Hengste: Artgerechte Haltung, sicherer Umgang
By Stefan Schneider and Steffi Birk
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Book preview
Hengste - Stefan Schneider
www.cadmos.de
Vorwort
Mythos Hengst: Ausdruck von Leidenschaft, Anmut und Männlichkeit. (Foto: Slawik)
Wer ist nicht tief berührt von dem Anblick eines im Sonnenuntergang glänzenden Hengstes, der über eine Weide galoppiert, oder begeistert von der geballten Kraft, die ein Hengst in seinen beeindruckenden Bewegungen zeigt? Wie viele Menschen lassen sich von „Jahrhunderthengsten" in den Medien mitreißen, obwohl sie sonst kaum pferdeaffin sind? Weshalb faszinieren die in voller Mannespracht stehenden Pferde so viele Kulturen auf der ganzen Welt?
Die Vorfahren der Pferde lebten bereits vor 60 Millionen Jahren. Die natürliche Selektion, die ihr Überleben sicherte und dazu führte, dass sie sich schließlich zu unseren Hauspferden entwickelten, hat die heutigen Vererber zu dem gemacht, was sie sind: starke, angepasste, überlebensfähige, bemerkenswerte Leistungserbringer, die in der von Menschen beherrschten, lauten, unruhigen Welt nicht nur bestehen können, sondern sogar ganze Völker in ihren Bann ziehen.
Wir möchten, dass Sie – alle von Hengsten begeisterte Menschen – von unserer langjährigen Erfahrung als Trainer, Hengsthalter und Tiermediziner profitieren und einen Einblick in die Welt dieser wundervollen Tiere erhalten. Dieses Buch erklärt typische Verhaltensweisen, informiert über artgerechten Umgang, mögliche Haltungsformen und wichtige Aspekte der Erziehung und vermittelt grundlegendes züchterisches Wissen. Es soll Ihnen als Nachschlagewerk rund um das Thema Hengst dienen.
Araber wurden als Zeichen von Zuneigung und Respekt verschenkt und werden noch heute auf der ganzen Welt verehrt. (Foto: Slawik)
Warum soll’s ein Hengst sein?
Der Hengst gilt seit Menschengedenken als Inbegriff von Stärke, Herrschaftlichkeit und Eleganz. Tatsächlich fallen Hengste durch ihr sicheres Auftreten, das glänzende Fell, den wachen, aufmerksamen Blick und den breiten, kräftigen Hengsthals besonders auf. So ist es nicht verwunderlich, dass die Haltung von Hengsten in vielen Regionen der Welt eine jahrhundertealte Tradition hat. Hengste wurden seit je verehrt, zur Zucht verwendet oder als Friedensangebot und Geschenk zur Versöhnung zwischen verschiedenen Völkern eingesetzt.
Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Vollblutaraber. Sie werden bereits seit dem siebten Jahrhundert aktiv gezüchtet, und schon im Koran steht geschrieben, dass Rassepferde begehrenswert sind. Die arabischen Herrscher unterstrichen ihr Ansehen und ihren sozialen Status durch den Besitz der kräftigsten Hengste, die die meiste Männlichkeit ausstrahlten. Wird ein Araberhengst verschenkt, gilt das noch heute als Zeichen besonderer Wertschätzung.
Jahrhundertelang beherrschten die Araber Spanien, und so drang der Ruf der arabischen Pferde, ohne die diese Herrschaft nicht möglich gewesen wäre, bis nach Mitteleuropa. Im 19. Jahrhundert sendeten Adelshäuser ganze Expeditionen aus, um einige Araberpferde zu sichern. Es heißt, das arabische Pferd sei der Quell, aus dem das Europa des 19. Jahrhunderts schöpfte, um seine modernen, edlen Reitpferderassen zu entwickeln. Araber waren es auch, von denen das Englische Vollblut abstammt, und heute werden arabische Hengste sogar in der Warmblutzucht eingesetzt, um die Ausdauer, Gesundheit, Charakterstärke und Umgänglichkeit dieser Pferde zu erhalten und weiter zu fördern.
Auch in anderen Kulturen finden sich Beispiele dafür, wie sehr Hengste geschätzt wurden und werden. So galten in Spanien die Hengste der Pura Raza Española als die Pferde der Könige, und auch die weißen Lipizzanerhengste wurden ursprünglich für den kaiserlichen Hof gezüchtet. In der Spanischen Hofreitschule in Wien wird bis heute ausschließlich mit Hengsten gearbeitet. Und in Shows in aller Welt wird man mit Sicherheit in erster Linie auf Hengste treffen, da sie durch ihre edle Erscheinung beim Publikum besonders gut ankommen.
Der Faszination, die von Hengsten seit je ausgeht, kann sich kaum jemand entziehen. Im 21. Jahrhundert haben sie nach wie vor Kultstatus – der „Mythos Hengst" ist ungebrochen. Bücher und Filme wie „Black Beauty" und „Blitz, der schwarze Hengst" sind wahre Klassiker. Hengste wirken wie Magnete, die überall auf der Welt Menschenmassen anziehen. Hengstschauen sind in allen namhaften Gestüten regelmäßig ausverkauft, und ganz aktuell füllt der Jahrhunderthengst „Totilas" die Zuschauerränge auf internationalen Turnieren.
