Die Stadt, in der ich lebe: ORF-Korrespondenten erzählen
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Bettina Prendergast - London; Eva Twaroch - Paris; Cornelia Primosch - Brüssel; Peter Fritz - Berlin; Josef Manola - Madrid; Mathilde Schwabeneder - Rom; Ernst Gelegs - Budapest; Christian Wehrschütz - Belgrad; Carola Schneider - Moskau; Christian Schüller - Istanbul; Karim El-Gawhary - Kairo; Ben Segenreich - Tel Aviv; Hannelore Veit - Washington; Jörg Winter - Peking
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Die Stadt, in der ich lebe - Walter Erdelitsch
Mein London
Bettina Prendergast
30 Millionen Besucher im Jahr können nicht irren. Rote Doppeldeckerbusse, Big Ben, St. Paul’s Cathedral und die Tower Bridge. London ist eine Stadt, die jeder einmal gesehen haben sollte und an der man bei jedem Besuch neue Seiten entdeckt. London ist immer in Bewegung und hält zugleich seine 2000-jährige Geschichte lebendig. Sie ist das Zuhause von 270 Nationen, über 300 Sprachen werden in der Stadt gesprochen. Die Metropole an der Themse ist ständig im Blick der Weltöffentlichkeit. Sie war Schauplatz der Finanzkrise 2008, Kulisse für die Königliche Hochzeit 2011 und Gastgeberin der Olympischen Sommerspiele 2012. London hat aber viel mehr zu bieten, als das Touristenauge wahrnimmt. Erst wenn man in dieser Stadt lebt und arbeitet, öffnet sich London wirklich und zeigt seine vielen Gesichter.
Mich verbindet mit London eine leidenschaftliche Hassliebe, London kann an einem Tag laut, hektisch und schmutzig sein und ist 24 Stunden später elegant, tolerant und unterhaltsam. Es ist eine Stadt der Gegensätze. Man lernt mit der Zeit diese Launenhaftigkeit, damit ist nicht nur das Wetter gemeint, geduldig wie alle anderen Londoner zu ertragen.
Der unterirdische Moloch
Die größte Hürde im Alltag beginnt gleich am frühen Morgen, dann zehrt London bereits an den Energiereserven seiner Bewohner. Wer in London wohnt, ist immer in Eile und meistens damit beschäftigt, einen Bus, einen Zug oder ein freies Taxi zu erwischen. Das größte öffentliche Verkehrsnetz Europas befördert Pendler an ihre Arbeitsplätze, mehr als eine Million Menschen strömen von außerhalb in die Stadt, Hauptschlagader des öffentlichen Verkehrs ist die 150 Jahre alte U-Bahn. Die „Tube, wie sie von den Londonern genannt wird, ist ein fast unüberschaubares Labyrinth an Tunneln. Sie befördert die Pendler bis weit über die Stadtgrenzen hinaus in die umliegenden Grafschaften. Londons unterirdische Welt sorgt dafür, dass die Stadt nicht stillsteht, eine Meisterleistung, wenn die Linien funktionieren, ein Albtraum im Falle einer Panne. Es ist schon schlimm genug, zusammengepfercht mit Hunderten anderen in einem stickigen U-Bahn-Zug eine halbe Stunde durch die Stadt zu fahren, bleibt die „Tube
jedoch stehen, ist Nervenstärke gefragt. Ich denke mit Bewunderung an die Leute in einem U-Bahn-Zug zurück, die eine sehr nervöse junge Frau beruhigten, als wir wegen eines technischen Defekts 40 Minuten bei brütender Hitze festsaßen – die meisten von uns standen. Die Frau hatte 2005 die Bombenanschläge auf die U-Bahn miterlebt, die Panne hat wohl diese traumatischen Ereignisse wieder an die Oberfläche gebracht und sie begann zu hyperventilieren. Ein Plastiksack zum Aus- und Einatmen und gutes Zureden haben geholfen, diese Panikattacke abzuwehren. Notfälle wie dieser setzen auch das ungeschriebene Gesetz außer Kraft, dass man unter gar keinen Umständen mit fremden Personen in der U-Bahn ein Wort wechselt.
