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Die vergessene Schuld: Mordkommission Frankfurt: Der 6. Band mit Siebels und Till
Die vergessene Schuld: Mordkommission Frankfurt: Der 6. Band mit Siebels und Till
Die vergessene Schuld: Mordkommission Frankfurt: Der 6. Band mit Siebels und Till
Ebook460 pages6 hours

Die vergessene Schuld: Mordkommission Frankfurt: Der 6. Band mit Siebels und Till

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About this ebook

Er ist alt und dement und meldet den Mord an einer Frau.
Der verwirrte Mann spricht von einem über 50 Jahre alten Fall, den er in die Gegenwart projiziert. Zur gleichen Zeit wird sein Enkel ermordet.

Siebels und Till ermitteln und kommen gut behüteten Familiengeheimnissen auf die Spur.
Ein undurchdringlicher Zement, gemischt aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen, verbindet zwei Familien seit Generationen miteinander.

Schließlich stoßen die Kommissare auf den Bruder des verwirrten Mannes. Der hatte sich vor 50 Jahren von der Familie losgesagt und in Brasilien niedergelassen.
LanguageDeutsch
Release dateJun 25, 2013
ISBN9783939362111
Die vergessene Schuld: Mordkommission Frankfurt: Der 6. Band mit Siebels und Till

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    Die vergessene Schuld - Stefan Bouxsein

    2020

    1

    100 Tage vor Roberts Tod

    Ich saß an der Theke und nippte an meinem Bier. Aus den Lautsprechern dröhnte Tanzmusik. Es war kurz nach Mitternacht und die Tanzfläche in der Mitte des Raumes war mittlerweile gut gefüllt. Ich saß mit dem Rücken zum Tresen und beobachtete das ausgelassen tanzende Volk. Die kleine Gruppe, der mein Interesse galt, blieb auch auf der überfüllten Tanzfläche untrennbar zusammen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie für zwei Liebespärchen gehalten. Es waren aber zwei Geschwisterpärchen. Julia und ihr Bruder Robert sowie Melanie und ihr Bruder Max. Die beiden Mädchen waren ein Jahrgang, beide 24 Jahre alt. Robert war mit 27 der Älteste, Max war ein Jahr jünger als sein Cousin Robert. Ich beobachtete die vier jetzt schon seit drei Stunden. Drei Stunden, in denen sie sich kaum auseinanderbewegt hatten. Eine unzertrennliche Clique. Ab und an gingen Robert oder Max neue Getränke für die Gruppe besorgen. Hin und wieder verschwanden Julia und Melanie auf der Toilette. Kurz darauf standen die vier erneut einträchtig beisammen. Nun tanzten sie zusammen. Zwischendurch hatten sich Freunde oder Kommilitonen zu den vieren gesellt. Anscheinend duldete die Gruppe aber niemanden länger als ein paar Minuten für einen Smalltalk unter sich. Robert kristallisierte sich als der Anführer heraus. Er wachte mit Argusaugen über seine Schwester und seine Cousine. Wenn Julia und Melanie etwas länger auf der Toilette blieben, sah er nach einer Weile nervös auf seine Uhr und beobachtete ohne Unterlass die Tür zum Toilettenraum. Wenn Max einen Freund begrüßte und sich mit ihm unterhielt, zog sich Robert einige Meter zurück. Aber nur für kurze Zeit. Verstohlen schaute er sich dabei immer wieder nach seinem Cousin um, bevor er sich irgendwann in dessen Unterhaltung einmischte und dafür sorgte, dass dessen Gesprächspartner bald wieder weiterzog. Wenn sich gutaussehende Freundinnen von Julia und Melanie zu ihnen gesellten, zeigte Robert sein anderes Gesicht. Dann mischte er sich gleich in die Gespräche der Mädchen ein und spielte sich als Platzhirsch auf. Es war wunderbar zu beobachten, wie dann das harmonische Gleichgewicht der Gruppe gestört war. Aber irgendwie schafften sie es, ihr Gleichgewicht immer wieder herzustellen. Kein Außenstehender wurde für einen längeren Teil des Abends in der Gruppe aufgenommen.

    Ich war im ersten Studienjahr, so wie auch Julia und Melanie. Robert und Max waren bereits im dritten Studienjahr. Wir studierten alle Architektur. An diesem Abend lief die Erstsemesterparty der Architekturstudenten. Zum ersten Mal beobachtete ich sie alle vier über einen längeren Zeitraum gemeinsam. Ich musste mich noch entscheiden. Julia oder Melanie. Julia war offenherziger, unbekümmerter, zugänglicher und fröhlicher als ihre Cousine. Melanie wirkte manchmal etwas abwesend. In Gedanken entfernte sie sich von der Gruppe, wurde aber immer wieder schnell zurückgeholt und in alberne Gespräche verwickelt. Gespräche, in denen sich Robert mit seiner Gestik als Alphatierchen aufspielte. Bei Melanie würde es etwas länger dauern, bis sie auftaute, vermutete ich. Robert wollte ich so lange wie möglich aus dem Weg gehen. Max war mir erst mal egal.

