Wo bist du?: Steiners dritter Fall
By Martin Olden
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"Raffiniert konstruierte Geschichten und famos gestrickte Dialoge" - so beschreibt die "Frankfurter Neue Presse" den Stil von Autor Martin Olden, dem er auch im dritten Fall des hartgesottenen Kommissars Steiner treu bleibt. Ein Stück Gangster-Kino für den Kopf!
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Wo bist du? - Martin Olden
1
Montag, 07. April, 8:30 Uhr
Verbranntes Fleisch. Das Feuer hatte eine Gesichtshälfte weggefressen. Die andere gehörte einem hübschen Mädchen von nicht einmal achtzehn Jahren. Blond, blauäugig, mandelförmige Pupillen, hohe Wangenknochen, Lolita-Lippen. Ein jugendlicher Körper mit schlanker Taille, schmalen Schultern und großen, weichen Brüsten.
Ob sie viele Verehrer hatte? Ging sie gerne tanzen? Hörte sie Pink oder Cro? Träumte sie von der großen Liebe, der sie eines Tages zu begegnen hoffte?
Hauptkommissar Bernd Steiner wusste es nicht. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Wer bist du? Woher kommst du? Los Mädel, verrat mir deine Geheimnisse!
Doch die Blondine lieferte ihm keine Antworten. Sie war eine leblose Hülle, die stumm auf dem kalten Stahltisch des rechtsmedizinischen Instituts lag.
„Beschissene Art, die Woche anzufangen", nuschelte Steiner.
„Meinen Sie das Mädchen oder schwelgen Sie in Selbstmitleid?", fragte Doktor Andrea Lorant.
Steiner sah in die neugierigen Rehkitzaugen der Rechtsmedizinerin.
„Kann Ihnen egal sein", grummelte er.
Sie zuckte mit den Achseln und ließ die Winkel ihres Schmollmunds hängen wie ein beleidigtes Kind, das beim Spielen eine Abfuhr erhalten hatte.
„Machen Sie sich nichts daraus, sagte Hauptkommissar Karol Makourek beschwichtigend zu ihr und wies auf die Tote. „Die Jungen gehen ihm an die Nieren. Da ist er besonders sensibel.
Steiner fauchte: „Schnauze, Karol!"
„Wie Sie sehen, Frau Lorant, ist er ein launenhafter Typ. Deshalb bin ich auch bei ihm ausgezogen und hab mir eine eigene Wohnung gesucht. Seine Stimmungsschwankungen sind heftiger als die meiner Frau." Der Tscheche grinste.
Steiner nahm seinen baumlangen Partner ins Visier. „Lass Ivanka aus dem Spiel. Sei froh, dass du so eine tolle Frau abbekommen hast. Lässt dich hier in Ruhe deinen Kram machen, während sie sich in München um eure Tochter kümmert – und noch dazu arbeiten geht. Bei dem Pensum wärst du doch schon zusammengebrochen!"
„Ein Plädoyer für die Tüchtigkeit der Frau? Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Feminist sind, Herr Kommissar. Sie haben verborgene Seiten", sagte Andrea Lorant neckisch. Sie war wieder in Spiellaune. Die Lachfältchen in ihrem gebräunten, femininen Gesicht verbreiterten sich eine Spur.
„Wenn Sie mich beleidigen wollen, suchen Sie sich einen anderen Zeitpunkt und einen anderen Ort aus, Frau Doktor. Etwas weniger grob fügte Steiner hinzu: „Dann enthülle ich meine sämtlichen Geheimnisse zu Ihrem Vergnügen.
„Ach, wissen Sie, die spannendsten Rätsel haben oft eine enttäuschende Auflösung", meinte sie lässig, während sie von ihrer Stirn eine seidige braune Strähne wischte, die sich aus der Umklammerung eines Haargummis gelöst hatte.
„Das einzige Rätsel, das mich momentan beschäftigt, ist dieses Mädchen, sagte Steiner. „Wie heißt sie? Woher kommt sie? Wer hat sie umgebracht?
Doktor Lorants schmale Finger schlüpften in ein paar Einweghandschuhe. „Leider kann ich keine Ihrer Fragen beantworten. Aber ich kann Ihnen sagen, woran sie starb. Nicht an ihren Verbrennungen. Die wurden ihr post mortem zugefügt. Schauen Sie!"
Sie drehte den Leichnam auf die Seite und zeigte den Kommissaren eine runde, ausgefranste Wunde am Rücken, oberhalb der Nierengegend.
