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Ein ganzer Mann: Über das Leben & Lieben des H. G. Wells
Ein ganzer Mann: Über das Leben & Lieben des H. G. Wells
Ein ganzer Mann: Über das Leben & Lieben des H. G. Wells
Ebook687 pages6 hours

Ein ganzer Mann: Über das Leben & Lieben des H. G. Wells

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About this ebook

Dies ist das neue Buch von Meistererzaäehler David Lodge über das Leben & Lieben des H. G. Wells, dem vormals meistgelesenen Schriftsteller der Welt.

Der alte, kränkelnde Herbert George Wells - H. G. ("Aigee") für seine Freunde und Familie - lebt im Jahr 1944 zurückgezogen in seinem Londoner Stadthaus am Regent's Park und blickt zurück auf sein Leben, seine Bücher, seine Frauen, seine Begegnungen mit den Großen und Mächtigendieser Welt. War dieses Leben nun ein Erfolg? Er war einmal "der Mann, der die Zukunft erfand", jetzt fühlt er sich wie einer von gestern, niedergeschlagen vom Zusammenbruch seiner Visionen. Er erinnert sich an seine hoffnungslose Kindheit, seinen Kampf um eine anstäendige Ausbildung und Anstellung, an seinen sagenhaften Aufstieg zu Erfolg und Ruhm als Schriftsteller von prophetischer Einbildungskraft und an seine Fähigkeit, sich in die Herzen der Leser aller Schichten zu schreiben.

Er erinnert sich an seine Begegnungen mit den bedeutenden Literaten, Intellektuellen und Politikern seiner Zeit, an seinen Sprung in die sozialistische Politik, an seinen Glauben an die freie Liebe und die Energie, danach zu leben. David Lodge enthüllt ein erstaunliches Leben, so genial wie widersprüchlich: Wells war ein Sozialist, der seinen Reichtum genoss und großzügig teilte, ein anerkannter Romancier, der sich vom Roman abwandte, ein feministischer Macho, hochsensibel und unheilbar romantisch, gelegentlich vereinnahmend aber immer mitfühlend und unwiderstehlich.
LanguageDeutsch
Release dateNov 2, 2012
ISBN9783942989190
Ein ganzer Mann: Über das Leben & Lieben des H. G. Wells

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    Ein ganzer Mann - David Lodge

    L.

    TEIL I

    1

    Im Frühjahr 1944 sieht man Hanover Terrace, einer hübschen klassizistischen Häuserreihe am Westrand des Regent’s Park, die Kriegsschäden deutlich an. Ihre cremefarbene Stuckfassade ist seit 1939 nicht renoviert worden und nun schmutzig, rissig und blättert ab. Viele Fenster sind durch Bomben oder Schockwellen der Flak auf Primrose Hill zerstört und mit Brettern vernagelt. Ein Haus am Ende der Reihe ist nach einem Brandbombentreffer nur noch eine verrußte Ruine. Die elegante Arkade an der Vorderseite, eine Art gemeinsame Veranda vor den Haustüren, ist voller Scharten und abgeplatzter Stellen, genau wie die massigen dorischen Säulen, die das Hauptmerkmal des Gebäudes tragen – einen Giebel, der klassische Figuren bei verschiedenen nützlichen und künstlerischen Tätigkeiten einrahmt, von denen zwei den Kopf und verloren haben und eine einen Arm. Die Göttin, die früher mit einer Weltkugel auf der Giebelspitze stand, ist als potenzielle Gefahr entfernt worden, damit sie nicht durch eine Explosion plötzlich herunterfällt; und der gusseiserne Zaun, der in elegantem Schwarz und Gold die Anliegerstraße und ihre Sträucher vom äußeren Rundweg des Parks trennte, wurde schon vor langer Zeit abmontiert und für Munition eingeschmolzen.

