Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Mahler: Leben · Werke · Dokumente
Mahler: Leben · Werke · Dokumente
Mahler: Leben · Werke · Dokumente
Ebook874 pages13 hours

Mahler: Leben · Werke · Dokumente

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Gustav Mahler wird heute mehr denn je als »Wegbereiter der Neuen Musik« gefeiert. Wie kaum ein anderer Komponist des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist er kometengleich ins Zentrum der musikalischen Öffentlichkeit gerückt. Mahlers Musik ist ein Abenteuer, so schön und furchterregend, so beschaulich und unberechenbar wie die Welt, von der sie redet.
Zu Lebzeiten war Gustav Mahler eher als mächtiger Hofoperndirektor und weniger als Komponist bekannt, denn eigene Werke konnte er nur während der Sommermonate komponieren. Als solcher musste sich Mahler jedoch mit seinen Zeitgenossen Anton Bruckner und Richard Strauss messen. Diese Diskrepanz zwischen Mahlers hohem ethischen Anspruch als Komponist und seiner Qualifizierung durch die Umwelt versucht Karl-Josef Müller in seinem neu aufgelegten Buch zu beleuchten.
LanguageDeutsch
PublisherSchott Music
Release dateAug 20, 2015
ISBN9783795785451
Mahler: Leben · Werke · Dokumente

Related to Mahler

Related ebooks

Music For You

View More

Related articles

Reviews for Mahler

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Mahler - Karl-Josef Müller

    Karl-Josef Müller

    Mahler

    Karl-Josef Müller

    Mahler

    Leben — Werke — Dokumente

    SCHOTT

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Bestellnummer SDP 121

    ISBN 978-3-7957-8545-1

    © 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

    Alle Rechte vorbehalten

    Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8418

    ©1988, 2010Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

    www.schott-music.com

    www.schott-buch.de

    Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.

    Inhalt

    Vorwort

    Zeittafel

    Biographie

    Jugend und Lehrjahre (1860–1881)

    Kleinbürgerliches Elternhaus

    Garnisonsstadt Iglau

    Weltstadt Wien: Lehrjahre

    Verehrung für Bruckner – Enthusiasmus für Wagner

    Jugendfreunde

    Keine Auszeichnung für Das klagende Lied

    Wanderjahre (1881–1888)

    »Theaterhöllenleben« in Laibach und Olmütz

    Preußische Disziplin in Kassel

    Johanna Richter – Lieder eines fahrenden Gesellen

    Kapellmeister bei Angelo Neumann in Prag

    Rivalität mit Nikisch in Leipzig

    Auf Webers Spuren: Die drei Pintos

    Die 1. Sinfonie

    Budapest (1888–1891)

    Ein 28jähriger als Operndirektor

    Wagner auf Ungarisch!

    Kapellmeistermusik? – Mißerfolg der »Ersten«

    Pressekritik an Mahlers Arbeit

    Hamburg (1891–1897)

    Pollinis Erfolgsrezept

    Hans von Bülow

    Gastspiel in London

    Konflikte mit Pollini

    Bülows Abscheu gegenüber Mahlers Musik – Arbeit an der 2. Sinfonie

    Verstärkte Kontakte zu Richard Strauss

    Felix Weingartner

    Erfolg der 2. Sinfonie – Anna von Mildenburg

    Arbeit an der 3. Sinfonie

    Cosima Wagner

    Wien in Sicht!

    Wien (1897–1907)

    Der Geist Potemkins

    Kapellmeister Mahler debütiert mit Lohengrin

    Stellvertretender Direktor

    »Gott der südlichen Zonen«

    Mit eisernem Besen

    Mahler und Hans Richter

    Anna von Mildenburg in Wien

    Mahler übernimmt die Philharmonischen Konzerte – Antisemitische Hetze

    Publikumserfolg der »Zweiten« in Wien

    Sommer 1899 in Aussee

    Optimale Ensemble–Arbeit durch Neu–Engagements

    Sakrileg an Beethovens »Neunter«!

    Richters Abschied

    Wiederbelebung der Freundschaft mit Richard Strauss

    Mit den Philharmonikern in Paris

    Sommer 1900 in Maiernigg – Vollendung der 4. Sinfonie

    Triumph der »Zweiten« in München – »Fort mit den Programmen!«

    Desaster der »Ersten« in Wien – Bruch mit den Philharmonikern

    Sommer 1901 in Maiernigg – Rückert-Lieder und Arbeit an der »Fünften«

    Bruno Walter in Wien

    Uraufführung der »Vierten« in München

    Alma Maria Schindler wird Mahlers Frau – Wiens junge Kunstszene

    Uraufführung der »Dritten« in Krefeld – Durchbruch zu internationalem Ansehen

    Sommer 1902 in Maiernigg – Vollendung der 5. Sinfonie

    Alfred Roller – Einfluß der Sezession

    Zunehmende Gastdirigate

    Erste Erfolge in Amsterdam

    Probleme mit der Generalintendanz

    Vollendung der »Sechsten« und der Kindertotenlieder

    Uraufführung der »Fünften« und der Kindertotenlieder

    Mahlers Werk auf dem Weg ins Repertoire

    Pfitzners Rose vom Liebesgarten

    Strauss’ Salome wird von der Wiener Zensur abgelehnt!

    Die »Siebte« »in einem Furor«

    Mozart-Zyklus in der Hofoper

    Gastdirigate und neue Presse-Attacken

    Uraufführung der »Sechsten«

    Maiernigg 1906: Die 8. Sinfonie – Figaro in Salzburg

    Die letzte Wiener Saison

    Der schicksalsschwere Sommer 1907

    Verhandlungen in New York

    Amerika (1908–1911)

    Kraftakt ohne Tatkraft

    Mahler und Toscanini?

    Plan eines Mahler-Orchesters

    Erste Rückkehr nach Europa – »Dunkel ist das Leben, ist der Tod«

    Uraufführung der »Siebten«

    Zum zweiten Mal in den USA

    Mahler wird Chef der New Yorker Philharmoniker

    Sommer 1909 in Toblach – Die »Neunte«

    Dritter Aufenthalt in New York

    Vorbereitung der Uraufführung der »Achten« aus der Ferne

    Sommer 1910: Ehekrise – Arbeit an der »Zehnten«

    Uraufführung der »Achten«

    Gerüchte um Mahlers New Yorker Zukunft

    Zum letzten Mal in New York

    Probleme mit Orchester und Damenkomitee

    Krankheit

    Rettungsversuch in Paris

    Tod in Wien

    Dokumente

    Alma Mahler

    Bruno Walter

    Natalie Bauer-Lechner

    Berta Zuckerkandl

    Alfred Roller

    Anna Bahr-Mildenburg

    Erinnerungen an Gustav Mahler

    Verzeichnis der Abkürzungen

    Chronologisches Werkverzeichnis

    Literaturverzeichnis (Auswahl)

    Register

    Vorwort

    Die Musik Gustav Mahlers ist seit den sechziger Jahren in ständig steigendem Maße zum selbstverständlichen Repertoire von Konzert- und Rundfunkprogrammen in aller Welt geworden, und auch die Schallplattenindustrie hat sich ihrer in einer Intensität angenommen, wie es in diesem Maße keinem Komponisten der vergangenen hundert Jahre widerfahren ist; weder Richard Strauss noch Max Reger oder Arnold Schönberg haben eine solche Aktualisierung erfahren wie Gustav Mahler.