„Eine Einstichspur. Weitere finden sich hier vorne. Sie wies auf die schwarz verkrustete Bauchdecke. „Aufgrund der starken Verbrennungen in diesem Bereich schwer zu erkennen. Aber es sind mindestens fünf Stichverletzungen, zugefügt mit einer Messerklinge. Ich habe Stahlpartikel in den Kontakteintrittswunden gefunden.
„Erstochen also, murmelte Steiner in seinen dichten Schnauzbart. „Und anschließend angezündet, um Spuren zu verwischen.
„Aber nicht sehr gründlich", meinte Makourek.
„Richtig, stimmte Doktor Lorant zu. „Der Täter hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie mit Benzin oder einer anderen leicht entzündbaren Flüssigkeit zu übergießen. Ich konnte nichts davon feststellen. Er hat ihre Kleidung in Brand gesteckt und an den Beinen begonnen. Dort sind die Brandwunden am stärksten. Sehen Sie? Diese Fetzen, die mit der Haut verklebt sind wie zu lang gekochte Nudeln? Das sind Reste einer Leggings.
Steiner fuhr sich durch sein dünnes braunes Haar und stieß einen angewiderten Laut aus. „Ihre Vergleiche sind sehr appetitlich, das muss ich Ihnen lassen. Demnach hat er versucht, sie anzustecken und als er merkte, dass es nicht so gut klappte, hat er das Feuer wieder gelöscht, den Körper in einen Müllsack gesteckt und ihn weggeschafft."
„Wo wurde sie gefunden, sagten sie?", fragte die Rechtsmedizinerin.
„Im Biegwald. In einem Gebüsch. In der Nähe einer Kleingartensiedlung, erklärte Makourek. „Spaziergänger mit Hund haben sie entdeckt. Dachten zuerst, es sei irgendwelcher Abfall. Kein Wunder. Der Wald dort sieht aus wie eine Müllkippe. Alles voll mit Dosen, Flaschen, Essensresten, Brettern, alten Decken, Klamotten und gebrauchten Kondomen. Ein Paradies für Ratten. Da sage noch einer, Ostrava sei die schmutzigste Stadt Europas.
Er lächelte grimmig. „Der Hund hat nicht aufgehört, an dem Sack zu schnüffeln. Da haben seine Leute näher hingesehen – und die blonden Haare erkannt."
„Am Fundort wurde sie nicht getötet, meinte Steiner. „Es gab keine Kampfspuren und niemand hat ein Feuer gesehen. Kollege Rösner verhört noch ein paar Anwohner der Biegwald-Siedlung. Aber die werden auch nichts Brauchbares liefern.
Er ging zu einem grauen Aluminiumtisch, auf dem die Kleidung und die persönliche Habe der Toten verteilt lag. Verkohlte Reste schwarzer Overknee-Stiefel, ein anthrazitfarbener Mini-Rock, ein pinkes T-Shirt. In ihrer roten Handtasche fanden sich weder Ausweis noch Handy. Lediglich Lippenstift, Lidschatten, Tempotaschentücher und zwei Packungen Präservative.
„Erstochen und weggeworfen ... vielleicht gab`s Streit mit einem Lover und dem sind die Sicherungen durchgeknallt", mutmaßte der Kommissar.
„Könnte auch sein, dass sie eine Professionelle war. Bei der Menge an Gummis in ihrer Tasche. Der Straßenstrich auf der Theodor-Heuss-Allee ist nicht weit weg von der Biegwald-Siedlung", schlug Makourek vor.
„So billig sieht sie gar nicht aus", sagte Steiner.
„Na ja, ihre Aufmachung schon", bemerkte Andrea Lorant spitz. Sie registrierte Steiners Blick, der taxierend vom obersten Knopf ihres weißen Polo-Shirts über die Blue Jeans bis zu den khakifarbenen Leinenturnschuhen glitt.
„Es soll junge Damen geben, die sich nicht wie Männer anziehen, Frau Doktor", sagte er.
Sie wollte seinen abfälligen Kommentar erwidern, wurde aber von Makourek unterbrochen.
„In der Klasse meiner Tochter gibt es viele Mädchen, die rumlaufen wie russische Prostituierte. Das ist heute Mode. Kann einem gefallen oder nicht. Ich jedenfalls bedaure manchmal, dass ich nicht mehr zur Schule gehen darf. Er lachte anzüglich. „Im Ernst, Bernd. Das könnte eine Osteuropäerin sein.
„Woher nimmst du denn die Weisheit, großer Meister?, fragte Steiner. „Achtung, Frau Doktor, jetzt bekommen wir von Professor Makourek eine Runde Unterricht in Rassenlehre. Aber denk dran, Karol – die ist seit `45 aus der Mode.