    Nur Nr. 13 ist den ganzen Krieg hindurch von seinem Besitzer Mr. H. G. Wells bewohnt worden. Während des Blitz von 1940/41 hat man ihn häufig damit aufgezogen, diese Zahl könne Unglück bringen, worauf er im Einklang mit seiner lebenslangen Verachtung für Aberglauben eine noch größere 13 auf die Wand neben der Haustür malen ließ. Er hat sich standhaft geweigert, aufs Land zu ziehen, und stets gesagt: »Mich wird Hitler (oder in männlicher Gesellschaft »dieser Scheißkerl Hitler«) nicht vertreiben«. Er ist in Hanover Terrace geblieben, während ein Nachbar nach dem anderen eine sichere Zuflucht auf dem Land gesucht hat und die Häuser von Untermietern bezogen wurden oder leer blieben.

    Solange seine Gesundheit es zuließ, setzte H. G. einen Helm auf und nahm an der Feuerbeobachtung auf dem Dach von Hanover Terrace teil, teils aus patriotischem Pflichtgefühl, teils aus Sorge um den Aubusson-Teppich in seinem Wohnzimmer. Es verschaffte ihm auch eine düstere Befriedigung, sozusagen von einem Logenplatz aus das Eintreffen seiner Prophezeiung von 1908 aus dem Roman Der Luftkrieg zu sehen, dass künftige Kriege durch Flugzeuge entschieden und Städte und ihre Bewohner bei Flächenbombardements untergehen würden. Gewiss hatte er irrtümlich angenommen, diese Strategie würde durch riesige Luftschiffe, groß wie Ozeandampfer, verwirklicht werden, statt durch Flugzeuge, aber beim Stand der Luftfahrttechnik von 1908 lag das nicht so fern, und gewiss nicht ein paar Jahre später, als deutsche Zeppeline am Nachthimmel über England erschienen. Penguin Books hielt den Luftkrieg auch in diesem Krieg noch für so aktuell, dass es den Roman 1941 neu auflegte. Er hatte ein kurzes neues Vorwort geschrieben, das mit dem Satz endete, der auch auf seinem Grabstein stehen sollte: »Ich hab es euch gesagt. Ihr verdammten Narren.«

    Feuerbeobachtung ist jetzt zu viel für ihn, aber sie ist auch unnötig. Im Frühjahr 1944 heulen die Sirenen nur noch selten. Der unerwartete Neubeginn der deutschen Nachtangriffe Anfang des Jahres stellte sich als symbolische Vergeltung für das Flächenbombardement deutscher Städte durch die britische und amerikanische Luftwaffe heraus und war bald wieder vorbei. Nun gibt es nur noch gelegentliche Tagesangriffe durch niedrig fliegende Kampfbomber, die unter dem Radar hindurch schlüpfen und selten das Zentrum von London erreichen. Nazideutschland hat andere militärische Sorgen, es leistet dem Vormarsch der russischen Armeen im Osten erbitterten Widerstand und bereitet sich darauf vor, die Invasion des besetzten Frankreich zurückzuwerfen, die wie jeder weiß kurz bevorsteht. London ist wieder sicher, und einer nach dem anderen kommen die Besitzer von Hanover Terrace zurück, um ihr Eigentum wieder zu beanspruchen. H. G. beobachtet das mit einiger Verachtung, er war die ganze Zeit da, hat seine Routine erledigt, seine Bücher geschrieben, Briefe beantwortet, einen täglichen Spaziergang gemacht – über die Straße und in den Park zum Zoo oder zum Rosengarten oder die Baker Street entlang zum Savile Club mit einer Pause in Smith’s Buchhandlung, um ein bisschen zu blättern.

    Vor kurzem hat er diese Ausflüge aufgeben müssen – sogar der Rosengarten ist zu weit. Es geht ihm nicht gut. Er hat keine Kraft. Er hat keinen Appetit. Er steht spät auf und sitzt in einem Sessel im kleinen Salon oder im Wintergarten, einem verglasten Balkon auf der Rückseite des Hauses, mit einer Decke auf den Knien, wo er abwechselnd liest und döst und hochschreckt, wenn sein Buch zu Boden fällt oder seine Schwiegertochter Marjorie, die seit dem Tod seiner Frau seine Sekretärin ist, mit ein paar Briefen kommt, die er beantworten muss, oder auch nur, um zu sehen, ob es ihm gut geht. Abends besucht ihn sein älterer Sohn Gip, Marjories Ehemann, oder Anthony, sein unehelicher Sohn von Rebecca West, der am ersten Tag des Ersten Weltkriegs geboren wurde. Er spürt, wie diese drei Menschen ein- und ausgehen und ihn mit besorgten Mienen mustern. Seit einiger Zeit ist nachts eine Krankenschwester im Haus, jetzt hat sein Arzt Lord Horder empfohlen, es sollte auch am Tag eine da sein. Er fragt sich, ob er bald sterben wird.

