Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Atemnot
Atemnot
Atemnot
Ebook95 pages1 hour

Atemnot

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Desiree springt vom Balkon eines Hochhauses, das abgerissen werden soll und dessen Bewohner sich auf eine Umsiedlung vorbereiten. Therese trifft Desiree im Lift nach oben, auf ihrer letzten Fahrt. Sie ist Schriftstellerin und verwebt die Geschichte der Selbstmörderin in ihr Werk. Marie erweist sich als Thereses doppeltes Ich - eine Figur an der Grenze zur Schizophrenie. Richard ist Sozialarbeiter und war Desirees Betreuer. Zum Personal des Romans gehören weitere Figuren wie Schirokko, Bora und die Fürstin, die in einem der "Wohntürme" am Rand einer oberösterreichischen Stadt leben. Virtuos und vielschichtig setzt Eugenie Kain aus einzelnen Stücken eine soziale Wirklichkeit zusammen, dort, wo "Stadtrand" und "Randland" ineinander übergehen. Ihr Roman erscheint in einer unveränderten Neuauflage.
LanguageDeutsch
Release dateJan 27, 2014
ISBN9783701362158
Atemnot

Related to Atemnot

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Atemnot

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Atemnot - Eugenie Kain

    Notiz

    Wildwochen

    Vier Stufen noch und Desiree wußte, dieses Leben würde ein Ende haben. Eine Hand hielt die plumpe Last auf der Schulter im Gleichgewicht, die andere tastete sich das Stiegengeländer hinab in den Keller. 2 Stufen noch und ein paar Schritte den Gang entlang. Noch 3 Schritte. Mit dem Fuß stieß sie die Tür auf. Desiree war am Ziel. Sie lud die Last auf dem Boden ab. Desiree drückte den Lichtschalter. An der Wand hingen Fasane, Rebhühner und Hasen, das Geflügel mit der Schlinge um den Hals, die Hasen mit den Hinterläufen am Haken. Junge Hasen sind daran zu erkennen, daß sich das Fell an der Innenseite der Läufe leicht einreißen läßt. Ihr Unterkiefer ist leicht aufzudrücken, die Vorderläufe und Rippen sind leicht zu brechen. Der Hals des Rehs vor ihr auf dem Boden des Kühlraumes war verrenkt. Ein blankes Auge auf schmutzigen Kacheln. Erloschenes Licht. Desiree wischte die Hand am toten Fell des Tieres ab. Rehschweiß. Blutschwitzen. Die Wildwochen hatten begonnen.

    Eine Station noch und das Fenster würde den Blick freigeben auf die Stadt. Volksschulkinder quetschten sich und ihre sperrigen Schultaschen in den Bus und vertrieben lärmend den Zwang des Schultags. Zwei Kurven noch oder drei. Der Bus änderte seine Fahrtrichtung und fuhr der Sonne zu. Marie schaute auf die Stadt, die sich vor ihr im Bogen ins ebene Land schob. Einem Lavastrom gleich begrub sie Meter für Meter fruchtbare Felder unter bizarren Formen. Zwei riesige Betonquader ragten aus der Ebene und gaben dem gleichförmigen Land neue Schatten. Zufriedene Bewohner einer Siedlung sind daran zu erkennen, daß sie ihre Wochenenden zu Hause verbringen. Sie haben es nicht nötig, das Weite zu suchen. Die meisten Fahrgäste im Bus drängten zum Ausstieg. Verbrauchte Luft. Marie zwängte sich an einem Schulkind vorbei aus ihrer Sitzreihe. Stadtrand. Randland. Und dazwischen irgendwo die Grenze.

    Nie wieder Wildwochen, Martinigänse und Hochzeitsfeiern. Es hatte sich ausserviert, ausgeschält, ausgeschleppt. Desiree sah ein Ziel. Auf dem Weg in den Kühlraum nahm eine Idee Konturen an und gerann dann inmitten der toten Tiere zum Entschluß. Zum ersten Mal in ihrem Leben wußte Desiree, wo sie hingehörte. Hinauf. Weg. Nie wieder würde sie sich in den Keller schicken lassen. Keiner mehr würde sie in eine Ecke drängen. Ihr den Ausweg verstellen. Bleib Mädchen, du könntest etwas lernen. Berge von Erdäpfeln hatte sie geschält, geschnitten, zerdrückt. Bleib Mädchen, ich zeig dir was. Millionen Salatblätter hatte sie aus dem Wasser gefischt. Bleib Mädchen, und stell dich nicht so an. Tonnen von Mehl und Reis hatte sie geschleppt. Komm Mädchen, schlaf darüber. Schnitzel, Schweinsbraten, Zigeunerspieß. Komm Mädchen, das wird dir noch leid tun. Reis. Pommes. Semmelknödel. Komm Mädchen, auf dich wartet niemand. Bier. Wein. Schnaps. Komm. Komm. Komm. Nie mehr. Nie mehr. Nie mehr. Nein, ihr werdet mich nicht aufhalten.