    Nach dem Mahler-Fest von 1920 in Amsterdam, dessen Initiator der Dirigent Willem Mengelberg war, und dem ersten deutschen Mahler-Fest im April 1921 in Wiesbaden unter der Leitung von Carl Schuricht wurde es still um Gustav Mahler, den Sohn jüdischer Eltern. Nur die Emigranten, allen voran Bruno Walter und Otto Klemperer, Weggefährten des Komponisten aus frühen Jahren, setzten sich im Ausland für ihn ein, bis Leonard Bernstein 1960 zusammen mit Dimitri Mitropoulos das erste große Mahler-Fest nach dem Krieg in New York, Mahlers letzter Wirkungsstätte, arrangierte, von dem in der Tat Signalwirkung an viele Dirigenten vor allem der jüngeren Generation ausging.

    Über die Gründe für ein seither auch bei Konzertpublikum und Schallplatten-Sammlern steigendes Interesse an der Musik Mahlers ist viel spekuliert worden. Mag sein, daß die in den sechziger Jahren einsetzende Stereophonie eine auf Raumwirkung angelegte Musik wie die Mahlers begünstigt; mag sein, daß Adornos Mahler-Buch von 1960 ein fachlich interessiertes Publikum aufhorchen ließ, und mag schließlich auch sein, daß der Film Tod in Venedig von Luchino Visconti, der das Adagietto aus der 5. Sinfonie als Untermalung benutzt, sowie der Mahler-Film von Ken Russel, beide aus den frühen siebziger Jahren, ihren Teil dazu beigetragen haben, die Musik Mahlers einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt zum ersten Mal ins Bewußtsein zu rücken: ohne Probleme ist das Verhältnis des Konzertpublikums zu Mahler bis auf den heutigen Tag nicht.

    Denn: sich auf Gustav Mahler und seine Musik einzulassen, heißt immer, vertrautes Terrain einer gesicherten Kunst-Ästhetik preiszugeben und sich der »Gefahr« von Ungereimtheiten und Widersprüchen auszusetzen. Gustav Mahlers Musik ist ein Abenteuer, so schön und furchterregend, so beschaulich und unberechenbar wie die Welt, von der sie redet, eine Musik, die als skeptische Reflexion eben dieser Welt, als Widerpart der Realität all jene Brüche, Verletztheiten und hämischen Platitüden in sich aufnimmt, die Kunst zuvor sorgsam von sich fernzuhalten wußte. Darin findet sie ihren »Ton«, und darin ist Mahler sicher auch der natürliche Antipode seines Zeitgenossen Richard Strauss, ohne zugleich auch schon als Ziehvater der zweiten Wiener Schule gelten zu können, deren Sache die Diskontinuität kompositorischen Denkens Mahlerscher Provenienz nicht war.

    Was immer aus heutiger Distanz die historische Position Mahlers sein mag – die internationale Musikwissenschaft nimmt sich des Themas »Mahler« seit Jahren mit bemerkenswerter Vehemenz an –: seinen Zeitgenossen war Mahler von alledem nichts, für sie war er zuallererst der mächtigste Hofoperndirektor der damaligen musikalischen Welt, der die Sommermonate nutzte, auch zu komponieren, und sich darin an Bruckner und Strauss messen lassen mußte.

    Diesen Sachverhalt versucht das vorliegende Buch durch Präsentation authentischer Belege zu beleuchten und damit jenen tragischen Aspekt dieses Lebens, die Diskrepanz zwischen Mahlers hohem ethischen Anspruch als Komponist und der Qualifikation durch die Umwelt, in den Vordergrund zu stellen.

    Mein Dank gilt vor allem Frau Eleonore Vondenhoff, Frankfurt/M., die mir immer wieder Einblick in ihre unvergleichliche private Dokumentation gewährte, sowie Frau Emmy Hauswirth, der Haupt-Sekretärin der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft in Wien, die mir bei der Arbeit im Archiv jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand.

    Zeittafel

    Biographie

    Jugend und Lehrjahre (1860–1881)

    Kleinbürgerliches Elternhaus

    Am Sonntag, den 21. Oktober 1860 erscheint in der Wiener Zeitung ein »Kaiserliches Manifest«, in dem es u. a. heißt:

    Ich habe von den Wünschen und Bedürfnissen der verschiedenen Länder der Monarchie Kenntniß nehmen wollen und demzufolge mittelst meines Patentes vom 5. März l. J. Meinen verstärkten Reichsrath gegründet und einberufen.

    In Erwägung der mir von demselben überreichten Vorlagen habe ich mich bewogen gefunden, in Betreff der staatsrechtlichen Gestaltung der Monarchie, der Rechte und der Stellung der einzelnen Königreiche und Länder ebensowohl, wie der erneuten Sicherung, Feststellung und Vertretung des staatsrechtlichen Verbandes der Gesammt-Monarchie am heutigen Tage ein Diplom zu erlassen und zu verkünden.

    Ich erfülle Meine Regentenpflicht, indem Ich in dieser Weise die Erinnerungen, Rechtsanschauungen und Rechtsansprüche Meiner Länder und Völker mit den tathsächlichen Bedürfnissen Meiner Monarchie ausgleichend verbinde...

    Als Kaiser Franz Joseph I. dieses Manifest erläßt, befindet sich der Habsburgerstaat, Konglomerat aus einer Vielzahl von Völkern, Sprachen und Religionen, in großen Schwierigkeiten. Jahrzehntelange Ignoranz gegenüber den Autonomiebestrebungen der Kronländer und eine Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse in Europa hatten erst ein Jahr zuvor zu den Schlachten von Magenta und Solferino geführt, in denen die Monarchie empfindliche Verluste erlitten hatte. Die schweren Staatsdefizite und die Unruhe unter den Völkern zwingen den Kaiser zum Handeln. Er greift zu einem Mittel, das – im sogenannten Oktoberdiplom niedergelegt – zweierlei bewirkt: indem er die politische Bevormundung der Kronländer reduziert und den Untertanen größere Mobilität zugesteht, aktiviert er zugleich die Wirtschaft, die damit ihren Teil zur Gesundung der Staatsfinanzen beitragen kann. Solche Politik schlägt durch bis auf die untersten Ebenen der ökonomischen Pyramide und bietet auch dem Handelsmann Bernard (Baruch) Mahler1 aus Kalischt in Böhmen die Chance zu wachsender Reputation und sozialem Aufstieg. Bernard Mahler hatte in Kalischt ein kleines Häuschen gekauft, in dessen Fenstern nach der späteren Beschreibung seines Sohnes nicht einmal Scheiben waren [...]. Vor dem Hause breitete sich ein Wassertümpel aus. Das kleine Dorf Kalischt und einige zerstreute Hütten waren alles, was in der Nähe lag2.