    Eines Abends im April ruft Anthony West seine Mutter an. Sie ist in Ibstone House, dem stehengebliebenen Teil eines Regency-Anwesens mit eigener Farm auf dem Land bei High Wycombe, wo sie mit ihrem Ehemann Henry Andrews lebt, einem Bankier und Ökonomen, der jetzt für das Ministerium für wirtschaftliche Kriegführung arbeitet.

    »Ich hab leider schlechte Neuigkeiten«, sagt Anthony. »Horder sagt, H. G. hat Leberkrebs.«

    »Mein Gott! Das ist ja schrecklich. Weiß er es?«

    »Noch nicht.«

    »Du wirst es ihm hoffentlich nicht sagen, oder?«

    »Ich hab mit Gip darüber geredet. Wir meinen, wir sollten es tun.«

    »Aber warum?«

    »H. G. hat immer daran geglaubt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Das hat er oft gesagt.«

    »Es ist eine Sache, das zu sagen …«

    »Ich finde, das sollten wir nicht am Telefon diskutieren, Rac«, sagt Anthony und benutzt den Spitznamen, den sie bekam, als sie Henry heiratete und sie sich Ric und Rac nach zwei französischen Cartoonhunden zu nennen begannen. »Ich wünschte, ich wäre rübergekommen und hätte es dir direkt gesagt.«

    »Weil du dich schrecklich fühlst?«

    »Weil ich dachte, du würdest dich schrecklich fühlen.«

    »Das tu ich ja auch«, antwortet Rebecca etwas aufbrausend. Ihre Gespräche sind oft gespickt mit kleinen indirekten oder vermuteten Vorwürfen und Entgegnungen, die oft zu größeren werden.

    »Ich kann im Moment nicht nach Ibstone«, sagt Anthony. »Wir haben zu wenig Leute in Fernost, und ich hab sehr viel zu tun.« Er ist gerade Redakteur in der Fernostabteilung des BBC-Überseeservice.

    Anthony fasst Horders Prognose zusammen. H. G. bekommt vielleicht noch einen Aufschub, aber wahrscheinlich hat er höchstens noch ein Jahr zu leben. Sie diskutieren wieder, ob man es ihm sagen sollte, bis Rebecca ärgerlich das Gespräch beendet. Sie geht ins Arbeitszimmer und hält es in ihrem Tagebuch fest. Das Ende lautet: »Meine größte Sorge ist, dass Anthony nicht zu sehr von der Nachricht getroffen ist. Ich habe meinen Frieden mit H. G. gemacht. Ich habe die grausamen Dinge nicht vergessen, die er mir angetan hat, aber unsere Zuneigung ist echt und lebendig.« Sie schreibt ihr Tagebuch auch mit Blick auf künftige Biographen, die einmal daraus zitieren werden.

    Anthony ruft Jean an, eine hübsche junge Brünette mit wundervollen Brüsten, die Sekretärin bei der BBC ist und mit der er eine leidenschaftliche Affäre hat, um ihr die Neuigkeiten von seinem Vater zu erzählen. Sie ist mitfühlend, kann seine Gefühle aber nicht völlig nachempfinden, weil sie H. G. nie begegnet ist und weil sie weder ihm noch dem Rest der Familie vorgestellt werden kann, denn Anthony ist mit Kitty verheiratet, die sich um die Familienfarm und die beiden Kinder kümmert, während er bei der BBC arbeitet, und Kitty weiß noch nichts von Jean. Wenn er in London ist, wohnt Anthony in der Remisenwohnung am Ende des Gartens von Hanover Terrace Nr. 13, die in der Familie »bei Mr. Mumford« heißt, nach einem früheren Mieter, der schon lange fort und wahrscheinlich tot ist.