Makourek überhörte den spöttischen Ton seines Kollegen. „Schau dir die Form der Augen an. Den Gesichtsschnitt. Glaub mir, sie sieht osteuropäisch aus. Ich muss das wissen, oder? Sie ist aus Tschechien oder Polen, der Ukraine oder Russland."
„Na, dann fangen wir doch in Russland an zu suchen und arbeiten uns langsam über Polen bis nach Frankfurt durch. Einverstanden?", fragte Steiner gereizt.
Karol Makourek rieb über seine graumelierten Schläfen. „Wäre möglich, dass sie eines von den Mädchen ist, die von der Straße weggefangen werden. Bei uns daheim gab es vor zwei Jahren so einen Fall. In Prag. Eine 16-Jährige feierte in einer Disco ihren Schulabschluss. Als sie um Mitternacht mal rausging, um frische Luft zu schnappen, wurde sie gepackt und in ein Auto gezerrt. Sie bekam ein Tuch vor die Nase, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Erst Stunden später wachte sie auf. In einem kleinen Zimmer, irgendwo in Westfalen. Männer kamen, verprügelten und vergewaltigten sie. Tagelang ging das so. Man nennt das ‚Einreiten‘. Nach ein paar Wochen sind die Mädchen willig, alles zu tun, was ihnen befohlen wird. Man zwingt sie, anschaffen zu gehen. Und wenn sie versuchen auszusteigen, enden sie wie die da."
Steiner betrachtete ihr Gesicht. Jene Hälfte, die nicht von den Flammen entstellt war.
„Die war wirklich noch ein halbes Kind."
„Deutsche Freier sind verrückt auf Minderjährige aus dem Ausland, sagte Makourek. „Wenn sie Sex mit ihnen haben, denken sie, die gehören ihnen und sie können mit denen machen, was sie wollen. Bei einer deutschen Hure trauen sie sich das weniger, weil sie sich besser ausdrücken kann und Grenzen zieht. In Tschechien gibt es in jeder größeren Stadt einen Babystrich. Und tagtäglich siehst du dort Wagen mit deutschen Kennzeichen lang fahren.
Andrea Lorant meldete sich wieder zu Wort. „Unberührt ist sie nicht mehr, das steht fest. Aber ich fand keine Anzeichen für ein Sexualdelikt. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie keinen Geschlechtsverkehr."
„Dann gingen die Geschäfte schlecht ... das heißt, falls sie tatsächlich eine Nutte war", sagte Steiner und zog sein Handy aus der Innentasche seiner braunen Lederjacke. Er richtete das Display auf das Gesicht des Mädchens und schoss ein Foto. Dann wandte er sich an Karol Makourek.
„Geh zum Kollegen Karitschek von der Vermisstenstelle. Kann doch sein, dass sie von irgendwem gesucht wird. Der verrät uns dann, wer sie ist ... beziehungsweise war." Er ging Richtung Ausgang.
„Und was machst du?", rief Makourek.
„Ich überprüfe meine Kontakte im Milieu. Eventuell wissen die was." Steiner nickte Andrea Lorant zum Abschied kurz zu und stieß die Schwingtür des Labors auf.
Makoureks kantige Züge verschoben sich zu einem breiten Grinsen.
„Was freut Sie so?", fragte Doktor Lorant.
„Oh, ich schmunzle weil ... nun ja, Steiners Art, Kontakte im Milieu zu überprüfen ist ... sagen wir mal ... recht befriedigend."
2
Montag, 07. April, 9:10 Uhr
Justin Kramers Hand tastete nach ihr. Doch alles, was sie fand, war die Kühle des Bettlakens. Er öffnete mühsam die Augen. Blinzelte.
„Wo bist du?", murmelte er. Sein Blick fiel auf die leuchtend rote Anzeige des Digitalweckers, der auf einer Holzkommode neben dem Hotelbett stand. Zehn Minuten nach neun. So spät schon, dachte Justin. Er hatte nicht geglaubt, derart lange geschlafen zu haben. Andererseits hatte die vergangene Nacht mit ihr Kraft gekostet, wie er sich erinnerte. Für einen Moment verdrängte ein zufriedenes Lächeln den verkniffenen Ausdruck seines Mundes, der ihm in den Studentenkreisen der Harvard-Universität das Image eines humorlosen Grüblers eingebracht hatte. Justin Kramer sah ein weiteres Mal auf den Wecker und sein Lächeln erlosch so rasch, wie es gekommen war. Neun Uhr elf. Neun – Eins – Eins. Die amerikanische Seite in Kramers Hirn übersetzte die Zahlenfolge als Nine – One – One. Die Notrufnummer der US-Polizei. Aber es war auch die Schreibweise für den elften September. Nine Eleven. Der Tag, an