    Ich trank mein Bier aus, stellte das Glas auf dem Tresen ab und ging zur Tanzfläche. Der DJ legte gerade ein paar Oldies auf. Bei Night Fever von den Bee Gees tanzte ich mich langsam an die Gruppe heran. Bald tanzte ich Auge in Auge mit Julia. Sie hatte mich gleich erkannt und mich freudig begrüßt. Wir unterhielten uns kurz, soweit das bei der lauten Musik möglich war. Weil man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte, bewegten wir uns sehr dicht aneinander zur Musik. Ich blieb auch bei den nachfolgenden Musikstücken so dicht wie möglich bei Julia und Julia machte keine Anstalten, sich von mir zu entfernen. Im Gegenteil. Sie flirtete mit mir. Erst mit Worten, dann mit Gesten und Bewegungen. Ich spürte förmlich die Blicke von Robert in meinem Rücken. Als ich mich kurz herumdrehte, sah ich ihm tatsächlich in die Augen. Ich stand unter seiner strengen Beobachtung und meine Zeit innerhalb der Gruppe schien seiner Meinung nach abgelaufen zu sein. Jedenfalls trat er zwischen Julia und mich und machte mit blöden Armbewegungen den Affen auf der Tanzfläche. Ich zog mich zurück, ließ noch ein paar Leute zwischen mir und Julia tanzen, tat so, als wäre ich wieder nur mit mir und der Musik beschäftigt und wartete noch zwei weitere Titel ab. Dann machte ich zwei große Schritte auf Julia zu, nahm sie bei der Hand, fragte sie, ob sie Lust auf einen Drink hätte und zog sie von der Tanzfläche. Julia begleitete mich lachend.

    Montag - Roberts Todestag

    Hauptkommissar Siebels saß vor einem aufgeräumten Schreibtisch. Es war fast 17:00 Uhr und eigentlich gab es nichts mehr zu tun. In den letzten Wochen waren kaum nennenswerte neue Fälle reingekommen. Einen großen Teil seiner angehäuften Überstunden hatte er bereits abgefeiert. Sein Kollege Till Krüger hatte das Büro schon vor fast einer Stunde verlassen. Siebels lehnte sich entspannt zurück und hoffte inständig, dass diese Ruhe vor dem nächsten Sturm noch ein paar Tage anhielt. In vier Tagen hatte er seinen Termin auf dem Standesamt. Noch vier Tage, dann würde er seiner Sabine endlich das lang ersehnte Ja-Wort geben. Und für den darauffolgenden Sonntag war die große Feier angesetzt. Einen Mordfall mit der Priorität »schnellstmögliche Aufklärung« konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Oder einen besonders heiklen Fall, wie Staatsanwalt Jensen es immer nannte, wenn er zum Ausdruck bringen wollte, dass ab sofort Tag und Nacht ermittelt werde. Aber Jensen hatte schon seit Tagen nichts mehr von sich hören und sehen lassen. Siebels misstraute dem trügerischen Frieden. Gerade wollte er sich von seinem Stuhl erheben und den Feierabend einläuten, als Charly Hofmeier in Begleitung eines betagten Herrn das Büro betrat. Charly Hofmeier war der IT-Experte im Frankfurter Polizeipräsidium und stand dem erfolgreichsten Team der Frankfurter Mordkommission, Steffen Siebels und Till Krüger, bei besonders heiklen Fällen mit Rat und Tat zur Seite. Besonders hilfreich waren dabei seine speziellen Kenntnisse beim Einloggen in fremde Netzwerke und Rechner.

    »Ich habe Besuch mitgebracht«, sagte Charly und zeigte auf den älteren Herrn. »Das ist Herr Silber. Er möchte einen Mord melden.«

    Siebels drehte das Radio etwas leiser. »Dann setzen Sie sich doch bitte«, bat Siebels Herrn Silber und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

    Herr Silber benutzte einen Gehstock und kam mit unsicheren Schritten näher. Charly blieb an der Tür stehen und gab Siebels mit einer eindeutigen Handbewegung zu verstehen, dass Herr Silber nicht mehr ganz klar im Kopf war.

    »Sie möchten also einen Mord melden«, wiederholte Siebels, nachdem Herr Silber vor ihm Platz genommen hatte. Seinen Hut behielt er auf dem Kopf, den Gehstock stellte er zwischen seine Beine. Siebels bemerkte die falsch geknöpfte Hemdleiste und einige Kaffeeflecken auf der Weste, die Herr Silber über dem Hemd trug.

    »Wer ist denn das Opfer?«, wollte Siebels wissen.

    »Sie meinen, wer ermordet wurde?«, fragte Herr Silber mit lauter Stimme und drehte seinen Kopf dabei leicht zur Seite.

    Siebels bemerkte das Hörgerät und sprach etwas lauter.

    »Ja, wer wurde denn ermordet?«

    »Na, die Juliane«, sagte Herr Silber, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

    Charly stand noch im Türrahmen und freute sich schon auf das weitere Gespräch.

    »Die Juliane«, wiederholte Siebels und kritzelte etwas auf einen Zettel. »Kennen Sie auch den Nachnamen?«

    »Juliane Mangold«, sagte Herr Silber wie aus der Pistole geschossen.

    Siebels schrieb den Namen auf. »Wissen Sie auch, wie alt diese Juliane Mangold war?«

    »Wie alt? Hm. Zwanzig?« Der alte Herr schaute Siebels fragend an.

