Lesereise Albanien: Die Möwe und der Freiheitskämpfer
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Lesereise Albanien - Carola Hoffmeister
Ausgerechnet Albanien
In der Ankunftshalle des Flughafens von Tirana kommt ein schlaksiger, etwa dreißigjähriger Albaner in einem rot-weiß karierten Hemd auf mich zu. Er ist hochgewachsen wie ein Basketballspieler und hält ein Schild in die Höhe, auf dem mein Name steht. »Servus, Grüß Gott. Ich bin Gjergji Mihali. Wie war der Flug?«, fragt er in bestem Bayerisch und streckt mir die Hand entgegen. Er spricht Deutsch, mir verschlägt es fast die Sprache. Ich war auf eine Kommunikation mit Händen und Füßen eingestellt, ein paar Brocken Englisch vielleicht. Eine Mundart aus der Heimat hatte ich jedenfalls nicht erwartet. Doch diese Überraschung ist erst der Anfang. Auf meiner Reise durch das Land der Skipetaren werde ich noch öfter die Stirn runzeln, ungläubig staunen, verblüfft sein. Ich mache Urlaub in Albanien und habe eine Privatunterkunft in der Hauptstadt Tirana gebucht. Gjergji ist mein Vermieter. Er nimmt meinen Rollkoffer und geht mit großen Schritten auf den Ausgang des Terminals zu. Der Flughafen in Form eines Walfisches ist eine luftige Konstruktion aus Stahl und Glas, ziemlich modern für ein Land, das fünfzig Jahre lang so etwas wie das Nordkorea Europas war. Der stalinistische Führer Enver Hoxha hatte Albanien während des Kommunismus hermetisch vom Westen abgeschottet: Niemand durfte raus, kaum jemand hinein. Die wenigen Ausländer, die ein Visum erhielten, mussten sich beim Flughafenfrisör einen sozialistischen Kurzhaarschnitt verpassen lassen. Anstelle von Autos holperten damals Pferdekutschen über die Straßen, und der Geheimdienst bespitzelte die Menschen. Er prüfte, ob jemand heimlich Michael Jackson hörte, und wer eine Postkarte mit Andy Warhols Marylin Monroe besaß oder ein Heiligenbild der Jungfrau Maria, lief Gefahr, verhaftet zu werden. Alles Westliche und Religiöse war verboten. Diese Zeiten sind vorbei. Die Grenzen sind offen, und Albanien drängt in die Europäische Union. Doch immer noch ist der Nachbar von Griechenland und Montenegro ein weißer Fleck im Bewusstsein der Welt. Schlagzeilen über Kriminalität, Blutrache und Drogenschmuggel sind nahezu die einzigen Meldungen, die uns erreichen. Ausgerechnet Albanien! Warum fährst du ausgerechnet nach Albanien?, fragten mich Freunde. Kann man da überhaupt Urlaub machen? Ich möchte es herausfinden.
Es ist eine warme Spätsommernacht Ende September. Der Nachthimmel hängt wie ein schweres Tuch über dem Flughafen-Parkplatz. Palmen rascheln leise im Wind, und am Horizont tanzen die Lichter einer Stadt. Gjergji hievt den Koffer in einen japanischen Jeep, der so gepflegt aussieht, als käme er frisch aus der Waschanlage. Am Rückspiegel verströmt ein Duftbaum einen heimeligen Geruch nach Vanille. Der Highway Richtung Tirana ist menschenleer, nur hin und wieder taucht in der kargen Landschaft ein hell erleuchtetes Möbelgeschäft auf. Gjergji erzählt: Er hat in München studiert und ist anschließend zurück in seine Heimat gegangen, in Tirana lebt er im Haus der Eltern. Vor drei Jahren hat sich der Politikwissenschaftler selbständig gemacht und mit einem Freund »Albanian Trip« gegründet. Das Angebot des Unternehmens richtet sich an Individualtouristen oder Backpacker und ist im Internet zu finden, so bin ich darauf gestoßen. Gjergji holt seine Gäste vom Flughafen ab. Er führt sie zu den Sehenswürdigkeiten Tiranas oder begleitet sie an die Albanische Riviera. Er weiß, wo es den besten Cappuccino gibt und nickt geduldig, wenn Touristen immer wieder erstaunt sind, dass Albanien ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt haben. Vor allem vermietet er zimmerweise Privatappartements. Ich zahle zwanzig Euro pro Nacht anstelle von bis zu hundert in einem Hotel und freue mich auf das Gefühl von Alltag in der Fremde, ganz ohne Zimmermädchen oder Frühstücksbuffet.
Nach einer halben Stunde Fahrtzeit erreichen wir das Zentrum. Gjergji nimmt den Fuß vom Gas und biegt in einen Kreisverkehr ein. Das Mondlicht schwappt über einen Platz, den Architekten aus unterschiedlichen Epochen gestaltet haben. Das Opernhaus ist das Werk italienischer Faschisten. Aus kühlem Marmor errichtet, führt eine breite Freitreppe zu einer verglasten Eingangsfront. Die Moschee mit dem Bleistiftminarett stammt von den Osmanen im 19. Jahrhundert. Als schnörkelloser Schichtkuchen ragt das Hotel International in die Dunkelheit, hier sollen sich die Mitglieder des Politbüros in den achtziger Jahren getroffen haben. In der Mitte der Anlage reitet Skanderberg auf seinem Ross, Skanderberg, der sein Land gegen die Türken verteidigt hat. Kerzengerade sitzt der Nationalheld der Albaner auf seinem Pferd aus Bronze, den Blick zu den Bergen gerichtet. Den Sockel umzingeln Absperrgitter. Betonmischer und Kräne schlafen zu seinen Füßen. Das nächtliche Tirana ist eine Theaterkulisse, die auf ihre nächste Vorstellung wartet.
