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Der neunte Tod: Kriminalroman aus der Eifel
Der neunte Tod: Kriminalroman aus der Eifel
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Der neunte Tod: Kriminalroman aus der Eifel

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About this ebook

Der Auftrag klingt wirklich einfach: Über die Weihnachtstage soll Herbie Feldmann das Haus seiner reichen Tante Hetti hüten. Doch dann begeht er einen folgenschweren Fehler, von dem ihn auch sein allgegenwärtiger Begleiter Julius nicht abhalten kann. Beseelt vom Geist des Weihnachtsfestes, gewährt er einem Obdachlosen Unterschlupf und Schutz vor dem frostigen Eifelwinter. Der geheimnisvolle Fremde nennt sich Mikesch. "So, wie der Kater", lacht er, und genau so wie ein Kater glaubt er auch neun Leben zu haben. Aber irgendwann sind auch diese neun Leben einmal verbraucht. Und plötzlich sehen sich Herbie und Julius erneut einer Leiche gegenüber ...
LanguageDeutsch
Release dateJul 15, 2013
ISBN9783954410590
Der neunte Tod: Kriminalroman aus der Eifel
Author

Ralf Kramp

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-­Literatur-Festivals. Seither erschienen zahlreiche Kriminalromane und Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-­Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. Im Jahr 2023 wurde er mit dem Ehren-­Glauser für »herausragendes Engagement für die deutschsprachige Krimi­szene« ausgezeichnet.

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    Book preview

    Der neunte Tod - Ralf Kramp

    Erstes Kapitel

    Harry kippte die grün schimmernde Flasche ein paar Zentimeter vor seiner blau durchäderten Nase mit dem Hals nach unten. Ein letzter Tropfen Rotwein bildete sich an der Flaschenöffnung, aber bevor sein zittriger Finger ihn auffangen konnte, tropfte er zu Boden und verschwand im Schnee. Der entstandene kleine Tupfer zu seinen Füßen sah im Dämmerlicht des Winterabends aus wie Blut.

    Er war unterwegs nach Trier. Die letzte Nacht hatte er im Vellerhof bei Blankenheim verbracht, und jetzt standen ihm ein paar gemütliche Nachtstunden unter der Brücke der B51 über die Kyll bevor. Er seufzte und schleuderte die leere Ein-Liter-Flasche linker Hand in den Fluß. Während er weiter auf seine zukünftige Behausung zustolperte, knackte er beiläufig den Drehverschluß einer weiteren Weinflasche. An der nächsten Wegkehre setzte er an und tat ein paar kräftige Schlucke. Zufrieden rülpste er in den Abendhimmel hinein. Eine weiße Dampffahne bildete sich und wurde, als Harry sich wieder in Bewegung setzte, auseinandergewirbelt.

    Vielleicht, so dachte er, würde er schon in zwei oder drei Tagen bei Mutti sein. In Trier, im Warmen, mit richtigem Essen und mit Muttis ollem Plastikweihnachtsbaum. Vielleicht sogar mit Spekulatius und Printen. Eigentlich hatte er die Sachen heute selber an der Tanke in Stadtkyll kaufen wollen, nachdem er zuvor sein spartanisches Nachtlager hoch oben auf dem Brückenpfeiler, direkt unter dem Brückenkopf, aufgeschlagen hatte. Mutti wäre bestimmt ganz jeck vor Freude gewesen. Oder vielleicht auch ganz traurig. Printen konnte sie nämlich schon ewig nicht mehr beißen.

    Das Problem hatte sich von selber gelöst, da ihm plötzlich, angesichts der beiden preiswerten Weinflaschen, das Gebäck vollkommen unnütz erschienen war. So war das, wenn man schon so lange auf Achse war. Da wertete man Nahrungsmittel nur noch nach ihrem Alkoholgehalt. Wer im Freien übernachtete, der mußte sich wärmen, und wer derart, gewissermaßen lebendig in Alkohol eingelegt, durch die Gegend wankte, vergaß die Kälte für ein paar Stunden.