    »Einen Moment bitte, Herr Silber. Ich bin gleich wieder da.« Siebels ging zu Charly und fragte ihn flüsternd, ob schon jemand die Identität dieser Juliane Mangold überprüft hätte.

    »Ich habe es versucht. In Frankfurt gibt es zwei Frauen, die Juliane Mangold heißen, aber die erfreuen sich bester Gesundheit. Ich habe sie beide angerufen. Sie kennen auch Herrn Silber nicht.«

    Siebels nickte und wollte sich wieder auf seinen Platz setzen, als er aus dem Radio eine Suchmeldung vernahm.

    »Gesucht wird Herr Otto Silber. Herr Silber wird seit dem frühen Morgen vermisst. Er ist 84 Jahre alt und hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Herr Silber ist vermutlich mit einem hellblauen Hemd, einer grauen Strickweste und einer dunkelblauen Hose bekleidet. Er trägt einen Hut und benutzt einen Gehstock. Herr Silber benötigt dringend Medikamente. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle in Frankfurt entgegen.«

    Charly grinste über beide Ohren und zeigte Siebels den erhobenen Daumen. Fall gelöst, sollte das heißen.

    »Erkundigst du dich bei den Kollegen, wo wir ihn abliefern können?«, fragte Siebels. »Wenn es nicht so weit weg ist, bringe ich ihn nach Hause.«

    »Vermutlich ins Altenheim. Ich komme gleich wieder und sage dir Bescheid.«

    »Wissen Sie auch, wer Juliane Mangold umgebracht hat?«, fragte Siebels, als er wieder auf seinem Platz saß.

    Otto Silber schüttelte den Kopf. »Nein. Wer tut denn so etwas? Die Juliane hat keiner Menschenseele etwas zuleide getan.« Otto Silber klang traurig. Eine Träne lief über seine faltige Haut.

    »Haben Sie den Mord beobachtet?«, fragte Siebels.

    Otto Silber schaute ihn verwundert an. »Nein. Ich habe nichts gesehen.«

    »Aber woher wissen Sie denn, dass sie ermordet wurde?«

    »Woher ich das weiß?« Otto Silber runzelte die Stirn. »Irgendjemand hat es mir erzählt. Die Juliane ist tot. Alle haben es gesagt. Ihre Kollegen haben es doch auch gesagt. Sie sind doch Polizist, oder? Ein Inspektor, oder?«

    »Ich bin ein Kommissar. Ein Kriminalhauptkommissar. Kriminalhauptkommissar Siebels. Aber meine Kollegen wissen nichts von einer ermordeten Juliane Mangold.«

    Otto Silber schlug wütend mit seinem Stock auf den Boden. »Die lügen doch alle. Alles Lügner und Betrüger! Die stecken alle unter einer Decke. Aber ich lasse mich nicht belügen. Ich bin Architekt. Ich weiß, dass die Juliane totgeschlagen wurde. Jeder weiß es. Alle wissen es. Sie wissen es auch, Inspektor!« Otto Silber wurde immer lauter und fuchtelte jetzt aggressiv mit seinem Stock vor dem Gesicht von Siebels herum. Siebels saß verdutzt vor dem aufgebrachten alten Herrn und wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Erleichtert nahm er Charly wahr, der gerade wieder das Büro betrat. Charly schüttelte lächelnd den Kopf und redete beruhigend auf Otto Silber ein. »Der Herr Siebels bringt Sie jetzt erst mal nach Hause, Herr Silber. Das Abendessen wartet schon auf Sie.«

    Otto Silber ließ sich wieder auf seinem Stuhl zurücksinken. »Ja, ich habe Hunger. Aber was ist denn mit der Juliane?«

    »Darum kümmere ich mich«, lenkte Siebels ein. »Wenn ich Genaueres weiß, sage ich Ihnen sofort Bescheid.« Siebels nahm einen Zettel von Charly entgegen. Seniorenresidenz Sonnenschein, stand darauf. Dort wurde Otto Silber schon schmerzlich vermisst. Charly beugte sich flüsternd zu Siebels. »Das liegt an der Wilhelmshöher Straße in Seckbach. Herr Silber ist dement.«

    »Das habe ich mir schon gedacht«, flüsterte Siebels zurück. »Na, dann bringe ich ihn mal zurück.« Siebels schloss seine Schränke und Schubladen ab und machte sich mit Herrn Silber auf den Weg. Otto Silber folgte Siebels wortlos durch die langen Gänge des Polizeipräsidiums. Siebels verspürte schon seit einiger Zeit den Druck in seiner Blase, der nun stärker wurde. Zwischen zwei Büros, an denen sie gerade vorbeigingen, lag eine Toilette. Siebels schaute zu Otto Silber. »Müssen Sie auch mal auf die Toilette?«

    Otto Silber schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Ich will mein Abendessen.«

    »Dann warten Sie bitte einen kleinen Moment hier auf mich. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Siebels hatte nun das Gefühl, sich jeden Moment in die Hose zu pinkeln, wenn er sich nicht beeilte. Schnell verschwand er hinter der Toilettentür. Als er zwei Minuten später wieder herauskam, war von Otto Silber nichts mehr zu sehen. Siebels fluchte. Dann vernahm er aus einem der Büros die Stimme seines Schützlings. Siebels atmete erleichtert auf und öffnete die Bürotür. Es war das Zimmer von zwei Kommissaren, die sich mit Bandenkriminalität auseinandersetzten. Die beiden hartgesottenen Beamten saßen wie eingeschüchterte kleine Jungs hinter ihren Schreibtischen. Otto Silber schlug mit seinem Stock auf einen der Schreibtische ein.