In einer Seitenstraße jenseits des Platzes schachteln sich Wohnhäuser aneinander. Putz blättert von Fassaden, Dächer sind mit Wellblech abgedeckt, und auf Balkonen wachsen Satellitenschüsseln – sonderbare Blumen, die ihre Kelche zum Himmel öffnen. Wie kleine Gespenster wehen Unterhemden und Bettlaken auf Wäschespinnen. Gjergji parkt den Jeep in einem Hinterhof, der so dunkel ist, dass ich auf dem Weg ins Appartement ins Stolpern gerate. Im zweiten Stock stehe ich in einer Mischung aus Villa Kunterbunt, Studenten-WG und Kuriositätenkabinett. Eine rosafarbene Glühbirne strahlt in dem quadratischen Flur von der Decke. Die Dielen glänzen sonnengelb, und in einer Glasvitrine wirkt eine Schreibmaschine wie ein altertümliches Fossil. Mein Zimmer ist eines von dreien und ebenfalls farbig: lindgrüner Bauernschrank, Flickenteppich, am Fenster hängt ein blauer Vorhang. Gjergji erklärt im Badezimmer, wie Dusche und Waschmaschine funktionieren, ich nicke und gähne. Nach acht Stunden Reise würde ich mich am liebsten aufs Bett werfen und schlafen.
Doch die Wohnungsbesichtigung ist noch nicht zu Ende. Aus der Küche dringen Musik und Wortfetzen, bläuliches Licht kriecht unter dem Türspalt hervor. Das muss mein Mitbewohner sein. Ich betrete einen Raum mit gefliestem Boden. Ein Holztisch steht an der Wand, außerdem ein Sofa und ein Gummibaum. Ein etwa fünfzigjähriger Mann sitzt auf einem Plastikstuhl vor einem riesigen Röhrenfernseher. Er trägt Boxershorts und ein ausgeleiertes T-Shirt. Mit den wild vom Kopf abstehenden Haaren und der Nickelbrille könnte er ein Sohn Einsteins sein. Als er mich sieht, räuspert er sich. Eine Begrüßung, so beiläufig, als käme ich vom Einkaufen zurück. Dann blickt er wieder auf eine Art albanisches MTV. Einen Moment lang fühle ich mich wie ein Störenfried. Gjergji stellt drei Becher auf die Edelstahlspüle und bringt auf der Herdplatte Wasser zum Kochen. Plötzlich stellt Einstein den Ton des Fernsehers leiser. Er dreht sich um und mustert mich. Woher ich komme, fragt er auf Englisch. Aus Deutschland. Einstein nickt. Dann beginnt er zu erzählen. Er stammt aus Montenegro und pendelt beruflich alle paar Wochen nach Albanien. Jedes Mal lebt er in diesem Appartement, meistens im selben Zimmer. Er grüßt die Dame aus dem ersten Stock, die morgens die Katzen im Innenhof füttert. Einmal hat er sogar die Kinder der Nachbarin beaufsichtigt. Er hat eine Heimat in der Fremde gefunden. Strahlend lacht er. Gjergji reicht uns Tassen, aus denen Baumwollschnüre von Teebeuteln baumeln. Mirë se vini – Herzlich willkommen in Albanien!, stoßen wir an, Porzellan klackt an Porzellan. Gemütlich ist es, vertraut und entspannt in dieser Wohnküche, tausendfünfhundertvierzig Kilometer von Hamburg entfernt. Aber die albanischen Klischees in meinem Kopf sind eine mächtige Festung. Brauche ich Pfefferspray, wenn ich die Stadt erkunde? Soll ich mich von manchen Vierteln fernhalten? Gjergji seufzt und zieht die Augenbrauen hoch: immer diese Vorurteile! Er geht zum Fenster und lässt den Blick über Ziegeldachhäuser und Plattenbauten schweifen. Der Hausberg von Tirana ist eine schlafende Dogge in der Dunkelheit. Ein paar Sterne beleuchten die aufgetürmten Wolken. »Alles, was du im Moment brauchst, ist ein Regenschirm«, sagt er.
Am nächsten Morgen prasselt der Regen. Er hämmert auf Dächer, rinnt Traufen herunter und klopft an Fensterscheiben. Er übertönt sogar das Fußballspiel, das in einer Bar unter meinem Fenster übertragen wird. Eine wahre Sintflut stürzt vom Himmel. Ich schmeiße den Koffer aufs Bett und durchwühle den Inhalt. Ich habe Tabletten für keimfreies Wasser im Gepäck, Strandbikini, Sonnenmilch, Pullis fürs Gebirge – ich habe an alles gedacht. Aber Regen? Damit habe ich in einer Stadt, die auf der Höhe Neapels liegt, im September nicht gerechnet. Ich finde eine Schirmmütze, klappe den Kragen meines Mantels hoch und wage mich hinaus.
Gjergji wartet überpünktlich vor der Haustür. Er trägt einen beigefarbenen Anorak und hat die Hände in den Taschen vergraben. Als er mich