    Immerhin: Bernard Mahler legt mit dem Erwerb des Häuschens den Grundstein für eine Existenz, die ihm die Gründung einer Familie erlaubt. Im Februar 1857 heiratet er, selbst Sohn jüdischer Eltern, die Tochter des jüdischen Seifensieders Abraham Hermann aus Ledeč, Maria Hermann, die ihn nicht liebte, vor der Hochzeit ihn kaum kannte und lieber einen andern, dem ihre Neigung gehörte, geheiratet hätte3. Bernard Mahler hatte bereits alle möglichen Erwerbsphasen hinter sich und hatte sich mit seiner ungewöhnlichen Energie immer weiter emporgearbeitet4. Die Heirat mit der Tochter aus »besserem Hause« ist – so will es scheinen – ein weiterer Schritt auf dem Weg nach oben. Der großväterliche Seifensieder in Ledeč hielt auf bürgerliche Reputation. In seinem Hause legte man auf Benehmen wert, was Bernhard Mahler als »nobel« erschien. Im Spaß nannte er die Familie des Schwiegervaters »die Herzoge«.5 Er selbst war der Sohn einer »fliegenden Händlerin«, die mit ihren Kurzwaren von Haus zu Haus zog, das Nötigste zum Leben verdiente und ihrem Sohn nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Instinkt für das Erreichbare mitgab. Instinkt und ein unbeirrbarer Ehrgeiz des Vaters, der allzu oft in erster Linie als »Trieb- und Sinnenmensch« hingestellt worden ist, stellen jene Faktoren dar, ohne die der Werdegang des jungen Gustav Mahler nicht verständlich wird. Wahr bleibt wohl dennoch, daß Bernard Mahler seine Frau immer wieder aufs abscheulichste demütigt und daß sich die hinkende und ihr Leben lang herzkranke Mutter dem Sohn als Inkarnation des Leidens tief ins Bewußtsein einprägt.

    In Kalischt ist die junge Familie noch klein. 1858 war das erste Kind, Isidor, geboren, aber bereits im Jahr darauf gestorben, so daß der zweite Sohn, Gustav, der am 7. Juli 1860 zur Welt kommt, der Älteste ist. Aber er ist kaum ein halbes Jahr alt, als der Vater beschließt, Kalischt zu verlassen. Das kaiserliche »Oktoberdiplom« gewährt nun auch den jüdischen Mitbürgern Niederlassungsfreiheit, und Bernard Mahler wittert sofort die Chance: die Familie übersiedelt am 22. Oktober 1860 in das nahegelegene Städtchen Iglau (heute: Jihlava) auf mährischem Boden, einem Zentrum der Leder- und Textilmanufaktur, in dem man überwiegend deutsch spricht.

    Kurz nach dem Umzug im Dezember 1860 muß Bernard Mahler bereits einen Antrag beim zuständigen Bezirksamt eingereicht haben, in dem er um die Genehmigung zur Herstellung und zum Ausschrank von Branntwein oder Likör nachsucht. Am 28. Februar 1861 erhält er folgenden Bescheid:

    Die Anzeige des Bernard Mahler aus Kalischt, wegen von ihm beabsichtigter Erzeugung versüßter alkoholhältiger Flüßigkeiten auf kaltem Wege dann des Verschleißes derselben im Sinne des Hofdekretes vom 6. Dezember 1841 in versiegelten, mindestens ein Seidl enthaltenden Bouteillen in Iglau wird zur genehmigenden Kenntniß genommen.

    Dem Ansuchen um Concession zum Ausschanke dieser versüßten alkoholhältigen Flüßigkeiten kann mit Rücksicht auf die vielen bereits bestehenden Brandwein- und Rosoglioschänker keine Folge gegeben werden.

    Bernard Mahler ist seinem Ziel, als Bürger mit Ansehen in gewissem Wohlstand leben zu können, wieder ein Stück näher gekommen. Voll Stolz hängt er den Bürgerbrief in der Wohnung Pirnitzergasse 4 auf und tritt auch als »beitragendes Mitglied« dem Iglauer Männergesangverein bei. Für den Sohn einer Hausiererin sind dies die Insignien eines erfolgreichen Lebens, und zweifelsfrei ebnen sie Gustav Mahler den Weg für erste Schritte in der Kunst- »Szene« der königlichen Kreisstadt Iglau, dessen gebildetes Bürgertum sich immerhin ein Orchester leistet, in dem von insgesamt 34 Mitgliedern fünfzehn Berufsmusiker sitzen, die von der Kommune finanziert werden. 1850 hatte man die ehemalige Kapuzinerkirche zu einem Theater mit 1020 Sitzplätzen umgebaut und bietet dort neben Theaterstücken und Operetten auch Opern an. Der Spiritus rector des Iglauer Musiklebens ist Heinrich Fischer, ein Schüler des Prager Konservatoriums, der 1858 den Männergesangverein übernommen und ihn etwas später durch einen Damenchor ergänzt hatte, so daß es möglich wird, auch größere Werke mit Orchester aufzuführen, ja sogar Opernaufführungen zu wagen, die nach zeitgenössischen Berichten beachtliches Niveau erreichen; so bietet der Männergesangverein zusammen mit der Stadtkapelle unter der Leitung von Musikdirektor Fischer dem Iglauer Publikum 1867 die Oper Alessandro Stradella von Friedrich von Flotow und zwei Jahre später den erst 1853 uraufgeführten Troubadour von Verdi.

    Der städtische Musikdirektor Fischer ist Nachbar der Mahlers, und die beiden Kinder, Theodor und Gustav, werden natürlich schnell Spielkameraden und Freunde. Theodor Fischer, nachmals Kreisgerichtspräsident und Hofrat, erinnert sich später noch sehr genau an die gemeinsamen Kinder- und Jugendjahre:

    Im Hause C. Nr. 265/Or. Nr. 4 der Pirnitzergasse jetzigen Znaimergasse betrieb sein (Mahlers) Vater in den 60er Jahren und anfangs der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Erzeugung und den Ausschank von Likören.6 Im I. Stocke dieses Hauses war auch die Wohnung der Familie, bestehend aus einer großen Küche, Vorzimmer und 2 Zimmern. Das große Zimmer war als Salon im nüchternen Stile der damaligen Zeit eingerichtet mit der stereotypen Ripsgarnitur; dort hing unter Glas und Rahmen der Bürgerbrief des Vaters, der Bürger von Iglau war, dort stand ein Glaskasten mit Porzellan und Glas und allerlei Raritäten, ein Bücherkasten angefüllt mit Werken der Klassiker und zeitgenössischen Schriftsteller, die Gustav Mahler früh kennenlernte und dort stand auch der Flügel (Vopaterny Flügel), an dem Gustav Mahler übte und studierte, als er bereits im Klavierspiel unterrichtet wurde.