    »Wo sind denn die Zeichnungen? Geben Sie mir sofort die Zeichnungen!« Otto Silber machte einen sehr aufgebrachten Eindruck. »Sitzen die hier den ganzen Tag rum und klotzen sich gegenseitig blöd an, das darf doch nicht wahr sein. Die Zeichnungen müssen heute noch fertig werden. Wo haben Sie sie hin? Los, raus mit der Sprache!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er wieder seinen Stock auf die Schreibtischplatte.

    »Herr Silber, die Herren sind keine Architekten und keine Zeichner. Das sind auch Kriminalkommissare.« Siebels legte seine Hand auf die Schulter des aufgebrachten Mannes und versuchte, ihn zu beruhigen.

    »Aber die Zeichnungen«, stammelte Otto Silber. »Wir haben doch Abgabetermin.«

    »Jetzt bringe ich Sie zum Abendessen. Das habe ich Ihnen doch versprochen.«

    »Ja, gut. Ich habe Hunger.« Otto Silber ließ sich am Arm von Siebels aus dem Büro führen. An der Türschwelle drehte er sich noch einmal um. »Bis morgen habt ihr die Zeichnungen aber fertig, ihr faulen Hunde.«

    »Alles klar, Chef, wird erledigt«, versuchte Kriminalkommissar Behrend seinen Besucher zu beschwichtigen. »Sowie wir die Hells Angels dingfest gemacht haben, kümmern wir uns um die Zeichnungen«, gab nun auch Kommissar Schramm seinen Kommentar ab.

    Siebels kannte die beiden flüchtig. Er zeigte ihnen den erhobenen Daumen. »Gut so. Und jetzt wieder an die Arbeit, ihr faulen Hunde. Ich bringe den Chef derweil zur Seniorenresidenz Sonnenschein. Wünsche einen angenehmen Feierabend.« Als Siebels Otto Silber wieder aus dem Büro bugsiert und die Tür geschlossen hatte, hörte er das Gelächter der beiden. Er fand es jetzt aber gar nicht mehr lustig. Otto Silber schaute ihn wieder ganz treu und traurig an. Siebels wünschte, er könnte dem alten Mann etwas Gutes tun. Wenigstens konnte er ihn sicher zurück ins Heim begleiten.

    Während der Fahrt saß Otto Silber meist schweigend auf dem Beifahrersitz. Siebels hörte den Nachrichten im Radio zu und als im Anschluss Musik von Tina Turner lief, fragte er sich, wo und wie er seine letzten Tage einmal verbringen würde. Um die trüben Gedanken beiseitezuschieben, erzählte er Herrn Silber, dass er in wenigen Tagen heiraten würde.

    Otto Silber drehte seinen Kopf zu Siebels und schaute ihn an. »Tun Sie das besser nicht«, sagte er dann leise.

    Siebels hatte das Gefühl, dass sein Beifahrer in diesem Moment völlig klar im Kopf war.

    In der Seniorenresidenz erwartete man Otto Silber schon sehnlichst. Zwei Pfleger nahmen ihn in Empfang. Siebels wies sich als Kommissar aus und hegte den Wunsch, noch mit jemandem von der Heimleitung zu sprechen. Während einer der Pfleger Otto Silber zu seinem Abendessen brachte, brachte der andere Siebels ins Büro der Heimleitung.

    »Roswitha Hebenstein ist mein Name. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht und unseren Herrn Silber persönlich abgeliefert haben.« Frau Hebenstein war Ende fünfzig. Sie trug eine goldumrandete Brille, hochgestecktes Haar, einen Rock mit Schottenmuster und einen Rollkragenpullover.

    »Herr Silber macht mir einen sehr verwirrten Eindruck«, begann Siebels das Gespräch mit ihr.

    »Ja, er leidet unter Demenz. So wie die meisten unserer Bewohner. Wir passen daher auch gut auf, dass sich niemand heimlich aus dem Staub macht. Aber Herr Silber hat uns heute Vormittag anscheinend ausgetrickst.«

    »Sie meinen, er ist ganz gezielt ausgebüchst? Ich dachte eher, er hätte vielleicht einen Spaziergang gemacht und dabei die Orientierung verloren.«

    »Nein. Er hat das ganz genau geplant. Er hat mehrere Leute vom Personal angeschwindelt und zwar so gezielt, dass er unbemerkt das Haus verlassen konnte.«