    Als er durch Hammerhütte, eine idyllische kleine Ansammlung alter Bauernhäuser, torkelte, betrachtete er versonnen die winzigen Lichterketten, die die Bewohner von innen an den Fensterrahmen entlang drapiert hatten.

    ›Nur noch ein paar Wochen‹, dachte Harry und rülpste erneut heftig. ›Dann bin ich bei Mutti. Und dann ist Weihnachten. Und dann bin ich weg. Da findet mich keiner.‹

    Er erinnerte sich an einen alten Weihnachtsschlager von Roy Black und lallte: »Weihnachten, Weihnachten bin ich zu Haus ...«, während er die Häuser von Hammerhütte hinter sich ließ und auf die Brücke zuwankte, die sich schwarz und drohend gegen den klaren Abendhimmel abzeichnete.

    Als er wenige Meter vor der Brücke erneut stehenblieb, um einen weiteren Schluck aus der Flasche zu nehmen, sah er das gelbe Fahrzeug zum ersten Mal. Zuerst glaubte er, es handele sich um eine Wahnvorstellung. Es geschah häufig, daß er Dinge sah, die gar nicht da waren. Wirklich nichts Ungewöhnliches, wenn plötzlich Scharen von Mäusen durch das Vorzimmer des Sozialamts flitzten oder wenn irgendwelche Käfer durchs Zimmer surrten, aber das hier ...

    Ein kadmiumgelber Dreier-BMW, das war die Zuhälterkarre schlechthin. Das paßte zu ihnen.

    Seine Rechte verkrampfte sich um den Hals der Flasche, und instinktiv machte er die ersten zaghaften Schritte rückwärts. Sie hatten ihn gefunden! Und wenn sie ihn hier aufgetrieben hatten, dann hatten sie ihn lange und gründlich gesucht. Es war nicht klug gewesen, sich mit ihnen anzulegen. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte wissen müssen, daß diese Typen sich nicht auf der Nase rumtanzen ließen.

    »Harry, alte Filzlaus!« ertönte eine dunkle Stimme hinter ihm, und eine Pranke klopfte ihm donnernd auf die Schulter. Entsetzt fuhr er herum. Die Flasche entglitt seiner Hand und zersplitterte auf dem verschneiten Asphaltweg. Der Rotwein verspritzte ringsherum. Wenn er eben noch über einen einzelnen Blutstropfen nachgesonnen hatte, dann war das jetzt ...

    Eine Reihe schiefer Zähne grinste ihn breit an. Sie leuchtete ihn gelblich aus einer unrasierten Gesichtslandschaft an, die zu einem affenähnlichen Grinsen verzogen war.

    Harry war stumm. Alles, was er jetzt sagen würde, würde das Grinsen nur noch wachsen lassen, bis es das häßliche Gesicht zu einer angsteinflößenden Maske verzerren würde. Der Kerl steckte zwei Finger in den Mund und schickte einen grellen Pfiff zur Brücke, wo sich daraufhin am Auto etwas regte. Eine weitere Gestalt schälte sich aus dem Dunkel und kam auf sie zu.

    »Wir haben dich vermißt, mein Schatz«, säuselte Harrys Gegenüber. »Warum bist du nur so schnell abgehauen? Wir wollten dich doch zu unserer Weihnachtsfeier einladen. Dich und ... Oder bist du etwa allein?« Er grinste wieder. Dieser Kerl würde grinsen, bis die ersten Schmerzen kamen und weit darüber hinaus. Erst wenn Harry die ersten heißen Tränen aus den Augen schossen, würde es zu seiner vollen Größe herangewachsen sein.

    So lange wollte er nicht warten.

    Harry versuchte, an ihm vorbei in den kleinen Ort zurückzulaufen, aber der massige Kerl machte nur eine müde Bewegung zur Seite und versperrte ihm den Weg. Er beschloß, es über das Feld zu versuchen. Seine Schritte in das schneebedeckte, kniehohe Gras am Wegesrand waren ungelenk, er strauchelte und war froh, nicht sofort der Länge nach in den Schnee zu fallen.