    [...] Als er heranwächst, ist im Sommer die städtische Schwimmschule für ihn und seine Kameraden der Tummelplatz, wo der Schwimmsport eifrig gepflegt wird.7

    Garnisonsstadt Iglau

    Aber die bürgerliche Musikwelt Iglaus ist für den kleinen Gustav nicht die einzige Quelle seiner Musikbegeisterung. Iglau ist zugleich Garnisonsstadt mit all ihren unvermeidlichen Begleiterscheinungen; vor allem hat es dem Jungen die Regimentskapelle angetan, die regelmäßig in ihren schmucken Uniformen durch die Stadt marschiert. Er ist so fasziniert von dieser Musik, daß er als Vierjähriger morgens, halb angekleidet, mit seiner Ziehharmonika auf die Straße stürzt und den Soldaten nacheilt, um schließlich den Marktfrauen auf seinem Instrument vorzuspielen, was er eben gehört hat. Er singt und spielt überhaupt alles nach, seien es Volkslieder, die ihm meistens die Hausmädchen Vorsingen, oder die Musik von der Straße und aus der Umgebung. Als er mit sechs Jahren bei den Eltern der Mutter auf dem Dachboden ein altes Klavier entdeckt8, gibt es nichts mehr, was ihn von diesem Instrument wegbringt, und auch der Vater scheint überzeugt, daß hier die Zukunft seines Sohnes liegt. Er sorgt dafür, daß Gustav ab 1866 beim Iglauer Theaterkapellmeister Franz Viktorin geregelten Klavierunterricht bekommt, so daß er immerhin in der Lage ist, mit acht Jahren einen Siebenjährigen in Klavier zu unterrichten, die Stunde zu fünf Kreuzern. Aber angesichts der Unachtsamkeit des Schülers wird der Lehrer »rabiat«, der Unterricht wird eingestellt9. 1869 wechselt er dann zu einem neuen Klavierlehrer namens Brosch, der offensichtlich alles daransetzt, aus dem Kind einen Virtuosen zu machen. Denn der Zehnjährige tritt am 13. Oktober 1870 zum erstenmal öffentlich im Stadttheater Iglau als Pianist auf: die örtliche Presse spricht in ihrem Bericht vom »künftigen Klaviervirtuosen«.

    Sicher fällt von solcher Ehre auch etwas auf die ganze Familie des Spirituosenhändlers Mahler, zu der neben Gustav inzwischen sieben weitere Kinder gehören: Ernst (geb. 1861), Leopoldine (geb. 1863), Karl (geb. 1864), Rudolf (geb. 1865), Alois (geb. 1867), Justine (geb. 1868) und Arnold (geb. 1869). Zwei von ihnen sterben früh: Arnold noch im Kleinkindalter (1871) und Gustavs Lieblingsbruder Ernst mit 13 Jahren.10 Aber das Kindersterben im Hause Mahler sollte noch kein Ende haben: auch die beiden Nächstgeborenen Friedrich (geb. 1871) und Alfred (geb. 1872) überleben das Kindesalter nicht; Otto (geb. 1873) wächst körperlich wohl gesund heran, begeht aber mit 21 Jahren Selbstmord. Das elfte Kind, Emma (geb. 1875) überlebt das Kindesalter und wird damit das jüngste der Familie, denn der Letztgeborene, Konrad (geb. 1879), stirbt ebenfalls als Kind. Damit überleben von 14 Kindern, denen Marie Mahler zwischen ihrem 21. und 42. Lebensjahr das Leben geschenkt hat, nur sechs die Kinderzeit, eine aus heutiger Sicht unglaubliche »Bilanz«, die aber für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch als durchaus normal gelten muß. Noch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts betrug die Sterblichkeit der Kinder unter fünf Jahren in den Ländern des Habsburgerstaates im Durchschnitt nahezu fünfzig Prozent.11

    Solchen Zustand kann der Staat nur resignierend konstatieren, Verbesserungen muß man von der Medizin erhoffen. Im wirtschaftlichen Bereich dagegen unternimmt die Monarchie eine Reihe von Anstrengungen, die in besonderer Weise auch den Kronländern Böhmen und Mähren zugute kommen; so wird Iglau 1870 an das Eisenbahnnetz angeschlossen, womit der Mobilität der Bürger und dem Handel neue Dimensionen erschlossen werden, an denen sicher auch Bernard Mahler partizipiert.

    Der Älteste besucht inzwischen das Iglauer Gymnasium, aber der wirkliche Bildungszugewinn findet für Gustav Mahler offensichtlich außerhalb der Schule statt, vor allem in der Lektüre der Klassiker und Zeitgenossen, die er teilweise auswendig lernt. Die Schule ist ihm ein Greuel, so, wie ihm jede aufgezwungene und in erstarrten Formen ablaufende Beschäftigung mit Dingen, die ihm lieb und wichtig sind, zutiefst zuwider ist und bleiben wird; wiederholt wird er dabei ertappt, daß er sich in völliger Abwesenheit mit ganz anderen Dingen befaßt als seine Mitschüler. Kein Wunder, daß das erste Zeugnis des Gymnasiums ihn nicht gerade als eine »Leuchte« ausweist. Seine Leistungen in Religion sind zwar vorzüglich und die in Turnen (!) lobenswert, aber der Rest ist nicht der Rede wert; vor allem ist sein Fleiß nur befriedigend, und außerdem wird ihm attestiert: äußere Form: minder sorgfältig, sittliches Betragen: entsprechend12.

    Der Vater hält angesichts solcher Erfolge einen Schulwechsel für angezeigt und nützlich. Im Herbst 1871 besucht Gustav das Neustädter Gymnasium in Prag und wohnt bei der Familie Grünfeld, deren Söhne Alfred und Ernst später selbst bedeutende Musiker werden.13 Aber der Versuch scheitert: der Junge kehrt nach Iglau zurück mit einem Zeugnis, das ihn als schlechtesten Schüler seiner Klasse ausweist! Er wird also wieder Schüler seines alten Iglauer Gymnasiums, aber seine Liebe gehört nach wie vor der Musik, so daß er auch weiterhin als Pianist auftritt und von sich reden macht; so u. a. anläßlich eines Festaktes zur Vermählung der Erzherzogin Gisela, bei dem er in überragender Manier eine Fantasie über Motive aus der Oper Norma von Sigismund Thalberg, dem neben Liszt wohl berühmtesten Pianisten seiner Zeit, vorträgt.