    Siebels runzelte die Stirn. »So sehr verwirrt ist er dann also doch nicht.«

    »Seine Demenz ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Aber er befindet sich in keinem kontinuierlichen Zustand der geistigen Verwirrung. Sie können sich das folgendermaßen vorstellen: Das Gehirn von demenzerkrankten Menschen gleicht dem Himmel. Es gibt Momente, da ist kein Wölkchen am Himmel. Es ist klar und blau. Solche Momente erlebt auch Herr Silber hin und wieder noch. Da denkt er ganz klar und logisch. Dann tauchen aber kleine Wolken auf. Diese Wolken trüben das Kurzzeitgedächtnis. Namen von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld sind plötzlich nicht mehr greifbar. Was vor wenigen Minuten noch passiert ist, ist plötzlich wie ausradiert im Gedächtnis. Diese Wolken ziehen immer öfter auf. Betroffene Menschen merken natürlich, dass ihr Erinnerungsvermögen sie nach und nach im Stich lässt. Aber je bewölkter es in unserem Gehirn wird, desto schwieriger wird es für uns, uns mit unserer Umgebung zu arrangieren. Diese Wolken trüben zunächst das Kurzzeitgedächtnis. Weiter hinten bleibt es klar und blau. Die Vergangenheit ist noch präsent und je weiter sie zurückliegt, desto klarer kommt sie wieder zum Vorschein.«

    »Herr Silber war früher Architekt?«, erkundigte Siebels sich.

    »Ja. Er hat das Architekturbüro Silber gegründet. Sie haben vielleicht schon davon gehört? Seine beiden Söhne leiten es jetzt.«

    Siebels lächelte. »Auf dem Polizeipräsidium hat ihn die Vergangenheit wohl wieder eingeholt. Er ist in das Büro von zwei Kollegen marschiert und hat sie böse beschimpft, weil sie die Zeichnungen noch nicht fertig hatten.«

    »Das ist genau der Punkt. Eben hegt er vielleicht noch einen klaren Gedanken, im nächsten Moment trüben aber schon wieder einige Wolken sein Erinnerungsvermögen und er flüchtet zu dem Stück klaren Himmel, das vielleicht zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Jahre in der Vergangenheit liegt. Diese alten Erinnerungen projeziert er aber in die Gegenwart und dann kommt alles durcheinander. Er ist nicht mehr in der Lage, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren, weil er das, was man gerade gemeinsam erlebt, mit Erlebnissen aus seiner Vergangenheit kombiniert. Sein Gesprächspartner kann natürlich nicht mehr nachvollziehen, wie er den Wolken in seinem Gehirn ausweicht und irgendwo in der Vergangenheit wieder auftaucht. Ein zusammenhängendes Gespräch ist also kaum mehr möglich. Menschen wie Herr Silber merken natürlich, dass man sie dann nicht mehr für voll nimmt. Aber sie wissen nicht, warum. Sie hangeln sich von einem klaren Stück Himmel zum nächsten, ohne dabei zu bemerken, dass sie sich auf einer Zeitreise durch die Vergangenheit befinden. Mit jedem Satz, den sie sagen, stoßen sie dann auf Unverständnis. Und das ist das Fatale. Sie erleben, wie sie von ihren Mitmenschen für blöd gehalten werden. Darauf reagieren sie dann entsprechend. Entweder verschließen sie sich völlig oder sie legen aggressive Verhaltensweisen an den Tag.«

    Siebels dachte wieder an Otto Silber und schmunzelte. »Herr Silber scheint gerne mit seinem Stock auszuschlagen, wenn er nicht für voll genommen wird.«

    »Ja, das haben Sie also auch erlebt. Das kommt öfter vor. Ich befürchte aber, in einigen Monaten hat er auch diese Phasen hinter sich. Dann wird er hauptsächlich mit einem stark bewölkten Himmel leben müssen und wenn es noch schlimmer wird, herrscht irgendwann dichter Nebel in seinem Kopf und die letzten Flecken von klarem Himmel geraten ganz außer Sichtweise. Dann ist er vollkommen pflegebedürftig.«

    »Als ich ihn hergefahren habe, erzählte ich ihm, dass ich Ende der Woche heiraten werde. Mein zweiter Versuch. Er schaute mich an und sagte dann, dass ich das besser nicht tun sollte. Und ich hatte das Gefühl, dass er in diesem Moment einen völlig klaren Himmel hatte, keine Wolke weit und breit.«

    Frau Hebenstein nickte wissentlich. »Das kann gut sein. Seine Frau ist ein Drachen.«

    »Sie lebt noch?«

    »Oh ja. Frau Silber erfreut sich bester Gesundheit. Um ihren Mann kümmert sie sich aber nicht mehr. Den hat sie abgeschrieben. Sie kümmert sich lieber um ihre Söhne und sorgt dafür, dass die das Erbe ihres Vaters aufrechterhalten. Das Architekturbüro Silber.«

    »Eine Frage habe ich noch«, sagte Siebels nachdenklich. »Herr Silber ist im Polizeipräsidium erschienen, um einen Mord zu melden. Eine Juliane Mangold sei ermordet worden. Sagt Ihnen der Name etwas?«

    »Juliane Mangold? Oh je, ich befürchte, da hat er einiges durcheinandergebracht. Eine unserer Pflegerinnen heißt Jana Mangold. Sie kümmert sich um Herrn Silber und sie kommt sehr gut mit ihm zurecht. Sie ist aber seit einer Woche im Urlaub. Ich glaube, Herr Silber vermisst sie sehr. Da hat er den ganzen Aufwand also betrieben, um seine Jana von der Polizei suchen zu lassen. Noch eine Woche, dann ist sie wieder da. Bis dahin werden wir ihn wohl gut im Auge behalten müssen.«

    »Ist Jana die Kurzform von Juliane?«

    »Ich glaube, Jana ist ihr richtiger Name. Wie er auf Juliane kommt, kann ich mir jetzt auch nicht erklären. Aber vielleicht gab es mal eine Juliane in seinem Leben. Das könnte auch 60 oder 70 Jahre her sein. Vielleicht seine erste große Liebe, die er jetzt wiederentdeckt hat.«

    »An einem kleinen blauen Stück Himmel, ganz weit weg«, ergänzte Siebels.