    »Aber Harry!« ertönte die dunkle Stimme hinter ihm. »Du wirst uns doch keinen Korb geben wollen! Wir sind doch gekommen, um dich abzuholen. Ein nettes Gespräch unter Freunden! Ein Plausch bei Glühwein am Adventskranz. Du weißt doch, wen wir suchen ... Willst du uns denn nicht helfen?«

    »Adventskranz«, dachte Harry panisch, während er hechelnd nach vorne stolperte. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie sie seine Hände ganz dicht an die Flamme der roten Stumpenkerzen heranführen würden. Sie würden nicht warten bis zum vierten Advent, bevor sie vier Kerzen anzünden würden. Vier Kerzen ... Viermal Schmerzen.

    Er stürzte, als sein rechter Fuß an irgend etwas hängenblieb, das unter dem Schnee verborgen lag. Und mit einem Mal hörte er auch das Keuchen seiner Verfolger ganz nah hinter sich. Er rappelte sich auf, rutschte mit der Linken auf dem Schnee weg und vergrub beim erneuten Sturz sein Gesicht in den Schnee. Die Kälte erfrischte ihn, ließ seine Gedanken klarer werden, und seine Panik wuchs.

    Als er wieder auf den Beinen war, hatten sie ihn beinahe erreicht. Der dickere von beiden schnaufte angestrengt. Mit einem hektischen Blick über die Schulter erkannte Harry, daß er nun nicht mehr grinste.

    Dann übersah er den Zaun und stürzte erneut. »Das ist das Ende!« schoß es ihm durch den Kopf, als sie ihn erreichten. »Ich glaube fast, du magst uns nicht«, sagte der eine keuchend und grinste schon wieder. Der andere sagte gar nichts, sondern hob nur einen Knüppel, den er eben noch nicht in der Hand gehabt hatte. Harry hatte recht behalten. Das war das Ende!

    Der Knüppel sauste ein paar Mal auf ihn nieder, und Harry ließ nicht viel mehr vernehmen als das Wimmern eines geprügelten Hundes. Dann war da plötzlich Blut, und es sah in der Tat nicht anders aus als der billige Rotwein von der Tankstelle. Dann war Harry tot.

    Sie standen ein wenig ratlos vor dem leblosen, zerlumpten Haufen zu ihren Füßen, von dem eine unangenehme Duftmischung aus warmem Blut und Alkohol in die Winterluft aufstieg. Der eine kratzte sich am Kopf und betrachtete den Knüppel. »Scheiße«, murmelte er. »Das ist irgendwie mit mir durchgegangen.«

    »Jetzt haben wir natürlich wieder nix rausgekriegt«, brummelte der andere. »Und überhaupt, Nagolny, du Arsch, jetzt haben wir diese Scheißleiche am Hals.« Sein Gegenüber sagte plötzlich, schon wieder bestialisch grinsend: »Du, ich glaub, ich weiß, was ...« Dann begann er, mit den Händen eine Schneekugel zu formen, und rollte sie schließlich über das schneebedeckte Feld. Sie wuchs und wuchs.

    »Ich mach den Bauch, und du machst den Kopf!«

    *

    Der Schnee zaubert in der Eifel die unterschiedlichsten Szenarien. Er macht Wiesen und Weiden zu blütenweißen Teppichen und deckt, wenn es ihm gefällt, in Minutenschnelle die Spuren von Mord und Totschlag zu. Über Löcher, die warmes Blut in seine kalte Kruste frißt, deckt er im Nu den weißen Mantel der Jungfräulichkeit.

    An anderer Stelle, nicht weit entfernt, raubt er hingegen der Landschaft den letzten Rest von Farbe, läßt Grau noch grauer erscheinen und umrahmt die Finsternis dunkler Fenster, so daß sie aussehen wie tote Augen in einem blutleeren Gesicht.