Die Gesetze der Höflichkeit
Eine weitere eiserne Regel ist die Höflichkeit. Es ist selbstverständlich, in fast jeden zweiten Satz ein „Sorry oder „Excuse me
einzuflechten. Ganz egal, ob man nun wirklich einen Fehler gemacht hat oder nicht. Es genügt schon, im Supermarkt einem anderen Einkaufswagen etwas zu nahe zu kommen, dann ist ein „terribly sorry" mehr als angebracht. Tut man das nicht, muss man aber keine Rüge fürchten, der Londoner ist viel zu höflich, um sich über schlechte Manieren zu beschweren. Nur in einem Fall sind lautstarke Proteste vorprogrammiert. Es ist in der Tat eine Todsünde, sich in einer Schlange vorzudrängeln, sei es nun bei der Bushaltestelle oder vor der Imbissstube. Ob Lord oder Lagerarbeiter, keiner wird bevorzugt. Sollte es aus irgendeinem unerfindlichen Grund einmal keine Schlange geben, fragt der gelernte Londoner, wo die nächste Schlange sei. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie gerne anstehen, im Gegensatz zur U-Bahn ist ein reger Gedankenaustausch in der Schlange erlaubt, ja sogar erwünscht. Eine Freundin von mir hat beim Schlangestehen sogar ihren Lebensgefährten kennengelernt.
Pub-Kultur und Mittagstisch
Für soziale Zusammenkünfte eignet sich das Pub aber noch immer am besten. London hat eine unüberschaubare Zahl an solchen. Das Stammlokal liegt meist unweit vom Arbeitsplatz, wo man sich mit einem Ale oder Lager auf den Feierabend einstimmt und so der ungeliebten Rush Hour in der U-Bahn entgeht. Auch im Pub gibt es ungeschriebene Regeln, die im Umgang mit den Einheimischen unbedingt zu beachten sind. Gesellt man sich zu einer Gruppe dazu, fragt man, wer was trinken möchte. Im Pub bestellt niemand einzeln ein Getränk, man gibt Runden aus. Die Kunst besteht darin, den richtigen Moment für seine Runde abzuwarten, die Gläser dürfen nicht zu voll, aber auch nicht ganz leer sein, zwei Drittel leer sei ideal, sagte mir mein Kameramann Lee. Dann steht man – wenig überraschend – Schlange an der Bar. Diese Schlange ist wohl der härteste Prüfstein für einen zugewanderten Londoner. Sie ist ein unübersichtlicher Haufen, hat keine Struktur und lässt nicht erkennen, wo vorne und wo hinten ist. Trotzdem wissen die Wartenden genau, wer wann an der Reihe ist, im Zweifelsfall sollte man sich vom Pub Landlord hinter dem Tresen aufrufen lassen. Hat man das richtige Timing erwischt, leeren die Gäste gerade ihre Gläser, bis das frische Bier da ist. Ich wurde bei meiner ersten gelungenen Runde von den englischen Kollegen mit Applaus bedacht!
Während der Pub-Aufenthalt auch schon mal gerne bis Mitternacht dauern kann, ist die Mittagspause in London eine kurze, rastlose Angelegenheit. Die meisten Londoner machen um Touristen-Fastfood-Lokale einen großen Bogen, sie bevorzugen die sogenannten „Greasy Spoons, die „Fettigen Löffel
, das sind Imbisslokale mit englischen Schnellgerichten. Auch hier gibt es keine Bedienung, die an die Tische kommt, die Köchin ruft die Bestellung auf, man springt von seinem Stuhl und holt sich pflichtschuldigst und sehr schnell seinen „Steak and Kidney Pie oder eben „Fish ’n Chips
. Ich persönlich kann die englische Hausmannskost nicht empfehlen, es sei denn, man hat eine Vorliebe für Fettiges und Frittiertes. Essen ist für Londoner in der Hektik des Alltags nicht besonders wichtig, sondern eher eine Notwendigkeit, um im Großstadtdschungel Energie zu tanken. Es gibt kein Wort für „Mahlzeit oder „Guten Appetit
auf Englisch. Da in meinem Job Mittagspausen ohnehin eine Seltenheit sind oder eher in eine Drehpause fallen, verlege ich kulinarische Genüsse lieber aufs Wochenende.
Bürokratiedschungel
Oft fragt man mich bei meinen Österreich-Besuchen: „Wie lebt man denn so in London?" Die kurze Antwort lautet: Ganz passabel, aber man braucht viel Geld und gute Nerven. Ich habe noch nie eine Stadt erlebt, die so viele unsinnige bürokratische Sicherheitsregeln hat wie London. Folgende Anekdote kann dies fabelhaft belegen.