    »Genau. Ich mag diesen Vergleich mit dem Himmel. Die Angehörigen verstehen gleich viel besser, was mit ihren Lieben los ist, wenn die von der Demenz heimgesucht werden. Das erleichtert das Zusammenleben ungemein, wenn man sich eine Vorstellung von dem macht, was so ein Mensch erleidet.«

    »Ja, das stimmt. Mir erscheinen die Verhaltensweisen von Herrn Silber jetzt auch nachvollziehbar. Allerdings kann ich auch nicht mehr ausschließen, dass Herr Silber tatsächlich einen Mord melden wollte. Vielleicht einen Mord, der schon 50, 60 oder 70 Jahre zurückliegt. Ich würde mich gerne mit dieser Jana Mangold mal unterhalten. Wissen Sie, ob sie verreist ist?«

    »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich weiß es nicht.«

    »Können Sie mir ihre Telefonnummer geben?«

    »Hat das nicht Zeit bis nächste Woche? Dann ist sie doch wieder hier und kann sich bei Ihnen melden.«

    »Leider nein. Ich bin bei der Mordkommission und muss jedem Hinweis auf einen Mord unverzüglich nachgehen.« Siebels staunte über seine eigenen Worte. Auf dem Präsidium hatte er die Aussage von Otto Silber nicht als ermittlungswürdig eingestuft. Jetzt witterte er aber eine Spur und er wollte nicht eine Woche ins Land ziehen lassen, ohne etwas zu unternehmen. Frau Hebenstein schrieb ihm die Telefonnummer von Jana Mangold auf.

    2

    100 Tage vor Roberts Tod

    Julia war die kleine Prinzessin in dem Clan. Stets nett, freundlich, aufgeschlossen und voller Neugierde allem Neuen gegenüber. Sie strahlte eine Natürlichkeit aus, die ihrem großen Bruder Robert völlig abging. Robert führte einen stetigen Eiertanz auf, um seinem Anspruch als Anführer gerecht zu werden. Julia hingegen schaffte es, allein mit ihrem entzückenden Lächeln die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr goldbraunes, langes Haar schien stets zu schimmern, die Grübchen in ihren Wangen verliehen ihr eine mädchenhafte Unschuld. Sie trug mit Vorliebe enge Jeans und rote, grüne oder blaue Turnschuhe von Converse. An warmen Tagen begnügte sie sich mit einem engen T-Shirt, unter dem sich die Knospen ihrer kleinen festen Brüste abzeichneten. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie zumindest an warmen Tagen keinen BH trug. Sie kokettierte nicht, wenn sie über den Campus lief, sie strahlte einfach diese kindliche Unbekümmertheit aus, mit der sie dem Leben begegnete. Sie erntete viele Blicke, von Jungs wie von Mädchen, die sie aber gar nicht zu registrieren schien.

    Auf der Erstsemesterparty begleitete sie mich wie selbstverständlich an die Bar und ließ sich einen Drink von mir spendieren. Es dauerte nicht lange, bis Robert bei uns auftauchte. Er würdigte mich keines Blickes. Er versuchte nur, die Aufmerksamkeit seiner Schwester wieder auf sich zu ziehen und sie mir somit zu entziehen. Er faselte etwas von einer privaten Party, wo sie noch hingehen wollten. Julia und ich saßen nebeneinander auf Barhockern. Ich legte meine Hand auf Julias Oberschenkel und ließ sie dort liegen. Julia ließ mich gewähren, Robert schenkte mir nun doch einen Blick. Einen sehr missbilligenden Blick. Ich nahm die Herausforderung an und ließ meine Hand sanft über Julias Oberschenkel streifen.

    »Kommst du nun mit oder nicht?«, fragte Robert seine Schwester etwas ungehalten.

    »Ich überlege es mir noch. Vielleicht komme ich nach«, gab ihm Julia unbeschwert zur Antwort. Robert nickte unwirsch und zog wieder ab.

    »Das war dein Bruder, oder?«, fragte ich scheinheilig und drückte leicht ihren Schenkel.

    »Ja, Robert ist mein Bruder. Er studiert auch Architektur, ist aber schon ein paar Semester weiter.«

    »Und er passt gut auf seine kleine Schwester auf«, flüsterte ich Julia ins Ohr.

    »Es gelingt ihm aber nicht immer«, gab mir Julia verschmitzt zur Antwort und schaute mir dabei tief in die Augen.

    »Er hat mich so böse angeschaut, als ich meine Hand auf deinen Schenkel gelegt habe«, sagte ich im gleichen verschmitzten Tonfall. »Aber ich kann sie nicht mehr wegnehmen. Es geht einfach nicht. Du ziehst mich an wie ein Magnet.« Ich tat so, als wollte ich meine Hand mit aller Kraft von ihrem Schenkel ziehen. »Deine Anziehungskraft ist einfach unglaublich«, sagte ich dann augenzwinkernd.

