Risk Wise: Von der Kunst, mit Risiken zu leben
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Risk Wise - Polly Morland
1
Mit dem Feuer spielen
Ein kleines Mädchen hämmert einen zehn Zentimeter langen Nagel in ein Holzbrett. Sie trägt ein pinkfarbenes Sommerkleid und schwarze Schuhe ohne Strümpfe. Äußerst konzentriert schlägt sie mit aller Kraft zu. Zwischen ihrem dreckigen Zeigefinger und dem Daumen hält sie den Stahlstift des Nagels, das Brett liegt gefährlich wackelnd auf einem kurzen Abflussrohr aus Beton, auf das jemand ein paar Kringel gesprüht hat. Ein Schlag des Hammers – einer mit Gummigriff aus dem Baumarkt – gleitet seitlich am Daumen des kleinen Mädchens ab. Sie verzieht das Gesicht und drückt den Daumen einen Moment lang in ihren Handballen. Dann hämmert sie weiter, bis auf der anderen Seite des Brettes ein winziges Stückchen Holz absplittert, hinter dem sich die glänzende Nagelspitze hervorschiebt.
»Ich mache da was«, sagt sie, ohne aufzublicken, und schnappt sich eine rostige Säge vom Boden.
Vorbei an einer verrußten Feuerschale, in der tags zuvor ein paar Kinder ein Feuerchen gemacht haben, kraxeln zwei Kerle bis zum Gipfel eines riesigen, wabenartigen Stapels aus Paletten. Abwechselnd springen sie von ganz oben auf den Bug eines alten Boots aus Glasfaser. Im Flug strampeln sie ein paar Sekunden lang im Sonnenschein mit den Beinen, bevor sie mit einem Freudenschrei landen: Es knallt, als würde in der Ferne etwas explodieren.
»Da kann man sich richtig hochschnalzen lassen«, schreit der eine dem anderen zu.
Es sieht nicht ungefährlich aus, dieses Boots-Crashpad, aber gleichzeitig auch nach richtig viel Spaß. So viel Spaß, dass man sich bei der Frage ertappt, ob sie einen wohl auch mal springen ließen.
Nicht weit entfernt fließt ein Rinnsal voller Müll – Autoreifen, ein roter Schuh, eine Kabelrolle, irgendein grauer Polsterschaumstoff und ein alter metallener Schulstuhl ohne Sitzfläche. Am Bächlein entlang stehen große Bäume, in denen ein Mädchen und ein Junge mit bloßen Füßen herumklettern.
»Weiß Mama, dass ich draußen bin?«, fragt ein Kind das andere.
»Weiß ich nicht«, kommt die Antwort, und sie klettern weiter.
Dieser Schrottplatz ist ein wahrer Rattenfänger. Er liegt versteckt am Ende einer Gasse, hinter einem trostlosen Gemeinschaftsgebäude mitten im Zentrum von Plas Madoc, einer Wohnsiedlung südlich von Wrexham in Nordwales. Plas Madoc befindet sich in den oberen 10 Prozent des »Welsh Index of Multiple Deprivation«. Nicht von ungefähr nennen es die Leute hier in der Gegend »Smack Madoc« (Heroin-Madoc) oder »Cardboard City« (Kartonstadt). Seit dem Bau der Siedlung in den Sechzigern haben die einheimischen Kinder auf diesem knappen halben Hektar Brachland gespielt, das von einem – im Sommer fast ausgetrockneten, im Winter rauschenden – Bach zweigeteilt wird. Obwohl er an diesem heißen Sommertag kaum mehr als eine Pfütze ist, kursierten vor Jahren Geschichten, dass einmal ein Kind darin ertrunken sei, lange bevor die Siedlung gebaut wurde. Die Einheimischen erinnern sich, wie ihre Mütter ihnen als Kindern sagten: »Ihr seid doch nicht etwa unten am Bach gewesen, oder?«, woraufhin sie mit den Köpfen schüttelten und »Nein, ganz sicher nicht« sagten – was eine Lüge war.
Aber die Kinder von Plas Madoc liebten dieses raue Stück Land, dieses Nichts zwischen den Häusern. Es war ihr Raum, ihr »Zimmer für sich allein«. Sie nannten es einfach »Das Land«. Niemand hier kann sich erinnern, dass man es je anders nannte.