Im Mai 2008 hatte Boris Johnson von den Konservativen überraschend die Bürgermeisterwahl in London gewonnen. Wir drehten eine Geschichte und filmten an der Themse vor dem Rathaus. Den besten Ausblick hat man von der Tower Bridge, deswegen positionierten wir die Kamera eben dort. Als ich vor laufender Kamera mit meiner Erklärung begann, wie es zu diesem Wahlerfolg gekommen war, wurden wir von einem Mitarbeiter der Brückenaufsicht verscheucht. Es sei viel zu gefährlich, hier zu drehen, sagte er. Ich könnte ja ins Wasser fallen und die Stadt verklagen. Drehen sei nur unter Aufsicht und mit einer Genehmigung der Stadt erlaubt, ich könne ja einen Antrag ausfüllen, der vermutlich innerhalb von einer Woche bearbeitet werde. Nun, dafür war leider keine Zeit, meine Geschichte musste ja noch am selben Tag auf Sendung gehen. Wir zogen also weiter und drehten vor dem Rathaus auf einem Gehweg. Da kam schon der nächste Sicherheitsbeamte und sagte höflich, aber bestimmt, dass wir hier kein Kamerastativ aufstellen dürften, weil jemand darüber stolpern könnte. Das sei zu gefährlich. Ich bettelte, doch nur fünf Minuten hier filmen zu dürfen, wir benötigten nur ein paar kurze Aufnahmen. Der Sicherheitsbeamte verwies mich auf ein Rasenstück keine fünf Meter vom Gehweg entfernt und sagte, wir sollten die Kamera dort aufbauen. Ich fragte nach dem Sinn der Sache. Der Mann antwortete, für die Sicherheit auf dem Rasen sei sein Kollege zuständig, der gerade Teepause mache, ich solle mich beeilen und filmen, bevor er wiederkomme.
Nach neun Jahren in London würde ich gerne behaupten, noch immer sehr „österreichisch zu sein. Ich koche mit Vorliebe Wiener Schnitzel, Käsespätzle und Gulasch, auch mein Mann (er kommt aus Irland) hat im Laufe der Zeit gelernt, die Spezialitäten aus meiner Heimat zu schätzen, seine Abneigung gegenüber Knödeln konnte ich ihm allerdings bisher nicht austreiben. Ich merke aber bei meinen Österreich-Besuchen, wie „englisch
ich geworden bin. Ich ärgere mich mehr über unhöfliche Menschen und platte Witze. In London habe ich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Das ist manchmal mühsam, erleichtert aber den Umgang im Alltag wesentlich. Mein Kameramann Lee fragt vor einem Interview immer scherzhaft, ob ich nun die Fragen auf „englische oder „österreichische Art
stelle. Die „österreichische Art ist für ihn, mit der Tür ins Haus zu fallen, „englisch
bedeutet, um den heißen Brei herumzureden und erst vorsichtig auf den Punkt zu kommen. Ich habe mir im Laufe der Zeit eine Mischung aus beiden angewöhnt.
Trotz aller diplomatischen Bemühungen habe ich aber immer noch regelmäßige Auseinandersetzungen mit der Polizei vor dem Buckingham Palast. Jeder dahergelaufene Tourist darf mit einer Kamera den Palast den lieben langen Tag abfilmen und sich auf dem Vorplatz frei bewegen. Die Medien werden (mit Ausnahme der britischen Hausmacht BBC) ins letzte Eck vor dem Canada Gate verscheucht, nur von dort darf gefilmt werden. Eine Regel, deren Sinn ich nicht verstehe und die ich daher immer wieder breche. Zudem muss man einen sogenannten „Parks Pass bei sich tragen, das ist die offizielle Genehmigung für Dreharbeiten in den königlichen Parks und Palästen. Ich hatte vor der Königlichen Hochzeit in der Hektik des Tages den „Parks Pass
im Büro liegen gelassen. Prompt wurden wir von der Polizei beim Drehen unterbrochen. Ich rief im Büro an und ließ mir von meiner Produzentin Kathi die Nummer des „Parks Passes" durchgeben. Das war aber nicht gut genug, ich wurde aufgefordert, den Pass aus dem Büro zu holen, sollten wir ohne Pass weiterdrehen, würde ich eine Festnahme riskieren. Zwei Tage vor dem großen Hochzeitsereignis wäre eine Korrespondentin im Arrest wohl nicht besonders hilfreich bei der ORF-Berichterstattung gewesen. Ich sprang also ins nächste Taxi, holte den verdammten Pass, doch bis ich wieder beim Buckingham Palast war, war die Polizei verschwunden und tauchte für den Rest des Tages auch nicht mehr auf. Murphy’s Law, sagen die Londoner dazu.