    Julia beugte ihren Kopf ganz nah zu meinem. »Das würde ich jetzt gerne testen«, konterte sie und bot mir ihren Mund mit leicht geöffneten Lippen an. Als Robert wieder bei uns auftauchte, hatte ich nicht nur meine Hand auf Julias Schenkel, sondern auch meine Zunge in ihrem Mund.

    »Wir hauen jetzt ab«, rief Robert und baute sich genau vor uns auf. »Kommst du mit oder willst du hier noch einen Preis beim Loserknutschen abräumen?«

    Ich ignorierte Robert und konzentrierte mich ganz auf den süßlichen Geschmack von Julias Lippen. Julia vollendete unseren Zungenkuss noch unbekümmert vor den Augen von Robert, bevor sie darauf einging.

    »Ich glaube, ich habe Chancen auf den ersten Preis beim Loserknutschen. Geht mal ohne mich. Bis morgen. Tschüüüs.«

    »Küss mich, du Loser«, neckte Julia mich, nachdem Robert ohne sie abgezogen war. Ich küsste sie, schlängelte meine Zunge zwischen ihre Lippen und den Keil zwischen ihre Familie. Meine Anziehungskraft war nämlich mindestens so groß wie die von Julia.

    Dienstag - Erster Tag nach Roberts Tod

    Steffen Siebels war seit längerer Zeit wieder einmal vor 8:00 Uhr im Büro gewesen. Zum Abbau seiner unzähligen Überstunden war er die letzten Wochen selten vor 9:00 Uhr am Arbeitsplatz erschienen. Sein Kollege Till Krüger hielt es genauso. Den erwartete Siebels auch heute nicht vor 10:00 Uhr. Seit einiger Zeit schwebte Siebels auf Wolke sieben. Sein Hochzeitstermin rückte immer näher. Seine Tochter aus erster Ehe wollte anreisen. Siebels hatte sie bestimmt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Nach der Scheidung war sie mit ihrer Mutter Hals über Kopf nach Berlin gezogen. Damals stand Siebels vor einem privaten Scherbenhaufen. Überschuldet und verlassen stürzte er sich in die Arbeit. Seine Aufklärungsquote war sensationell. Dann bekam er Verstärkung. Till Krüger stand noch ganz am Anfang seiner Laufbahn als Kommissar. Zwischen Siebels und Till herrschte von Anfang an eine harmonische Zusammenarbeit. Bei ihrem ersten gemeinsamen Fall arbeiteten sie auch mit Sabine Karlson zusammen. Und beide verliebten sich in die sympathische Beamtin von der Sitte. Für Siebels sollte es die Frau des Lebens werden. Till dagegen hatte seitdem mehrere Beziehungen gehabt, die allesamt nicht von langer Dauer waren. Mittlerweile traf er sich öfter mit Anna Lehmkuhl. Die junge Gerichtsmedizinerin war beliebt und anerkannt und die Kollegen, die Till kannten, mussten schmunzeln, als Till seine Werbungsversuche startete. Aber auch Till war in den letzten Jahren reifer geworden. Siebels gewährte ihm mehr und mehr Freiheiten bei der gemeinsamen Arbeit. Er selbst verspürte in letzter Zeit eine gewisse Abnutzung, nachdem er jetzt schon seit zwanzig Jahren bei der Frankfurter Mordkommission tätig war. Während er früher unermüdlich an der Wahrheitsfindung gearbeitet hatte, überfielen ihn jetzt manchmal Zweifel, wenn er einem Täter auf der Spur war. Beim letzten Fall wurde er von Albträumen geplagt, weil er befürchtete, eine unschuldige Frau des mehrfachen Mordes zu beschuldigen. Wenn Till nicht in letzter Minute eines fulminanten Finales eingegriffen hätte, wäre der Fall auch in einem Desaster geendet. Letzten Endes wurde die Mörderin aber überführt und Siebels konnte wieder ruhig schlafen. Bis zur letzten Nacht. Da plagte ihn wieder ein Albtraum. Er sah sich als alten Mann in einem Altersheim sitzen. Sein Kopf glich einem stark bewölkten Himmel. Er versuchte, seinen Pfleger zu verhaften, und nahm seine Mitbewohner ins Kreuzverhör. Er beschuldigte das Kantinenpersonal des Mordes und hielt den Heimleiter für den Staatsanwalt. Seine Kinder schämten sich für ihren verwirrten Vater und seine Frau besuchte ihn nicht mehr. Als er aus dem Traum aufschreckte, sah er in die besorgten Augen von Sabine. Er wagte es aber nicht, ihr so kurz vor der Hochzeit von diesem Traum zu erzählen.