In den letzten Jahren hat man diese Art des Spielens – frei, unbeaufsichtigt, voller Schrammen und Beulen, manchmal gemein, oft albern und fast immer schmutzig – in einer Krise gesehen. Eine ganze Generation von Kindern, heißt es, wächst in Wohnungen auf, abgeschnitten von der Außenwelt. Dafür verantwortlich sind die konspirierenden Mächte der institutionalisierten Risikoaversion, eine auseinandergebrochene, ängstliche Elternschaft sowie der Niedergang des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Den weitverbreiteten elterlichen Ängsten vor Gefährdung durch fremde Leute und vor Unfällen im Alltag stehen jetzt gegenüber vergleichbar düstere Warnungen von Expertenkommissionen und Psychologen vor den Kosten der »Spieldeprivation«. Ein angesehener Spieltheoretiker, Brian Sutton-Smith, formuliert das so: »Das Gegenteil von Spiel ist nicht Arbeit. Es ist Depression.« Auf der grundlegendsten evolutionären Stufe, so argumentiert er, geht es um unser emotionales Überleben. Wenn übertriebene Vorsicht dazu führt, dass Kindern die Zeit, der Raum und die Erlaubnis zum Spielen verweigert wird – zu richtigem Spielen, ohne dass ihnen irgendwelche Erwachsenen ständig im Nacken sitzen –, dann werden wir in Zukunft die sozialen Kosten in isolierten, gestörten, zornigen oder gar gewalttätigen Erwachsenen zu spüren bekommen. Mit Sicherheit wird der Zeitpunkt kommen, an dem wir uns wünschen, wir hätten uns gelegentlich lieber für Nachsicht als für Vorsicht entschieden.
2012 stimmte sogar die »Health and Safety Executive«, die Behörde für den Arbeitsschutz in Großbritannien, in diesen Chor mit einer Stellungnahme ein, in der behauptet wurde: »Wer Spielgelegenheiten zur Verfügung stellt, darf nicht das Ziel haben, das Risiko zu eliminieren, sondern die Risiken und den Nutzen gegeneinander abzuwägen. Kein Kind wird lernen, mit Risiko umzugehen, wenn es in Watte gepackt wird.«
Hier in Wales ließ sich die Regionalregierung etwas einfallen, das sie »Play Sufficiency Duty« nannte, was man mit »Verpflichtung zur Herstellung angemessener Spielmöglichkeiten« übersetzen könnte, womit sie sich – der irgendwie trostlosen Bezeichnung zum Trotz – verpflichtete, allen Kindern Möglichkeiten zu verschaffen, so herumzualbern, wie Kinder das nun mal tun – oder wie sie es zumindest tun sollten. Im Fall von Plas Madoc wurde ein Teil der Gelder, die zur Bekämpfung der Armut vorgesehen waren, für Spielinitiativen abgezweigt. Und für »Das Land«, das ein trostloser Platz geworden war, wo – wie es ein Einheimischer beschrieb – »Leute nur üble Sachen im Sinn haben«, bedeutete das ein ganz neues, eigenständiges Leben.
Im Oktober 2011 wurde das Grundstück eingezäunt. Der Holzzaun wurde mit lustigen Graffitis verziert und ein Team von Spielebetreuern rekrutiert. Verschwunden waren Hundehaufen, Glasscherben und Nadeln und ein Gemisch von sympathischerem Sperrmüll wurde herbeigekarrt. Irgendeiner schleppte Hämmer und Sägen aus einem Billigladen an, und per Kran wurden zwei Schiffscontainer als Lagerraum und als Büro für die Leiterin des Spielplatzes abgesetzt. Im Februar 2012 wurde »Das Land« zum Bauspielplatz von Plas Madoc: weit und breit keine Schaukel und kein Klettergerüst, nichts Vorgegebenes, nichts Neues, nichts in Form eines süßen kleinen Tierchens, einfach nur Haufen von Abfall, die sich im Laufe der Tage wie Sanddünen in der Sahara bewegen.