Heathrow Terminal 5
Als Einzelkämpferin für den ORF in London hat man nicht immer die Zeit und die Ressourcen, um Drehgenehmigungen zu beantragen, schon gar nicht, wenn man es mit einer „breaking news story zu tun hat, also über eine wichtige Eilmeldung berichtet. Das Chaos am neuen Flughafen Terminal 5 in Heathrow 2008 ist ein gutes Beispiel. Nach 20 Jahren Planung und mehr als fünf Milliarden Euro Baukosten wurde das Vorzeigeobjekt mit großem Tamtam eröffnet. Die Premiere war ein massiver Reinfall. Schon am ersten Tag mussten Hunderte Flüge gestrichen werden, weil das Personal den Weg zu den Dienstparkplätzen nicht fand. Tausende Koffer verschwanden, weil niemand wusste, wie das neue Hightech-Gepäcksortiersystem zu bedienen war. Zornige Passagiere saßen in den todschicken Wartehallen aus Glas und Stahl fest, es dauerte Wochen, bis alle Reisenden wieder mit ihren Koffern vereint waren. Ich machte mich sofort mit dem Kamerateam auf den Weg, um vor dem Flughafen die ankommenden Besucher nach ihren Erlebnissen im Terminal 5 zu befragen. Ich hatte nicht vorab wegen einer Drehgenehmigung angefragt, der Flughafenbetreiber hätte ohnehin abgelehnt, wer will schon die Medien vor der Tür haben, wenn alles schiefläuft? Wir erwischten ein paar arg gestresste Fluggäste, aber die Überwachungskamera hatte uns natürlich auch sehr schnell entdeckt. Zwei wutschnaubende Flughafen-Sicherheitsleute stürmten auf uns zu und befahlen mir, das Band herauszugeben, sonst würde die Polizei mich wegen Hausfriedensbruch festnehmen. Ich griff seufzend in meine Handtasche und murmelte ein leises „Sorry
, der Wachmann umklammerte das Band triumphierend und eskortierte uns vom Flughafengelände. Was er nicht wusste, war, dass ich immer ein Ersatzband in meiner Tasche habe, falls der Kameramann ein neues Band braucht. Die richtige Aufnahme hatte er längst in seinem Rucksack verstaut. Ich hatte eine diebische Freude, die Interviews mit Betroffenen im „Zeit im Bild"-Beitrag einzubauen.
Mein Mann Patrick schüttelt bei solchen Geschichten immer den Kopf, er arbeitet für Scotland Yard und sagt immer, er würde mich mit Vergnügen einmal festnehmen, meine Sturheit sei kriminell.
Elend und Not in London
Ich habe vorhin schon erwähnt, dass London extrem teuer ist. Das größte Problem ist der extreme Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Wie viele andere Familien sind auch wir vor drei Jahren aufs Land gezogen, wo die Immobilienpreise noch etwas erträglicher sind. Eine Stunde Pendeln in die Stadt ist der Preis für ein Haus in einem kleinen Dorf in der Grafschaft Essex, den ich aber gerne auf mich nehme.
Nicht jeder hat die Möglichkeit, dem Preiswahnsinn in London zu entkommen. Viele leben dort, wo sie Arbeit finden. Sie wohnen oft in schäbigen, überteuerten Wohnungen. Selbst in Londons Randgebieten steigen die Mieten exorbitant. Ich war besonders erschüttert, als ich bei Dreharbeiten eine delogierte, alleinerziehende Mutter und ihre zwei schulpflichtigen Töchter in Croydon südlich von London besuchte. Sie lebten seit einem halben Jahr auf 15 Quadratmetern in einer Notunterkunft. Das Doppelbett füllte den ganzen Raum aus, im Nebenraum waren eine winzig-kleine Küche und eine Dusche. An den Wänden war Schimmel und durch die Fenster zog es eisig herein. Die Gemeinde zahlte für diese Behausung horrende 3000 Euro im Monat an den Privatvermieter. Die Mutter sagte zu mir, die Gemeinde habe keine andere Unterkunft für sie finden können. Die Warteliste für eine geförderte Gemeindewohnung ist lang.