    Entscheidend für Mahlers weitere Entwicklung aber wird eine Begegnung, die während eines Ferienaufenthaltes auf dem Lande, in der Nähe von Časlau, stattfindet. Dort lernt Gustav Mahler den Verwalter einer Domäne kennen, Gustav Schwarz, der selbst ein begeisterter musikalischer Laie ist und sich mit Vehemenz dafür einsetzt, daß Mahler zum Musikstudium nach Wien gehen soll. Aber da gibt es eine Hürde: Bernard Mahler. Der Vater ist ein nüchtern kalkulierender Mann, der Zweifel hat, ob Gustav neben der Schule (als sog. Externer), in der er ohnehin genug Schwierigkeiten hat, ein anspruchsvolles Musikstudium wird bestreiten können. Der Sohn hat sein Ziel längst anvisiert. Er muß nur noch die Weichen richtig stellen, und das versteht der erst Fünfzehnjährige in einer auch sprachlich so brillanten Weise, daß dem Leser doch gewisse Zweifel kommen, ob dieser junge Mann nun wirklich nichts anderes ist als jener verträumte Weltfremdling, als der er von seinen Verehrern so gern gesehen wird. Er schreibt am 28. August 1875 an seinen Gönner Gustav Schwarz u. a. folgendes:

    Anschließend an das Schreiben meines l. Vaters danke auch [ich] Ihnen, geehrter Herr, für die ehrenvolle Aufnahme und Bewirtung, die Sie mir in vollstem Maße zuteil werden ließen, und ich kann nur hinzusetzen, daß es noch einen kleinen Kampf kosten wird, den l. Vater zur Übereinstimmung mit uns in betreff unseres Projektes zu bewegen, obwohl er freilich sich schon ziemlich zu unserer Seite hinneigt; doch ist er noch immer nicht eins mit sich...

    Der l. Vater fürchtet bald, daß ich mein Studium vernachlässigen oder unterbrechen würde, bald wieder, daß ich durch schlechten Umgang in Wien verdorben werden könnte; und wenn er auch, wie es mir scheint, sich zu unserer Seite hinneigt, so müssen Sie doch bedenken, daß ich im Kampfe gegen die Übermacht so vieler »verständiger und gesetzter Leute« ganz allein auf mich angewiesen bin. Deshalb bitte ich Sie, uns am Samstag den 4. September die Ehre Ihres Besuches zu schenken, denn nur durch Sie kann der Vater ganz gewonnen werden. Wollen Sie mich gefälligst der gnädigen Frau und den Herrn und Damen in Ronow empfehlen.

    In aufrichtiger Hochachtung

    Gustav Mahler.14

    Gustav Schwarz bringt es fertig, den Vater zu überzeugen, und man15 fährt nach Wien, um das Urteil des berühmten Klavierlehrers Julius Epstein zur Grundlage für die letztendliche Entscheidung zu machen. Ob Epstein mehr von Mahlers Klavierspiel oder von seinen bis dahin entstandenen Kompositionen überzeugt wurde, geht aus den Berichten nicht eindeutig hervor. Kurzum: Gustav Mahler wird am 10. September 1875 in das Konservatorium für Musik und darstellende Kunst der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien aufgenommen.

    Weltstadt Wien: Lehrjahre

    Mit der Aufnahme ins Wiener Konservatorium erfüllt sich für den 15jährigen ein Traum.

    1812 hatte sich auf Initiative einiger interessierter Laien eine »Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates« gegründet, die sich der »Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen« widmen und mithin neben bemerkenswerten musikalischen Aufführungen auch den künstlerischen Nachwuchs fördern wollte. So wurde 1817 ein Konservatorium eröffnet, das ein halbes Jahrhundert später mit Unterstützung des Kaisers und der »Ersten österreichischen Spar-Casse« in ein neues, wesentlich größeres Lehr- und Konzertgebäude am Karlsplatz umziehen konnte. Dieses »Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde«, seit 1908 die »Staatliche Akademie für Musik und darstellende Kunst«, hat seither eine nahezu unüberschaubare Zahl bedeutender Musiker hervorgebracht und ist bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einer der Brennpunkte des österreichischen Musiklebens.

    Mahler wird als Studierender mit Hauptfach Klavier in die Klasse des angesehenen Klavierpädagogen Julius Epstein aufgenommen, der sich nicht nur durch seine pianistischen Qualitäten, sondern auch als Herausgeber von drei Serien zweihändiger Klaviermusik im Rahmen der Gesamtausgabe der Schubertschen Werke einen Namen gemacht hatte.

    Wie sehr der junge Mahler und einige seiner Kommilitonen, unter ihnen Rudolf Krzyzanowski, von Anfang an die Möglichkeiten der Musik-Metropole Wien zu nutzen gedenken, geht aus einem Gesuch an die »Löbliche Gesellschaft der Philharmoniker in Wien« vom 19. September 1875, also nur gut einer Woche nach Mahlers Aufnahme ins Konservatorium, hervor:

    Die Unterzeichneten wenden sich hiermit an die verehrten Mitglieder der philharmonischen Gesellschaft zu Wien mit der ergebenen Bitte, um die Erlaubnis, den Generalproben ihrer Concerte beiwohnen zu dürfen. Ihre Güte und Einsicht werden die Erfüllung dieses Ansuchens gewiß aufs Beste fördern und die Behauptung gelten lassen, daß das Streben des Compositionsschülers sich nur sehr schwer zur selbständigen Leistung erheben kann, wenn demselben die Gelegenheit, der Aufführung musikalischer Meisterwerke beizuwohnen, versagt bleibt. [...]

    Die Unterzeichneten hoffen auf gütige Berücksichtigung ihres Bittgesuches, im Hinblick auf die von den verehrten Mitgliedern der philharmonischen Gesellschaft stets bewiesene Theilnahme an Allem, was der weite Kreis des musikalischen Gebietes umschließt und verharren daher in Erwartung einer günstigen Entscheidung, hochachtungsvoll zeichnend

    Julius Epstein hält von Anfang an seine schützende und helfende Hand über den jungen Mann aus der Provinz, setzt nach Mahlers zweitem Gesuch um Schulgeldbefreiung durch, daß er nur die Hälfte der Summe, nämlich »60 fl. in 10 Raten« zu zahlen hat, und sorgt dafür, daß er ein paar Klavierschüler bekommt, um sich finanziell über Wasser halten zu können. Dennoch ist Mahlers materielle Situation wie die der meisten seiner Freunde alles andere als rosig. Zu den Freunden zählt damals auch der gleichaltrige Hugo Wolf, der ebenfalls 1875 ins Konservatorium aufgenommen worden war und nun eine Zeitlang mit Mahler zusammen wohnt.