Leiterin des »Landes« ist Claire Griffiths, selbst in Plas Madoc geboren und aufgewachsen und zu einem guten Teil die Architektin des fröhlichen Chaos. Leicht schaukelnd, als würde sie lieber draußen spielen, sitzt sie auf ihrem Bürostuhl in dem Schiffscontainer, der ihr als Vorstandsetage dient. Sie erklärt, wie der Ort funktioniert: dass er gar nicht so anarchisch ist, wie er vielleicht aussieht, wie wachsam sie und ihre Kollegen sind, wann immer »Das Land« seine Tore öffnet, wie sie – in ihren Worten – »absichtlich herumlungern«, sich anscheinend mit anderen Dingen beschäftigen, aber mit Augen und Ohren immer bei dem sind, was die Kinder gerade tun, wie gründlich sie den Platz vorbereiten und dabei die Gefahrenquellen beseitigen, die Risiken aber bestehen lassen, wie gut das Team die rund zweihundert Mädchen und Jungen kennt, die hier angemeldet sind und herkommen, um für sich zu spielen, wie wenige Regeln es gibt (die Tatsache, dass eine von ihnen lautet »Plastik wird nicht verbrannt«, mag einem vielleicht eine Vorstellung von diesem Ort geben), dass immer drei Spielebetreuer anwesend sind, die aber nur sehr selten intervenieren und die Kinder gewähren lassen, wenn sie sich die Knie abschrammen, ihre Daumen treffen, ihre Augenbrauen versengen, im Geäst von Bäumen stecken bleiben, Streit haben und Fehler machen, weitgehend unbehelligt vom öden, gesunden Menschenverstand der Erwachsenen.
»Wenn man auf andere Spielplätze geht«, sagt Claire, »ist alles irgendwie vorgeschrieben und ich wusste, dass ich das für »Das Land« nicht wollte. Ich dachte mir, diese Kinder könnten es selbst in die Hand nehmen, und es ist ästhetisch nicht ansprechend hier, aber ich bin nicht dafür da, irgendeiner erwachsenen Vorstellung von Ordnung oder Sauberkeit zu entsprechen. Es ist nicht keimfrei hier, es ist wild. Und das war für mich das große Risiko, das ich eingegangen bin. Werden mich die Kinder verstehen? Werden sie ankommen, aber wo ist die Schaukel, wo ist die Rutsche? Aber sie haben das nicht gemacht.« Sie hält inne und schaut durch die Tür hinaus auf den Spielplatz. »Sie haben es verstanden. Irgendwie von Anfang an.«
Claires Kollege vom Gemeinderat in Wrexham, Mike Barclay, ist vorbeigekommen und setzt sich auf den anderen schäbigen Bürostuhl im Schiffscontainer. Wenn Claire die Architektin des »Landes« ist, dann ist Mike wohl der Ingenieur. Man muss nur auf jene Spielplätze zu sprechen kommen, auf denen es Nestschaukeln gibt, aus denen man nicht herausfallen kann, mit schwammartigen Sicherheitsoberflächen und einer Wippe in Primärfarben – und er schüttelt den Kopf und sagt: »Aber ist das wirklich Spielen?« Als Verantwortlicher für das lexikondicke Handbuch zur Risikoprävention für »Das Land« weist er darauf hin, dass man sich daran gewöhnt, »extrem hinterfragt« zu werden, wenn man das tut, was Claire und er tun – um es mal höflich zu formulieren. Und schon sprudelt ein oft abgespulter Bericht aus ihm heraus, wie jedes einzelne Risiko, das sie im »Land« eingehen, seinen ungefährlichen Doppelgänger in Gestalt eines offensichtlich vernünftigen Nutzens hat. Er rasselt die Studien herunter, die zeigen, wie Kinder durch Risiken lernen, ihre Emotionen zu regulieren, wie die geteilte Risiko-Erfahrung starke soziale Bindungen entstehen lässt, wie sie die Verschaltung unseres Systems der Stressbewältigung weiterentwickelt und die kognitive und verhaltensmäßige Flexibilität in Übereinstimmung bringt, die diesen Kindern später im Erwachsenenleben zugute kommt, weil sie sie kompetent und belastbar macht und vielleicht sogar – wenn man das sagen darf – glücklich.
Im Kern von all dem befindet sich ein bemerkenswert nuanciertes Verständnis davon – eines, das auch manch ein Psychologe