    »Hast du es deiner Frau schon gesagt?«, fragt Jean Anthony mit gesenkter Stimme, damit ihre Mitbewohnerin Phyllis nichts mitbekommt. Ihre Affäre findet fast nur in dieser Wohnung statt, die in bequemer Nähe zur BBC liegt, wenn sie tagsüber mal frei haben und Phyllis arbeitet.

    »Noch nicht.«

    »Und wann?«

    »Ich muss den richtigen Moment abwarten.«

    »Es gibt keinen richtigen Moment. Du musst es einfach tun.«

    »Ich kann nicht, während diese Sache mit H. G. noch so frisch ist.«

    »Tja …«

    »Ich liebe dich, Jean.«

    »Ich liebe dich auch, aber ich hasse diese Heimlichtuerei.«

    »Ich weiß, aber hab Geduld, Liebling.«

    Ein paar Tage später bekommt Rebecca einen Anruf von Marjorie, die sie bittet, H. G. zu besuchen. »Wäre ihm das recht?«, fragt Rebecca. Die Wunden ihrer Trennung 1923 oder ’24 (es war ihnen nie ganz klar, wann sie endgültig war) nach einer stürmischen und leidenschaftlichen Beziehung, die sich über ein Jahrzehnt erstreckt hatte, sind geheilt, und sie sind seit einigen Jahren wieder Freunde, aber dass sie von seiner lebensgefährlichen Krankheit weiß, macht einen Besuch möglicherweise belastend. »Er sagte, er würde Sie gern sehen«, sagt Marjorie. »Dann komme ich. Weiß er von seinem …?« »Ja.«

    Rebecca bringt einen Korb mit Eiern, Butter und Käse von der Farm mit, ein wertvolles Geschenk, das die Haushälterin dankbar annimmt. »Mr. Wells verträgt die Trockeneier nicht mehr, egal was ich damit mache«, sagt sie. »Ein schönes frisches weichgekochtes Ei mag er vielleicht gern.« H. G. hat eine schlechte Nacht gehabt und ist noch nicht so weit, Rebecca bei ihrer Ankunft zu begrüßen, darum wird sie zunächst in den langen Salon im ersten Stock geführt. Sie hat das Haus nie gemocht; es ist vornehm, aber kalt und etwas düster, mit dunkel poliertem Parkett und beigen Wänden, eingerichtet mit unpersönlichem guten Geschmack wie ein teures Hotel. Im Salon liegt ein Aubusson-Teppich, und auf dem Kaminsims steht ein chinesisches Terrakottapferd, aber sie drücken den Wohlstand des Besitzers aus, nicht seine Persönlichkeit. H. G. hatte nie viel visuellen Geschmack, denkt sie. Er war von Funktionalität im Haushalt besessen, aber Dekor war ihm gleichgültig, sehr auf gute Installationen bedacht, aber ein schlechter Beurteiler von Bildern. Dem Haus fehlt die Hand einer Frau – Moura Budberg, seine Geliebte, als er das Haus 1935 pachtete, war so klug, ihn nicht zu heiraten oder mit ihm zusammenzuleben, und sie hat keine Nachfolgerin gehabt. Sogar sein Arbeitszimmer könnte einem Bankdirektor gehören, denkt Rebecca, als sie auf dem Weg zur Toilette den Mahagonischreibtisch sieht, auf dem eine Leselampe mit grünem Schirm über einer schweren Zikkuratbasis steht, daneben ein passendes Schreibzeug und eine ledergebundene Schreibunterlage – bis auf die beiden vom Gebrauch geknitterten und eselsohrigen Pappdeckel links und rechts der Schreibunterlage, die eher Manuskripte als Rechnungen zu enthalten scheinen.