    Ein bißchen wirkte es hier so, als sei nach dem zweiten Weltkrieg noch nicht richtig aufgeräumt worden. Die Häuser am Rande der Hauptstraße sahen teilweise aus wie ausgebombt. Hohle Fensterschächte und zerborstene Dächer kündeten von Brand und Verfall. Es war dämmerig. Ein unappetitlicher Schneeregen hatte eingesetzt. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Lasters sprengten weißgleißendes Licht auf die Frontscheibe des Ferrari. Wassong trat auf die Bremse. Hinter ihm betätigte jemand hektisch die Lichthupe.

    Ein rascher Blick aus den Augenwinkeln zum Beifahrersitz entlockte Wassong die Andeutung eines Lächelns, das er sich sofort wieder verkniff. Lässig bleiben. Immer hübsch lässig bleiben. Wenn sie aufgeregt war, sah Vera Meincke fast noch ein wenig rassiger aus. Und er hatte durchaus vor, sie aufzuregen. Nervös strich sie sich das schwarze Haar aus der Stirne. »Sie bremsen ein bißchen spät.« Sie zog den Kragen des dunklen Wintermantels enger um ihren schlanken Hals. Wassong schwieg. Der Lkw war vorbeigerauscht, und er lenkte den feuerroten Sportwagen nun linker Hand den Berg hinauf, mitten hinein in das kleine Nest mit dem wohlklingenden Namen Hohenfels, seinen unscheinbaren, schmucklosen Gehöften und einer Handvoll Neubauten. Vera Meincke glaubte, in der zunehmenden Dunkelheit eine Beschilderung zu erkennen, die sie ›zur Grotte‹ führte. Sie betrachtete Wassong, der betont lässig hinterm Lenkrad thronte, mit der Linken die Servolenkung betätigte und mit der Rechten einen Sender im Autoradio einstellte. Er war jenseits der Fünfzig, trug sein graues Haar weniger als Bürde, denn als gediegenen Zierat, der in starkem farblichem Kontrast zu seinem dünnen, pechschwarzen Oberlippenbart stand, von dem sie und jeder andere, der mit ihm zu tun hatte, annahm, daß er gefärbt war. Man hätte ihn tatsächlich für einen Südländer halten können, und das war genau das, was Wassong wollte. Seit er in den Sechzigern seine allererste Italienreise angetreten hatte, war er diesem Land verfallen. Er hatte den Italiener in sich entdeckt, richtete sich italienisch ein, aß seither vorzugsweise Teigwaren und andere landestypische Köstlichkeiten, hörte italienische Musik und trank ausschließlich das, was man ihm als italienischen Wein vorsetzte. Aber wenn er ›Chianti Classico‹, ›Valpolicello‹ oder ›Frecciarossa‹ orderte, konnte er nur schwer verbergen, daß er in Wirklichkeit dann doch nur Werner Wassong aus Bad Münstereifel-Kolvenbach war.

    Die Sendersuche am Radio war von Erfolg gekrönt. Eros Ramazotti plärrte etwas besonders Verschmustes und spie dabei seine harten Vokale aus, als sänge er ausschließlich für Schwerhörige.

    »Warum in alles in der Welt nur hier in diesem Nest?« Beunruhigt betrachtete sie die Bauerngehöfte und den nahen Waldrand. »Warum nicht ein Parkplatz an der Autobahn oder so was?«

    Wassong grunzte amüsiert. »Ein Parkplatz ... Autobahn ... Das hat doch alles keine Atmosphäre. Das ist doch Nullachtfuffzehn. Wenn schon Geldübergabe, dann hier.« Wieder blickte er aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. Er würde ihr zeigen, daß es andere Dinge im Dasein eines erfolgreichen Unternehmers gab als saubere Bilanzen und üppige Renditen. Er war sich sicher, daß Vera Meincke ihm schon noch früher oder später den gebührenden Respekt zollen würde, wenn er ihr erst einmal bewiesen hatte, daß er durchaus eine kreative Ader, ein Gespür für den Nervenkitzel hatte, daß er eben ein ganzer Kerl war. Der ›Padrone‹ hatte sie noch immer alle rumgekriegt.