Damit der Wahnsinn um die teuren Mieten beendet werden kann, müsste viel mehr gebaut werden. Die Londoner Stadtregierung hat bisher keine nennenswerten Impulse gesetzt. Die finanzielle Belastung für Familien mit niedrigem Einkommen ist immens. Dazu kommt, dass die konservative Regierung von Premierminister David Cameron im Zuge des Sparpakets die Sozialausgaben massiv eingeschränkt hat. Kindergeld, Wohnbeihilfe, Arbeitslosengeld und Zulagen für körperlich Behinderte wurden gekürzt. Vielen bleibt nicht mehr genug zum Überleben. In jedem Supermarkt in London steht am Ausgang bei den Kassen eine Lebensmittel-Spendenbox. Die Kunden sind aufgerufen, eine Dose mehr für die Bedürftigen einzukaufen und sie in die Box zu packen. Diese gesammelten Lebensmittel werden dann von sogenannten „Food Banks" an die Familien verteilt. Ich habe einen Vormittag in einer Food Bank verbracht und mit Betroffenen gesprochen. Viele kommen her, weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, manche haben zwei Tage und länger nichts gegessen. Schwer vorstellbar, dass in einer so reichen Stadt wie London Menschen hungrig zu Bett gehen. Die britische Regierung hält aber am Sparkurs fest. Wer es sich trotz Wohnbeihilfe nicht mehr leisten kann, in London zu leben, muss seine Koffer packen und in den noch wesentlich billigeren Norden Englands ziehen. Familien werden dadurch zerrissen, Kinder verlieren ihre Freunde, soziale Strukturen werden zerstört.
Aber selbst der Mittelstand hat es schwer, auf die sogenannte „Housing Ladder zu gelangen, das ist der Traum vom Eigenheim. Die Aussicht für Londons junge Generation ist düster, wenn sich die Immobilienpreise nicht normalisieren. Für viele wird eine Eigentumswohnung nicht finanzierbar sein. Ich kenne verheiratete Paare, die noch bei den Eltern leben, um Geld für die Anzahlung anzusparen. Schuld an der Misere sind unter anderem aber auch ausländische Investoren. Für viele reiche Anleger aus Russland, China und immer häufiger auch Osteuropa ist ein Haus in London eine sichere Art, ihr Geld zu parken. Diese Immobilien stehen oft leer, die Londoner nennen dies das sogenannte „dark flat
-Syndrom. Das sind die Penthäuser in den oberen Stockwerken der neu gebauten Luxuswolkenkratzer, wo abends kein Licht brennt, weil die Besitzer eigentlich in Dubai oder Moskau leben. Die Bezirksverwaltungen hätten die Möglichkeit, höhere Steuern und Strafzahlungen für leerstehende Wohnungen einzuheben. Passiert ist dies bisher nur in Einzelfällen. Es sei viel zu aufwändig und kompliziert nachzuweisen, wie lange und warum eine Immobilie leerstehe, so die Argumentation der Bezirksverwaltungen.
Im Unterhaus des Parlaments
London ist auch das Zentrum der britischen Politik, der Palast von Westminster gilt als Mutter aller Parlamente. Die Anfänge des Parlamentarismus gehen auf das 14. Jahrhundert zurück. Die Briten sind stolz auf diese lange demokratische Tradition. Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, versuchte das Parlament 1605 mit Sprengstoff in die Luft zu jagen. Das Attentat auf den damaligen König Jakob I. wurde vereitelt. Guy Fawkes und seine Mitverschwörer wurden gehängt, gevierteilt und ausgeweidet.
Damals wie heute spielen sich echte Dramen in Westminster ab. Es fließt kein Blut mehr, Opposition und Regierungschef liefern sich aber in der Premierminister-Fragestunde heftige Wortgefechte. Das ist der wöchentliche Höhepunkt im parlamentarischen Alltag. Anders als in anderen Parlamenten sitzen die Abgeordneten nicht im Halbkreis, das britische Unterhaus teilt sich in zwei Seiten, auf der einen sitzt die Regierungspartei, vis à vis die Opposition. Alle Parlamentarier sprechen in der dritten Person und adressieren den Parlamentspräsidenten „Mr. Speaker". Interessanterweise wird bei politischen Debatten sehr direkt attackiert, mit der feinen englischen Art ist es dann vorbei, trockener Humor und eine Prise Ironie sind aber natürlich die wichtigsten Waffen, um den politischen Gegner verbal zu schlagen. Das Unterhaus ist eigentlich viel zu klein für die 650 Abgeordneten, bei wichtigen Debatten stehen sich zu spät Gekommene die Beine in den Bauch.
Normalsterbliche haben zum Unterhaus keinen Zugang. Umso erfreuter war ich, als ich es letztes Jahr schaffte, nach langem Bitten und Betteln für den „WELTjournal-Beitrag „Mein London
eine Drehgenehmigung im Parlament zu bekommen. Vereinbart war, Punkt 7.00 Uhr früh mit dem SNP-Abgeordneten Angus Robertson in den altehrwürdigen Hallen zu drehen, bevor das Parlament den Tagesbetrieb aufnimmt. Wir hatten