    In ihrer Armut mieteten sie mit einem dritten, namens Krzyzanowsky, zusammen ein Zimmer und hausten dort ein paar Monate... Mahler gab Stunden. Wolf hatte keine oder wenige. Wenn ihnen das Geld ausging, so kündigte immer einer von ihnen eine Stunde auf. Praktiziert wurde das folgendermaßen: Man läutete an, sagte, man sei gezwungen abzureisen und bäte um das Honorar der schon absolvierten Stunden. So hatte einer immer plötzlich mehr Geld, für alle ein paar Mittagessen. Allerdings, dieser Schüler war dann für immer verloren.17

    Hugo Wolfs Konservatoriums-Karriere ist bald beendet: bereits im zweiten Jahr erklärt er seinen Austritt, was zu allem Unglück mit einem ihm fälschlicherweise zur Last gelegten Disziplinarvergehen zusammenfällt. Der eigentliche Grund für seinen Unmut mit Folgen ist aber Franz Krenn, sein und Mahlers Kontrapunktlehrer. Krenn muß wohl jenem Typ von Lehrer zugerechnet werden, der aus dem historischen Gewicht einer Sache ohne Bedenken ihre didaktische Relevanz ableitet. Die Folge ist nur allzu oft Leblosigkeit des Unterrichts, ja sogar blanker Widerwille der Schüler gegen die Sache. Hugo Wolf gewinnt den Eindruck, daß er in Krenns Unterricht mehr vergißt, als er hinzulernt. Mahler scheint ähnliches gespürt und geäußert zu haben. Jedenfalls schreibt er zur gleichen Zeit, also 1876, einen Brief an den Direktor des Konservatoriums, Joseph Hellmesberger d. Ä., Primarius des berühmten Streichquartetts, das seinen Namen trägt: Meinen übereilten Entschluß bereuend erlaube ich mir Sie zu bitten, den unüberlegten Schritt als ungeschehen zu betrachten und mich in den Verband des Konservatoriums wieder aufzunehmen. Ich werde mich bemühen, diese Gunst durch anhaltenden Fleiß zu verdienen, und sowohl Sie, geehrter Herr Direktor, als auch meine Herren Professoren zufriedenzustellen.18

    Das Schreiben des 16jährigen läßt einen der Wesenszüge Mahlers schon zu dieser Zeit ganz deutlich erkennen: rücksichtslos, weil zutiefst von einer Sache überzeugt, seine Meinung zu vertreten, aber ebenso überzeugend scheinbar verspielte Chancen durch taktisch vorteilhafte Rückzugsmanöver19 doch noch zu retten. Man darf sogar davon ausgehen, daß die Kontroverse keinerlei disziplinierende Maßnahmen gegen Mahler zur Folge hatte, denn beim Jahresabschluß-Wettbewerb des Konservatoriums im Juni 1876 wird ihm für den Vortrag des ersten Satzes der a-Moll-Sonate von Schubert ein 1. Preis in Klavier und am 1. Juli für den ersten Satz eines Klavierquartetts der 1. Preis in Komposition zugesprochen, ein erstaunlicher Erfolg für einen zwar sehr begabten, meist aber mehr dem Studentenleben zugeneigten jungen Mann. Robert Fuchs, bekannt als Komponist zahlreicher Orchester-Serenaden und in dieser Zeit Mahlers Lehrer in Harmonielehre, berichtete später gern, daß Mahler zwar selten im Unterricht erschienen sei, aber immer alles gekonnt habe und deshalb von seinen Kommilitonen gern als »neuer Schubert« bewundert worden sei.

    So reist er denn nach dem ersten erfolgreichen Jahr in Wien »hochdekoriert« zusammen mit ein paar Freunden vom Konservatorium in die Ferien nach Hause und gibt dort am 12. September 1876 ein Konzert, in dem neben einem Quartett für Piano, 2 Violinen und Viola seines Freundes Rudolf Krzyzanowski, dem I. Satz des d-Moll-Violinkonzerts von Vieuxtemps, Schuberts Wandererphantasie, einer Chopin-Ballade und einem Konzert für zwei Violinen mit Klavierbegleitung von Delphin Alard auch eine Sonate für Violin und Piano sowie ein Quartett für Piano, 2 Violinen und Viola von Gustav Mahler zu hören sind. Die Rezension im Mährischen Boten ist enthusiastisch; den Mahlerschen Werken wird eine imponierende Gedankenfülle, wie auch eine sehr geschickte Ausführung, welche den genialen Komponisten kennzeichnet, zugesprochen. Der Rezensent bezieht sich zwar auf ein Quintett und bemerkt, daß dasselbe den ersten Preis im Konservatorium in Wien errang20, der Programmzettel kündigt aber ein Quartett an, und es ist anzunehmen, daß es sich in der Tat um den I. Satz des Klavier-Quartetts handelt, das erst 1974 wiederentdeckt und von Peter Ruzicka herausgegeben worden ist.

    Der »Conservatorist Gustav Mahler« mit seinen sechzehn Jahren ist »wer« in Iglau, und spätestens jetzt ist jedermann klar: der wird Pianist, vielleicht sogar Komponist, und wahrscheinlich sieht das auch der Vater so. Aber: er drängt darauf, daß Gustav sich als Externer, d. h. ohne die Anleitung durch die Schule, im Eigenstudium neben seinen Verpflichtungen in Wien auf das Abitur am Iglauer Gymnasium vorbereitet.

    Mahler kehrt nach Wien zurück und versucht, beides miteinander zu verbinden, das Musikstudium und die Lektüre lateinischer und griechischer Literatur, dazu Naturwissenschaften und Deutsch. Das Ergebnis am Konservatorium: im Klavier erhält er zwar wieder einen ersten Preis, aber am Kompositions-Wettbewerb darf er nicht teilnehmen, weil er keine Jahresarbeit, sondern nur einen 1t Teil einer fingierten Arbeit21 vorlegt. Schlimmer in Iglau: die Sache mit dem Abitur geht gründlich schief! Das Protokoll der Prüfung vom 14. Juli 1877 hält u. a. fest:

    Latein: schriftlich nicht genügend

    mündlich: Horaz Sat. Bd. 1/3 kaum genügend

    Griechisch: schriftlich... nicht genügend

       Kriton hat der Examinant nach eigenem Geständnis nicht studiert, ebenso Homer nicht genügend

    Mündl. Prüfung in Deutsch:

    Einige Fragen über Hauptbegriffe der Ästhetik – das Schöne, Erhabene etc. – über die Fabel – das Drama. (Kandidat gesteht, nicht einmal das vorgeschriebene Lehrbuch gesehen zu haben.)

    ganz ungenügend

    Mahler bekommt Gelegenheit, die Prüfung zwei Monate später zu wiederholen. Seinem Klavierlehrer Epstein schreibt er: Ich bin [...] hier in Iglau im Maturitätskonzert um einige Takte zu spät eingefallen, oder vielmehr ich bin einige Tage zu spät angekommen, so daß ich die Matura nicht mehr mitmachen konnte und gezwungen war, sie um zwei Monate zu verschieben.22