    Geldübergabe – allein mit diesem Wort hatte er schon geglaubt, sie beeindrucken zu können. Aber diese Meincke war ein harter Brocken. Für eine Sekretärin ein bißchen zu hart vielleicht. Trotz alledem glaubte er, daß sie es wert war. Ihre makellosen Formen, ihre vielleicht einen Hauch zu scharf geschwungene Nase. Irgendwie sah sie südländisch aus. Wenn das nicht Grund genug war.

    Jetzt ging es also an die Geldübergabe. Im Grunde genommen ein profaner Akt. Jemand brauchte Geld, und er selbst hatte es nun mal. Also konnte man sich schon mal für einen kurzen Zeitraum von ein paar Scheinen trennen, von denen ohnehin niemand wußte, daß sie existierten. Außer ihm und der Meincke. Das war Einstellungsbedingung gewesen. Sie hatte von vornherein durchblicken lassen, daß sie von keinerlei Skrupeln geplagt war, wenn es bei finanziellen Transaktionen auf verschlungenen Pfaden haarscharf an der Legalität vorbei ging. Dies war ihre erste Exkursion, eine Bildungsreise gewissermaßen, und Wassong hatte sich bemüht, es so spannend wie möglich zu machen.

    Dabei wartete am Ende ihrer Fahrt doch nur Vielacker auf sie. Der kleine, schäbige Vielacker, der den unscheinbaren Koffer entgegennehmen und weiterleiten würde. Ohne nachzuzählen, anscheinend ohne besonderes Interesse an dem Packen Geldscheine überhaupt. So, wie er es schon einmal getan hatte. Und dann lieferte er es ab, wie abgesprochen noch am selben Abend.

    Vielackers Wagen stand schon da. Das Kölner Kennzeichen hing ein wenig schief, so wie überhaupt alles an dem alten Benz ein bißchen schief hing. Im Hintergrund huschte der Schein von Wassongs Scheinwerfern über eine bizarre Szenerie dunkelgrauer, monumentaler Felsbrocken, viele Meter hoch und beängstigend dicht zum Rund des früheren Steinbruchs angeordnet.

    Als sie den Ferrari neben Vielackers Karre abstellten, stellte Wassong vergnügt fest, daß sein Kurier all seine Anweisungen geflissentlich befolgt hatte. Anstatt geschützt im Auto zu warten, hatte er sich zu dem Platz begeben, den Wassong ihm angewiesen hatte.

    »Kommen Sie! Hier geht’s lang.« Er winkte der Sekretärin zu, die fasziniert vor zwei riesenhaften Mühlsteinen stand, die, dichtbemoost und halb ins Erdreich eingelassen, von dem zeugten, was in früheren Zeiten hier aus dem Fels geschlagen worden war. Überall schmiegte sich ein Hauch von körnigem Pulverschnee in die Winkel des Gesteins und in das Geflecht der Moose.

    Sie folgte ihm unsicher die in den Waldboden eingelassenen Stufen hinauf und betrachtete mit einer Mischung aus Neugier und angenehmem Schauer den Mann, der vor ihr ging. Was war los mit diesem Typ? War er wirklich nur der neureiche Eifeler, dem sein Italienspleen zu Kopf gestiegen war?

    Es wurde dunkler und dunkler. Das hartgefrorene Laub, über das sie schritten, schickte ein zischelndes Flüstern in die Nacht. In der Ferne war leise der Verkehr der Durchfahrtsstraße zu hören.

    Mit einem Mal nieste jemand vor ihnen. Ein gequältes Niesen, das einem jammervoll röchelnden Luftholen folgte.

    »Hallo, Vielacker.« Wassong hatte die Hände tief in den Taschen seines dunkelblauen Mantels vergraben und richtete seine Worte irgendwo in das Dunkel vor ihnen. »Gesundheit.«

    »Danke!« kam es schniefend zurück, und wenige Schritte später war auch die Person zu erkennen, der der Schnupfen zuzuordnen war.