    Desiree trat in die Pedale. Die Sonne war nicht mehr stark genug, die Kälte der Frostnächte zu vertreiben. Sie malte eine blasse Wärme auf Desirees Rücken. Die Hände auf der Lenkstange waren aufgesprungen, zernarbt, krebsrot. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Desiree war keine Indianerin. Trotzdem. Es gab Leute, die nannten Desiree einen harten Knopf.

    Neue Erinnerungen, neue Geschichten, neue Gesichter. Das Mikrofon blieb ein Fremdkörper, wenn Marie eine Fremde war. Vor jedem Besuch drehte Marie ihre Runden, um die Gegend mit allen Sinnen aufzunehmen. Wäschestangen, Parkplätze, Sandkisten, Autolärm, Sitzbänke, Hundekot, Sperrmüll. Auf den Balkonen Satellitenschüsseln und keine Geranien. Weichspülerluft. Die verrußten Fähnchen des Gebrauchtwagenhändlers flatterten steif im Oktoberwind. Auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus weiße Bänder auf Autoantennen.

    An der Haltestelle warteten Menschen auf den Bus, um ins Universum der Einkaufscitys vorzustoßen. Marie sah sich mit fliegenden Fingern Kleiderhaken zur Seite schieben und Pulloverregale durchwühlen und dann vor freundlichen Spiegeln drehen, auf- und abgehen, im falschen Licht verstummten Geschichten, im Gewummer der Synthetikbässe verblaßten Erinnerungen. Keinen Fuß würde sie heute aus dem Schatten der Wohntürme setzen.

    Marie studierte die Namensschilder auf dem Klingelbrett. Auf vielen waren nur die Nummern der Wohnungen vermerkt, auf anderen besagten Endsilben oder die Anhäufung von Umlauten, daß die Bewohner aus einer anderen Sprache kamen. Manche Namensschilder waren unbeschriftet, andere trugen Brandlöcher. Den Namen, den Marie suchte, fand sie nicht. Und wenn schon. So nah am Ziel gab Marie nicht auf.

    An der Kreuzung stieg Desiree vom Rad. Von Schirokkos Wohnung trennten sie nur mehr das Rot der Ampel und 19 Stockwerke. Vielleicht war Schirokko nicht zu Hause. War in der Einkaufsstadt oder im Elektromarkt. Viele Vormittage hatten sie dort in der Fernsehabteilung verbracht. Aus den Filmen von 30 laufenden Geräten hatten sie ihren eigenen Film entwickelt, bis sie der Kaufhausdetektiv verscheuchte. In Schirokkos Film war Krieg. In Desirees Film schlossen am Ende Eltern die Kinder in die Arme. Oder sie blätterten in der Photoabteilung in den Phototaschen fremder Leute. Die Leute photografierten Wellen, Tiere, Kinder und Häuser. Meist mit einer blöden Gestalt im Vordergrund. Manchmal hatte die Gestalt nichts an außer einem Strumpfband oder hohen Stöckelschuhen. Amateurphotos. Schirokko lachte, wenn er zwischen Geburtstagsfeiern auf Löcher, Titten und Schwänze stieß. Desiree lachte nicht mit.

    Brandmale und Schriftzeichen an der Wand, die Briefkästen in einem Drahtkäfig, Kinderwägen und Fahrräder im Stiegenhaus und verdreckter Filzbelag auf den Gängen. Im Aufzug ein Schulkind und dann noch ein Mädchen. Das Schulkind drückte auf den 3. Stock. Marie auf den letzten. Das Mädchen blieb in seiner Ecke. Das Mädchen war atemlos und ungepflegt. Fette gelbe Stirnfransen über unruhigen Augen und einer großen Nase. Das Mädchen schien mit der Geschwindigkeit des Aufzugs nicht vertraut, obwohl die bekritzelte und zerkratzte Aufzugswand den passenden Rahmen zu ihrem Gesicht abgab.

    Das Rad ins Vorderhaus geschleudert und in den Aufzug hinein. Schirokko. Schon wieder in der Ecke. Und schon wieder aufgespießt. Paß auf Alte, daß du dich nicht verschaust. Die Alte hatte ihre Haare nicht im Griff und eine riesige Handtasche, die sie in Desirees Vatersprache „Zeger" nannten. Unmöglich. Fahr schneller, fahr schneller.

    Das Mädchen wohnt nicht hier, dachte Marie. Die gehört nicht hierher, dachte Desiree.

    Der Lift entließ

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1