    Verehrung für Bruckner – Enthusiasmus für Wagner

    Im September besteht Mahler die Prüfung und schließt damit jene Zeit seines Lebens ab, von der er später gern sagte: Meine Jugend auf dem Gymnasium verbracht – nichts gelernt [...]23 Immerhin: Das Abitur-Zeugnis ermöglicht ihm ein Universitätsstudium. Mit Beginn des Wintersemesters 1877/78 immatrikuliert er sich in der Philosophischen Fakultät der Wiener Universität und belegt Altdeutsche Literaturgeschichte, Mittelhochdeutsche Übungen, Übungen im Bestimmen und Erklären von Kunstwerken sowie Griechische Kunstgeschichte. Mahler äußert sich später etwas amüsiert über diese Studienversuche, die in Wirklichkeit zusammen mit den Freunden im Wienerwald stattfanden. Viel entscheidender ist die Begegnung mit Bruckner, der seit 1875 einen Lehrauftrag an der Universität wahrnahm, aber dennoch niemals Mahlers Lehrer im üblichen Sinne war. Mahler selbst hat diesen Irrtum später richtigzustellen versucht: [...] dieses on dit dürfte daher stammen, daß ich in jungen Jahren, die ich in Wien zugebracht, mit Bruckner stets zu sehen war und jedenfalls zu seinen extra Verehrern und Propagatoren gehörte24. Dazu war denn auch damals genügend Gelegenheit, und zwar stets in einer Art Frontstellung gegenüber dem etablierten Wiener Publikum unter der Führung Eduard Hanslicks. Die Uraufführung der 3. Sinfonie Bruckners am 16. Dezember 1877 gerät zu einem einzigen Debakel. Ein Teil des Publikums verläßt vorzeitig den Saal, was Bruckners Verehrer, unter ihnen Mahler und sein Freund Krzyzanowski, dazu veranlaßt, den verehrten Meister nur um so lautstärker zu feiern. Erstaunlich mutet angesichts der allgemeinen Meinungsmache gegen Bruckner der Entschluß des Verlegers Theodor Rättig an, die Partitur der 3. Sinfonie dennoch zu drucken und gleichzeitig einen vierhändigen Klavierauszug herauszugeben, den Gustav Mahler und Rudolf Krzyzanowski25 unter der Aufsicht Epsteins arrangieren.

    Neben der Verehrung für Bruckner wird in diesen Jahren ein großer Teil der musikalischen Jugend Wiens von einem Wagner-Enthusiasmus sondergleichen erfaßt. Schon 1873 hatte sich ein »Akademischer Wagner-Verein« gebildet, dessen führender Kopf Felix Mottl ist. Wagner selbst kommt im März und Mai 1875 nach Wien, um drei Konzerte zu dirigieren, und im November desselben Jahres überwacht er die Einstudierung des Tannhäuser an der Hofoper. Der überschwengliche Ton, den Hugo Wolf im Brief an seinen Vater anschlägt, trifft sicher die Stimmung aller jungen Wagnerianer: Schon die Ouvertüre war wundervoll, und erst die Oper– ich finde keine Worte dazu, dieselbe zu beschreiben. Ich sag Ihnen nur, daß ich ein Narr bin. Nach jedem Akt wurde Wagner stürmisch gerufen, und ich applaudierte so, daß mir die Hände wund wurden. Ich schrie nur immer Bravo Wagner, Bravissimo Wagner, u. z. so, daß ich fast heiser geworden bin und die Leute mehr auf mich als auf Richard Wagner schauten...26

    Mahlers Berührungspunkte mit Wagner sind in diesen Jahren nicht eindeutig auszumachen. Offenbar ist er aber in erster Linie von Wagners kultur-philosophischen Gedankengängen fasziniert, deren hohe ethische Ansprüche seine eigene Lebensauffassung eine Zeitlang entscheidend mitbestimmen. Wagners Regenerationslehre, die Mahler wahrscheinlich durch die Lektüre von Religion und Kunst (1880) kennenlernt, macht ihn zum Vegetarier. Am 1. November 1880 schreibt er an seinen Kommilitonen Emil Freund: Ich bin seit einem Monat vollkommener Vegetarianer. Die moralische Wirkung dieser Lebensweise ist in Folge dieser freiwilligen Knechtung meines Leibes und der daraus erwachsenen Bedürfnislosigkeit eine immense. Du kannst Dir denken, wie ich davon durchdrungen bin, wenn ich eine Regeneration des Menschengeschlechtes davon erwarte. Alles was ich Dir sage, ist: Bekehre Dich zur naturgemäßen Lebensweise, aber mit zweckmäßiger Nahrung (Grahambrot) und Du wirst die Früchte gar bald erkennen.27

    Mahlers Umgang mit gleichgesinnten jungen »Vegetarianern« hat natürlich weit mehr als nur eine fleischlose Lebensweise zur Folge. Man trifft sich mit gewisser Regelmäßigkeit bei »Ramharter« in der Wallnergasse, um vor allem miteinander zu diskutieren über die Probleme des Tages, historische Gesichtspunkte, über Richard Wagner und Ibsen, über die revolutionären Dichtungen Shelleys28 und dessen Vegetarismus, dann wieder über Neurologie, Psychiatrie und andere naturwissenschaftliche Themen [...]29

    Jugendfreunde

    Bei diesen Zusammenkünften lernt Mahler eine Reihe junger Leute kennen, deren Denken und Arbeit ihn z. T. sein Leben lang begleiten; unter ihnen einen damals 30jährigen Arzt, den Sozialisten Dr. Victor Adler, den eigentlichen Begründer der österreichischen Sozialdemokratie, und den Dichter Siegfried Lipiner.

    Die geistige Lebendigkeit und Weite dieser Jahre hätten sie zu den unbeschwertesten und glücklichsten in Mahlers Leben werden lassen können, wenn sie nicht durch Ereignisse, die in mittelbarem Zusammenhang zueinander stehen, einen traurigen und für Mahler geradezu schicksalhaften Abschluß gefunden hätten.

    In dem bereits erwähnten Brief vom 1. November 1880 an Emil Freund teilt er mit, daß sein Freund Hans Rott wahnsinnig geworden sei. Rott, von Bruckner als einer seiner begabtesten Schüler für den Organisten-Posten in St. Florian empfohlen30, hatte sich mehrfach am Beethoven-Wettbewerb für Komposition beteiligt, der seit 1876 ausgeschrieben wurde, ohne aber jemals Erfolg zu haben. Mitte September 1880 findet eine Begegnung Rotts mit Johannes Brahms statt, die für den sensiblen und kränkelnden Konservatoriums-Schüler verheerende Folgen hat: Brahms rät ihm, die Musik wegen mangelnden Talents doch lieber ganz aufzugeben31. The blow was too much for Rott’s underminded constitution: he went insane and died shortly afterwards.32 Den Grund für Brahms’ Verhalten sieht Redlich unter Berufung auf den Briefwechsel Brahms – Herzogenberg33 in seiner Feindseligkeit gegenüber dem Wiener Konservatorium, insbesondere aber gegenüber Bruckner. So wird auch dem jungen Mahler – laut Redlich – seine allseits bekannte Verehrung für Bruckner zum Verhängnis. Er hatte sich bereits 1878 am Beethoven-Wettbewerb beteiligt, und zwar – wie das Protokoll der Sitzung des Preisgerichts ausweist – mit einer Ouvertüre zu einer geplanten und teilweise komponierten Oper mit dem Titel Die Argonauten.34 Mahler geht wie seine beiden Mitbewerber leer aus: 1878 kann sich die Jury nicht entschließen, überhaupt einen Preis zu verleihen.