    Vielacker war ein kleines Männlein mit fliehendem, eisgrauem Haaransatz und einem viel zu dünnen Mantel. Seinen grobkarierten Schal hatte er fast bis unter die Nase zusammengezurrt, und er hockte gebückt und bibbernd auf einer der Bänke linksseits des kleinen Waldwegs. Auf der rechten Seite flackerten in einer halbverschneiten, von Stein und Eisen eingefaßten kleinen Zeremonienstätte ein paar Grablämpchen und schickten ihren schwachen Schein die karge Felswand hinauf zu einer schemenhaft erkennbaren Marienstatue, die mit einem Strahlenkranz von an dem Fels befestigten bunten Glasscherben umgeben war.

    Damit hatte die Meincke nicht gerechnet. Das war ja eine Art Lourdes für Arme hier. Und dieser Vielacker paßte perfekt in die Rolle des jämmerlichen Sünders. Er erhob sich langsam und gebeugt und kam ihnen mit steifen Schritten entgegen.

    »Warten Sie schon lange?« fragte Wassong launig und klopfte dem dürren, kleinen Männlein auf die Schulter. Ein wenig Pulverschnee wirbelte durch die Luft.

    »Ach wo, kaum eine halbe Stunde. Ich habe versucht, noch mal ein paar alte Gebete zusammenzubekommen. Hat nicht geklappt. Ist wohl zu lange her.« Er nieste wieder heftig. »Nett hier. Eine Autobahnraststätte hätte es aber auch getan.«

    Wassong hielt ihm den Koffer hin. »Ich hab da was für Sie.«

    »Darum bin ich ja auch hier.« Vielacker deutete mit einer vagen Kopfbewegung auf Vera Meincke und zog fragend die Stirne kraus.

    »Meine neue Sekretärin. Frau Meincke.« Er deutete mit einer lässigen Handbewegung eine Art Vorstellung an. »Frau Meincke, das ist Vielacker. Früher ein gewiefter Rechtsverdreher, heute nur noch ...« Er grübelte. »Heute nur noch Kofferträger.« Er lachte laut und klopfte Vielacker erneut auf die verschneite Schulter. Vielacker quittierte den Scherz mit einem vieldeutigen Schniefen. Seine Hand schloß sich um den Koffergriff.

    »Wieder nur ein Fünftel«, erklärte Wassong und legte den Kopf in den Nacken. Während er die Baumwipfel über ihnen betrachtete, murmelte er: »Ich hoffe immer noch, es macht ihm nichts aus. Aber ich finde es einfach mit jedem weiteren Mal noch ein bißchen spannender.«

    »Spannender?« Vielacker sah ihn skeptisch durch die Finsternis hindurch an. »Ihm macht es vielleicht nichts aus. Aber fragen Sie mich mal!«

    »Ich weiß, ich weiß, Vielacker, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann ...« Er bemühte sich, das so ironisch wie möglich klingen zu lassen. »... aber Sie kommen doch gern in die Eifel, oder?«

    Vielacker blieb ihm die Antwort schuldig.

    »Deshalb dachte ich mir ja auch damals, wir machen diese tolle Übergabe mehrmals. Ich liebe unsere kleinen, geheimen Treffen, verstehen Sie?«

    »Aber das Risiko, daß jemand aufmerksam wird, wird nicht eben kleiner. Daran denken Sie doch hoffentlich auch, Wassong, oder?« murmelte Vielacker übellaunig.

    »Ich denke an alles.« Er kramte in seiner Manteltasche herum und holte einen handlichen Gegenstand hervor.

    Vera Meincke erkannte einen Revolver. Es war erstaunlich, wie gut er zu Wassongs behandschuhten Händen paßte, wie gut zu dem ganzen Mann überhaupt. Vielacker hätte mit einem solchen Ding in der Hand sicherlich nur dämlich ausgesehen, aber Wassong verlieh dieses todbringende Utensil Format.

