollen. Bin mal gespannt, wann ich die erste nicht-griechische Euromünze kennenlerne.
Mit seinem Motorroller fährt der junge Grauhaarige am Meer entlang. Von Agios Nikolaos geht es nach Norden in den Ort Elounda. Im Sommer verbringt hier die Schickeria der Welt ihre Ferien. Spannend! Vielleicht lande ich ja mal in der Geldbörse von einem Superpromi? Mein vorübergehender Besitzer trinkt einen Kaffee mit einem Freund, Cappucino ohne Zucker. Er zahlt jetzt mit der Zwei-Euromünze und 50 Cent. Er rechnet nach, indem er die Lippen bewegt und fast flüstert. Dann beschwert er sich: »Der Kaffee ist teurer geworden, Michali!« Der Wirt gibt zurück, er habe sich erkundigt, was das Getränk in Spanien oder Italien kostet, und sich dem allgemeinen Preisspiegel angepasst. Der Grauhaarige runzelt die Stirn. »Dann werden wir wohl einiges an Preissteigerungen zu erwarten haben!«, murmelt er unwirsch.
7. Januar 2002
Vielleicht aufgrund der Verärgerung über den möglichen Preisanstieg wurde ich gestern nicht mehr ausgegeben. Der junge Mann mit den grauen Haaren scheint verunsichert zu sein, wie sich das Preisniveau im Euro-Zeitalter entwickeln wird. Am Morgen fährt er mit seinem Jeep auf ein Feld nahe der Stadt Agios Nikolaos. Er schneidet Äste eines Baumes ab, hackt Holz. Dann fährt er zu einem älteren Ehepaar – offenbar handelt es sich um seine Eltern – und lädt dort das Holz fein säuberlich ab. Die kleine Hütte im Hinterhof scheint der ideale Aufbewahrungsort für das Brennholz zu sein. Ein offener Kamin im Winter auf Kreta ist ja auch eine tolle Sache.
Gemeinsam mit seinen Eltern fährt er jetz in der Limousine seines Vaters zum Mittagessen. Es geht nach Plaka, rund 15 Minuten Fahrt, dem Ort gegenüber der berühmten Kleininsel Spinalonga, einer alten venezianischen Festung, die im 20. Jahrhundert bis in die fünfziger Jahre hinein als Quarantäne für Lepra-Kranke genutzt wurde. Plaka ist bekannt für seine wenigen, aber exzellenten Fischrestaurants, die auch im Winter geöffnet sind. Hier trifft der Grauhaarige weitere Verwandte. Sein Bruder, der in Deutschland wohnt, ist über Neujahr zu Besuch.
»Na, habt ihr schon Euros in der Tasche?«, fragt der Gast aus dem Norden.
Der Vater nickt mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen.
»Der erste Cappucino in Euro war ganz schön teuer«, ärgert sich mein Besitzer erneut. »Hoffentlich kostet uns das Fischessen hier kein kleines Vermögen!«, ruft er vernehmlich. »Keine Sorge«, wirft der Wirt ein, »wir haben die Preise exakt so belassen wie sie waren.«
Der Vater will wissen: »Und am Ende immer ein wenig aufgerundet, nicht wahr?«
Prompt antwortet der Wirt: »Manchmal auf- und manchmal abgerundet. Am Ende bleibt das Preisniveau gleich. Wir sollten froh sein, dass unser Land überhaupt bei der Währungsunion dabei ist. Was für eine Ehre! Wer hätte vor kurzem gedacht, dass wir auf einer Stufe stehen mit Franzosen und Deutschen? Wer sich jetzt bereichern will, der hat keinen Sinn für diese historische Errungenschaft. Wegen ein paar Euros mehr Gewinn sollten wir nicht unseren Ruf aufs Spiel setzen!«
»Wenn alle so im Sinne des Gemeinwohls dächten wie du, Manoli, gäbe es keine Kriege mehr auf der Welt. Hoffen wir mal, dass die staatliche Aufsicht scharf kontrolliert und die Preise im Rahmen bleiben. Welchen Fisch kannst du uns heute frisch servieren?«, fragt der Gast aus Deutschland und leitet zum familiären Teil des Treffens über.
Es gibt zunächst eine Fischsuppe, die allen gut mundet. Heute ist es besonders kühl, und der Blick aufs Meer lässt auf heftigen Wind schließen, das Wasser braust auf, die Wellen schäumen stark. Immer wieder regnet es, manchmal prasselt es laut auf das Holzdach der Fischtaverne mit dem wunderbaren Blick auf Spinalonga.
Dorade und Sardinen werden serviert. Leider kann ich selber ja nichts essen, aber es ist ein Genuss, der Familie beim Essen zuzuschauen. Die Gespräche kreisen um die wirtschaftliche Perspektive der Menschen auf Kreta. Wird der Euro eher nutzen oder schaden? Der Bruder aus Deutschland verweist auf den großen Währungsraum, der die Wirtschaft ankurbeln wird:
»Auch die Exporte aus Kreta werden dadurch leichter ihre Abnehmer finden. Gurken, Tomaten, Olivenöl. Jetzt gibt es ja nur noch eine Währung, das heißt auch mehr Sicherheit für Ein- und Ausfuhr.«
»Hoffen wir das Beste!«, sagt der Vater, während er zum Bezahlen ansetzt. Der Bruder drückt den Unterarm des Vaters, dessen Portemonnaie gleitet wieder in die Hosentasche.
»Heute bin ich dran. Schließlich kommen die Regeln für die Euro-Stabilität ja aus Deutschland«, wirft der deutsche Grieche ein und zückt zwei Euronoten – einen Fünfziger und einen Zwanziger. Dann fügt er hinzu: »Symbolisch sollten wir noch eine Euromünze drauflegen. Hier ist eine deutsche. Wer hat eine griechische?«
Sollte das jetzt mein großer Moment sein, wo ich endlich eine andere Euromünze treffe? Habe schon lange darauf gewartet, und dann ausgerechnet eins der großen Geschwister aus Deutschland. Ja! Ich lande gemeinsam mit dem deutschen Euro auf dem Tablett des Wirtes. Der hat Tränen in den Augen:
»Ihr seid die ersten, die mich in Euro bezahlen. Was für ein historischer Moment! Verzeiht bitte, aber ich bin gerührt«, schluchzt er.
»Stimmt so!«, rufen die Brüder fast im Chor.
»Lass es