Doch leider werden sehr viele Hengste heute nicht mehr gehalten, um ihre Qualitäten an Nachkommen weiterzugeben oder ihre Leistungsstärke durch entsprechendes Training zur vollen Entfaltung zu bringen. Allzu oft ist es reines Prestigedenken, das zum Kauf eines Hengstes verleitet, und nicht selten verzweifeln die stolzen Hengstbesitzer nur zu bald an ihren stattlichen und kräftigen Statussymbolen. Selbstverständlich ist es absolut in Ordnung, sich für einen Hengst als Freizeitpartner zu entscheiden, vorausgesetzt, man kann einen angemessenen Umgang und eine artgerechte Haltung gewährleisten. Hengste fordern ihren Besitzer deutlich mehr als Stuten oder Wallache, darüber muss sich jeder, der seine Zeit mit ihnen verbringen möchte, im Klaren sein. Die Macht des Fortpflanzungstriebs, der beim Hengst im Gegensatz zur Stute rund ums Jahr, Tag für Tag, besteht und der alles andere überlagern kann, ist nicht zu unterschätzen. Hengsthalter brauchen einige Pferdeerfahrung und fundiertes Wissen, um ihr Pferd in die richtigen Bahnen zu lenken und es auch auf der Spur zu halten. Dieses Buch bietet hierbei Unterstützung.
Als Showpferde begeistern Hengste Menschen in aller Welt. (Foto: Slawik)
Natur und
Verhalten
von Hengsten
Die natürliche Ordnung in einer Pferdeherde: Der Herdenführer geht voran, alle anderen folgen, wobei die hinteren Pferde meist die rangniedrigsten sind. (Foto: Ostwald)
Wir möchten dieses Kapitel mit einem Exkurs in die Natur aller Pferde beginnen. Grundlegende Kenntnisse über Verhaltensweisen und Kommunikationsmöglichkeiten der Pferde sind die Basis für den Umgang mit ihnen, unabhängig vom Geschlecht des jeweiligen Pferdes, der bevorzugten Pferdesportdisziplin oder der Rasse, für die man sich entschieden hat. Dieses Wissen wird uns in vieler Hinsicht das Training erleichtern, was im Folgenden anschauliche Beispiele zeigen werden. Und mit diesem Hintergrundwissen fällt es auch nicht schwer, das im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschriebene typische Verhalten von Hengsten zu verstehen und richtig einzuordnen.
Die Natur der Pferde
Pferde sind Herdentiere und als solche auf ihre Artgenossen angewiesen. Ein in der natürlichen Umgebung von der Herde ausgeschlossenes Pferd ist in der Regel dem sicheren Tod geweiht. Soziale Isolation ist daher eine der schlimmsten Bestrafungen für ein Pferd. Diese Tatsache sollten wir selbstverständlich bei der Haltung und auch bei der täglichen Arbeit berücksichtigen. Bei der Erziehung kann man sie sich unter bestimmten Umständen zunutze machen. Wenn wir mit einem Pferd ohne Beisein von Artgenossen arbeiten, schließt es sich bei vertrauensvollem Umgang während dieser Zeit dem Menschen an und ist somit nicht mehr allein. Zeigt das Pferd nun unerwünschtes Verhalten, überrennt es uns zum Beispiel beim Führen rüpelhaft, so können wir den Führstrick lösen und das Pferd durch unsere Körpersprache von uns wegschicken. Das ist selbstverständlich nur dann eine Option, wenn wir uns in einem umgrenzten Areal, etwa in einer Reithalle, befinden.
Pferde sind zudem Fluchttiere. Ihr Fluchtinstinkt ist in der Natur überlebenswichtig, um möglicherweise tödlichen Angriffen von Raubtieren zu entgehen. Auch in menschlicher Obhut können sie ihn nicht einfach abschalten und reagieren daher auf für sie bedrohlich wirkende Situationen, wie nicht zuordenbare Geräusche oder plötzliche Bewegungen, in der Regel mit Fluchtverhalten.
Das Pferd scheut vor einem Reiz von links. Es springt deshalb nach rechts und hebt den Kopf, um den Auslöser besser fokussieren zu können. (Foto: Ostwald)
Häufig scheuen oder erschrecken Pferde, wenn in ihrer unmittelbaren Umgebung etwas passiert, das sie nicht einordnen können. Sie haben zwar nahezu einen Rundumblick (circa 355 Grad), aber direkt vor den Vorderhufen, unterhalb des Kopfes und Halses sowie ein bis zwei Meter genau vor dem Kopf befinden sich die „toten Winkel". Zudem nehmen Pferde einen großen Teil ihres Sichtfelds nur mit einem von beiden Augen und eher unscharf wahr. Lediglich in der Ferne liegende Dinge können sie scharf sehen. Nicht zuletzt mangelt es ihnen auch noch an räumlichem Sehen. Das funktioniert nämlich nur in dem relativ kleinen Bereich, den sie mit beiden Augen wahrnehmen können. So ist es nicht verwunderlich, dass Pferden Wasserpfützen oder Schatten nicht geheuer sind. Aus ihrer Sicht könnte es sich dabei um tiefe Löcher handeln.
Das Sichtfeld des Pferdes: Die roten Bereiche kann das Pferd nicht sehen, die grünen sieht es mit beiden Augen und in weiter Entfernung am schärfsten, die blauen jeweils nur mit einem Auge.
Im Training bedeutet das, dass man ein Pferd, das seinem Fluchtinstinkt folgt, nicht bestrafen sollte. Besser ist es, stets selbst aufmerksam die Umgebung im Blick zu behalten. Wer den Schatten am Boden frühzeitig bemerkt, kann schon agieren, bevor das Pferd davor erschrickt. Zudem ist es selbstverständlich möglich, Pferde auf verschiedene Situationen, Umgebungs- und Umweltänderungen vorzubereiten, sodass ein Fluchtverhalten seltener oder nur noch in abgeschwächter Form auftritt.
Das