    Kein Preis für das Klagende Lied

    Drei Jahre später beteiligt Mahler sich erneut, diesmal mit einer Komposition für Soli, Chor und Orchester, an der er seit 1878 gearbeitet hatte; der Titel: Das klagende Lied. Vermutlich war Mahler bereits in seinem ersten Konservatoriums-Jahr mit dem »Gedicht« von Martin Greif35 Das klagende Lied bekannt geworden, denn es wurde in einer Veranstaltung des Konservatoriums am 3. Mai 1876 von den Schauspielschülern des Hauses aufgeführt. Dagegen erscheinen die häufig genannten Texte wie Die Ballade vom Brudermord, die das Hausmädchen dem kleinen Gustav oft vorgesungen haben soll, oder Grimms Jorinde und Joringel als Quellen für Das klagende Lied eher unwahrscheinlich; eine Beeinflussung mag möglicherweise auch von Grimms Märchen Der singende Knochen herrühren. Und schließlich wird Mahler wohl auch Das klagende Lied von Ludwig Bechstein nicht unbekannt gewesen sein. Wo auch immer die Quellen für seine eigene Text-Version liegen mögen: er verfaßt einen Text in drei Abschnitten (Waldmärchen, Der Spielmann, Hochzeitsstück), der zwar nicht gerade von hohem literarischem Rang und wohl kaum in der Lage ist – wie Franz Liszt 1883 an Mahler schreibt -, den Erfolg des Stückes zu garantieren. Aber die Diktion deutet nicht nur auf künftige Beschäftigung mit den Wunderhorn-Texten hin, sie läßt auch schon etwas erahnen von der Mahlerschen Weitsicht, in der Wundersames mit Makabrem, Tragisches mit Höhnischem sich mischt.

    Möglicherweise hat Mahler – wie einige Autoren vermuten – ursprünglich ein Märchenspiel für die Bühne vorgeschwebt; letztendlich aber wird daraus eine Kantate für Sopran-, Alt-, Tenor-Solo, gemischten Chor und Orchester.36 Aber trotz aller heute erkennbaren frühen Meisterschaft in Instrumentation und Stimmbehandlung hat seine Bewerbung um den Beethoven-Preis keinen Erfolg.

    Die Jury, bestehend aus den Herren J. Hellmesberger, Hofopernkapellmeister W. Gericke, J. N. Fuchs, H. Richter, Fr. Krenn, J. Brahms und K. Goldmark37, spricht den 1. Preis Mahlers Lehrer in Harmonielehre, Robert Fuchs, für ein Klavierkonzert in b-Moll zu. Der zweite und dritte Preis gehen an Victor R. von Herzfeld und H. Fink. Fate willed it that Brahms and Hanslick should head the jury for the prize of 1881: Mahler’s composition was rejected.38

    Man darf wohl annehmen, daß Mahler zumindest das Schicksal seines Freundes Rott in unmittelbaren Zusammenhang bringt mit den Umtrieben gegen Bruckner, an denen Brahms möglicherweise am wenigsten beteiligt war; er schreibt in seiner Verzweiflung über Rotts Geisteszustand: Wer es miterlebt hat, wie eine durchaus edle und tiefe Natur im Kampfe mit der schalsten Gemeinheit zugrunde ging, der kann sich kaum des Schauders erwehren, wenn er an seine eigene arme Haut denkt [...]39 Noch aus der Distanz von fast zwei Jahrzehnten, als er schon längst zum Hofoperndirektor in Wien avanciert war, sieht er sich durch die Entscheidung von 1881 um die Möglichkeit gebracht, ausschließlich als Komponist leben zu können:

    Wäre mir von der Konservatoriums-Jury, in der sich auch Brahms, Goldmark, Hanslick und Richter befanden, damals der Beethoven-Preis von 600 Gulden für das »Klagende Lied« zuerkannt worden, hätte mein ganzes Leben eine andere Wendung genommen. Ich arbeitete eben am »Rübezahl«, hätte nicht nach Laibach gehen müssen und wäre damit vielleicht vor der ganzen niederträchtigen Opern-Karriere bewahrt gewesen. [...] Rott verzweifelte und starb bald darauf im Wahnsinn, und ich ward (und werd’ es auch immer bleiben) zum Theater-Höllenleben verdammt.40

    Vielleicht ahnt Mahler schon im Frühjahr 1880, daß er angesichts der Stimmung gegen Bruckner und dessen Freunde kaum eine Chance auf den Beethoven-Preis haben würde; jedenfalls unterschreibt er am 12. Mai 1880 beim Theater-Agenten Gustav Lewy ein »General-Revers«, demzufolge Lewy sich verpflichtet, gegen 5% der jeweiligen Gage Mahlers für die Dauer von fünf Jahren seine sämmtlichen theatralischen Angelegenheiten wahrzunehmen. Nach kurzer Zeit besorgt ihm Lewy tatsächlich das erste Engagement am Sommertheater in Hall. Mahler zögert zunächst, aber Julius Epstein, sein künstlerischer Vater und Mentor, rät ihm dringend zu: das »Theater-Höllenleben«, das ihm als Komponist zeitlebens ein Ärgernis bleiben wird, ohne das er doch nicht zu leben vermöchte, nimmt seinen Lauf. Zwar kehrt Mahler nach Abschluß der Saison noch einmal nach Wien zurück, seine materielle Situation ändert sich aber um keinen Deut, so daß er sich im Frühjahr 1881 gezwungen sieht, für die Spielzeit 1881/82 auf Vermittlung Lewys einen Vertrag als Kapellmeister am »Landschaftlichen Theater« in Laibach anzunehmen.

    Wanderjahre (1881–88)

    »Theaterhöllenleben« in Laibach und Olmütz

    Laibach (heute jugoslawisch: Ljubljana) ist zu Beginn der achtziger Jahre ein Städtchen mit etwas mehr als 26000 Einwohnern, von denen etwa 60% Slowenen und circa 40% deutschsprachige Bürger sind. Die »Philharmonische Gesellschaft« der Stadt ist der eigentliche Träger des »Landschaftlichen Theaters des Herzogtums Krain«, dem bei Mahlers Engagement ein Orchester von 18 Mann und ein Chor von 7 Damen und ebensoviel Herren zur Verfügung steht. Der Direktor des Unternehmens, Alexander MondheimSchreiner, führt die »Oberregie« und inszeniert insbesondere Operetten und Possen,

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1