    »Das heißt, ich soll jetzt also noch mal ...«

    »Ganz richtig, Vielacker. Und glauben Sie mir: Der Treffpunkt wird auch nächstes Mal keine Autobahnraststätte sein.«

    »Das habe ich befürchtet.« Vielacker nieste wieder.

    Zu dritt standen sie einen Moment lang schweigend in der Kälte, und Wassong ließ den Blick verächtlich an Vielackers jämmerlicher Gestalt hinauf und wieder hinab wandern. Dann räusperte er sich.

    »So, Vielacker, Sie haben nun die Güte, sich wieder zu entfernen, damit wir uns noch ein wenig der Aura dieses heiligen Ortes widmen können.« Vielacker grinste ein schmieriges, kleines Grinsen und klemmte sich den Aktenkoffer unter den Arm. Dann machte er wortlos kehrt und wackelte unbeholfen den hartgefrorenen Waldweg hinunter, bis sich der Anblick seiner gekrümmten Gestalt in der Dunkelheit verlor.

    Fröstelnd zog sich Vera Meincke den Mantelkragen hoch. Was kam jetzt? Allein im Wald mit dem Chef, mit dem feurigen Südländer, dem graumelierten Supermacho, der, wenn man den Leuten um ihn herum Glauben schenken durfte, seine Finger nicht bei sich behalten konnte, hier, fernab der Zivilisation, im finsteren Eifelwald.

    Wassong drehte sich um. Langsam wandte er sich zu der Gedenkstätte, deren Marienbild vom erneut einsetzenden Schnee umwirbelt wurde. Stumm faltete er seine Hände und beugte den Kopf demütig hinunter. Seine Lippen murmelten Unverständliches und stießen kleine Dampfwölkchen in die Nacht aus. Als er geendet hatte, ließ er seine Rechte mit einem flüchtigen Kreuzzeichen über Kopf, Brust und Schultern huschen. Dann zurrte er seinen Schal zurecht und bot seiner Sekretärin den Arm zum Geleit. Zögernd hakte sie sich ein. Was war das für ein Mann? Ein Revolver, ein Gebet ... Dinge, die nicht zusammenpaßten und doch miteinander harmonierten. Das hatte etwas von Camorra, das war fremdartig und interessant. Wassong war interessant. Ganz plötzlich.

    Wassong war zufrieden. Er spürte, wie das brüchige Laub unter seinen Ledersohlen zermalmt wurde, und er spürte, wie Vera Meincke an seiner Seite vor Kälte zitterte. Ihre Hände schlossen sich fester um seinen Arm, und er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war.

    Zweites Kapitel

    Acht Glockenschläge hallten durch die Luft. Sie schwangen von den Türmen der Stiftskirche hinunter, tauchten aus der Schwärze des Winterabends hinein in das Lichtergewirr und die Geräuschkulisse des Münstereifeler Weihnachtsmarkts und gaben sich redlich Mühe, gegen das Synthesizergedudel vom Kinderkarussell und den plärrenden Kinderchor vom Tonband der Marktbühne anzukämpfen. Der Lärm an diesen besinnlichsten Tagen des Jahres war unbeschreiblich.

    Und trotzdem war Herbie Feldmann gefangengenommen von der weihnachtlichen Atmosphäre, die ihn umfing. Er schlug den Mantelkragen hoch, lehnte sich, einen frankierten Briefumschlag in den Händen hin und her wendend, rücklings an den Marktstand, nippte an seinem heißen, duftenden Glühwein und blickte mit feuchten Augen gerührt in das Wirrwarr weihnachtshungriger Mitmenschen im Schatten der altehrwürdigen Stiftskirche.

    Du bist wirklich schrecklich rührselig, Teuerster, ertönte eine brummelige Stimme zu seiner Rechten. Bisher dachte ich immer nur, alte Lassie-Filme würden dich zum Heulen bringen.

    Herbie konnte den Blick nicht von dem Meer heimeliger Lichterketten und glänzender Baumschmuckbuden abwenden. Das brauchte er auch nicht. Er wußte,

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