    Jetzt saß er an seinem Computer und surfte im Internet. Er betrachtete sich den Webauftritt vom Architekturbüro Silber. Dort war auch die Vita von Otto Silber hinterlegt. Geboren am 3. März 1928, Heirat mit Almut Silber, geb. Frisch, am 4. Juni 1950. Nur vier Monate später erblickte der erste Sohn Hermann das Licht der Welt. Zwei Jahre später kam Hartmut Silber auf die Welt. 1958 hatte sich Otto Silber als Architekt selbstständig gemacht. Viele Gebäude, die in der Stadt nach seinen Entwürfen gebaut worden waren, waren mittlerweile schon wieder abgerissen. Darunter viele hässliche Betonklötze, die Anfang der sechziger Jahre entstanden waren. Ende der sechziger Jahre beteiligte sich Otto Silber mit Auftragsarbeiten an der Entstehung von Einkaufszentren. In den siebziger Jahren war das Architekturbüro Silber am Bau vieler Einkaufszentren in ganz Deutschland beteiligt. 1976 trat Hermann Silber als Architekt mit in das Büro ein. Ein Jahr später folgte ihm sein Bruder Hartmut. In den 80er Jahren reihte sich das nun dreiköpfige Architekturbüro bei den Verfechtern der Postmoderne ein und entwarf einige monumentale Gebäude, die als Museen oder für die öffentliche Verwaltung genutzt wurden. Anfang der neunziger Jahre wandelte sich der Stil. Otto Silber und Söhne entwarfen nun hauptsächlich Bürogebäude für mittelständische Unternehmen. Hinter gläsernen Fassaden konzipierten die Architekten Silber multifunktionale Großraumbüros. Ende der neunziger Jahre überließ Otto Silber seinen Söhnen an seinem siebzigsten Geburtstag die Leitung des Architekturbüros und zog sich aus dem Geschäftsleben zurück. Mitte 2005 setzten Hartmut und Hermann Silber einen neuen Schwerpunkt bei ihren architektonischen Arbeiten. Energieeffizientes Bauen war seitdem die Devise und brachte der Familie Silber zahlreiche lukrative Aufträge ein.

    »Hast du einen Kaffee für mich?«, fragte Charly, der seinen Kopf durch die halb geöffnete Tür steckte.

    »Klar, komm rein.« In den hinter ihm liegenden ruhigen Tagen hatte Siebels eine neue Kaffeemaschine angeschafft. Seitdem kam Charly morgens regelmäßig vorbei und der Kaffeeautomat im Flur blieb von Flüchen und Tritten verschont.

    Charly bemerkte die Website vom Architekturbüro Silber auf Siebels Bildschirm. »Hast du den entlaufenen Architekten gestern noch heil in sein Heim gebracht?«

    »Ach, Charly, versprich mir eins. Sollte Sabine mich jemals in so ein Heim abschieben, dann komm mit mir.«

    »Gibt es da Computer?«, wollte Charly wissen.

    »Bestimmt. Aber du wirst die Technik nicht mehr verstehen, mit der sie funktionieren.«

    »Du machst mir Angst. Vorhochzeitliche Depressionen?«

    »Quatsch. Ich mache mir halt meine Gedanken. Apropos Gedanken. Könntest du mal die Archive durchforsten?«

    »Lass mich raten. Nach einem ungelösten Mordfall Juliane Mangold?«

    »Da hast du richtig geraten.«

    »Glaubst du wirklich, an der Aussage von dem alten Herrn könnte etwas dran sein?«

    »Ich habe da jedenfalls so ein komisches Gefühl im Bauch.«

    »Oh je. Dein berühmtes Bauchgefühl. Pass bloß auf, sonst gräbst du am Ende wieder so einen Fall aus, der die Republik in ihren Grundfesten erschüttert. So kurz vor dem Hochzeitstermin. Wenn das mal gut geht.«

    »Jetzt male nicht gleich den Teufel an die Wand. Die Hochzeit steht, da kann passieren, was will.«

    »Ob das der Staatsanwalt auch so sieht, wenn du ihm jetzt einen leckeren Knochen ausgräbst und hinwirfst?«

    »Ausgegrabene Knochen? Staatsanwalt? Gibt es endlich einen neuen Fall?« Till kam gut gelaunt ins Büro marschiert.

    »Vergiss es«, ermahnte ihn Charly. »Diese Woche werden nur noch Routinearbeiten erledigt. Anweisung von der zukünftigen Frau Siebels. Sollte sich ein Fall einschleichen, der auch nur im Entferntesten von der Staatsanwaltschaft mit dem Prädikat besonders heikel eingestuft werden könnte, haben wir eine totale Kommunikationssperre zum Staatsanwalt zu errichten.«

    »Das hat Sabine hinter meinem Rücken verfügt?«, erkundigte sich Siebels ungläubig.

    »Hat sie«, bestätigte Till.

    »Sie traut mir wohl nicht so richtig«, überlegte Siebels laut.

    »Was besonders heikle Fälle betrifft, traut sie dir keinen Millimeter über den Weg«, bestätigte Till die Überlegungen von Siebels.

    »Soll ich also wirklich die Archive durchforsten?«, fragte Charly süffisant.

    Siebels kratzte sich am Kopf. »Falls du wirklich etwas Interessantes findest, übertrage ich Till den Fall.«

    »Um was geht es denn?«, erkundigte sich Till.

    Siebels klärte ihn über den gestrigen Besuch von Otto Silber auf.

    »Als Zeugen kannst du ihn auf jeden Fall nicht gebrauchen«, gab Till seinen Kommentar dazu ab.

    »Wir können heute Vormittag ja mal einen kleinen Ausflug unternehmen und das Architekturbüro Silber besuchen. Ich würde gerne seine Söhne kennen lernen.«

    »Oh, oh, die Ermittlungen laufen an«, stellte Charly fest. »Dann gehe ich schon mal ins Archiv und grabe ein wenig in alten Zeiten.«

    Charly nahm einen letzten Schluck Kaffee,

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