    In der Toilette im Erdgeschoss durchsucht sie ihr fünfzigjähriges Gesicht im Spiegel auf neue Falten und kämmt ihr ergrauendes Haar. Sie frischt den Lippenstift auf, pudert sich die Nase und fährt mit der angeleckten Fingerspitze über die Augenbrauen, wobei sie sich ein bisschen dumm angesichts dieser Eitelkeit vorkommt – aber wenn man einen alten Liebhaber trifft, will man gut aussehen, auch wenn er krank ist und bald stirbt. Sie bemerkt amüsiert Notizbuch und Bleistift auf einem Schränkchen neben dem WC – es war immer H. G.s Gewohnheit, Notizbücher über das ganze Haus zu verstreuen, das er jeweils bewohnte, damit er einen Gedanken notieren konnte, bevor er ihn vergaß. Sie öffnet das Büchlein, aber die Seiten sind leer.

    Das kleine Wohnzimmer, in das sie geführt wird, als H. G. bereit ist, ist gemütlicher als der Salon, aber sie findet ihn bedrückt und deprimiert vor. Er sitzt zusammengesunken in einem Sessel neben einem glimmenden Kaminfeuer, seine kleinen Füße in Slippern schauen unter der Decke auf seinen Beinen hervor. »Ich will wissen, wie lange ich noch zu leben habe«, sagt er klagend, »aber sie wollen es mir nicht sagen. Nicht mal Horder will es mir sagen.«

    »Weil sie es nicht wissen. Du kannst noch Jahre leben, Jaguar.« Vor langer Zeit, als sie ein Liebespaar waren, nannten sie einander »Panther« und »Jaguar« im Bett und in Briefen, und sie meint, der Name werde ihm gefallen, aber zu ihrer Bestürzung deprimiert er ihn nur noch mehr. Eine Träne rinnt aus einem Auge über die Wange und in den inzwischen grauen und ziemlich wuchernden Schnurrbart, mit dem er in besseren Zeiten intime Teile ihres Körpers kitzelte.

    »Ich will nicht sterben, Panther«, sagt er.

    »Das will niemand.«

    »Ich weiß – wir müssen es trotzdem. Natürlich muss man das. Ich schäme mich über mich selbst.« Er setzt sich auf, lächelt, fasst ihre Hand und drückt sie. »Danke, dass du hier bist.«

    »Ich hab dir ein paar Eier von der Farm mitgebracht.«

    »Das ist nett. Und wie geht es dir? Schreibst du etwas?«

    »Nur Artikel. Ich kann mich auf nichts Größeres konzentrieren, solange der Krieg immer weiter geht.«

    »Du hast doch Schwarzes Lamm und grauer Falke während des Blitz fertiggeschrieben.«

    »Ich musste es tun, aber es hat mich völlig erschöpft. Und was ist mit dir, Jaguar?«

    »Oh, ich schiebe Blätter hin und her. Ein paar Sachen liegen auf dem Tisch, aber ich weiß nicht, ob ich etwas davon beende. Jetzt interessiert sich sowieso niemand mehr für mich.«

    »Unsinn«, erwidert Rebecca pflichtschuldig.

    H. G. fragt nach Henry. »Er arbeitet sehr viel im Ministerium an Plänen für den Wiederaufbau nach dem Krieg«, sagte Rebecca. »Es ist sehr beruhigend, ihn zu sehen, wie er den Blick so optimistisch auf die Zukunft richtet, während wir ängstlich in der Gegenwart gefangen sind. Und wie geht es Moura?«

    »Sie ist auf dem Land, bei Tanja.«

    »Hat sie dich besucht seit…?«

    »Seit Horder das Todesurteil gesprochen hat?«

    »Nicht, Jaguar!«

    »Ich habe Gip gesagt, Moura soll noch nichts erfahren. Sie hat sich in letzter Zeit selbst nicht gut gefühlt und ist zu Tanja gefahren, um sich zu erholen. Ich will sie nicht unnötig aufregen.«

    »Ich verstehe.« Rebecca denkt darüber nach, unsicher ob sie sich geschmeichelt fühlen soll, dass sie gerufen wurde, um den niedergeschlagenen H. G. zu trösten, und nicht seine Geliebte – falls Moura das immer noch ist. Das genaue Wesen ihrer Beziehung ist immer rätselhaft geblieben – für H. G. genauso wie für andere, behauptet er.

    »Ehrlich gesagt hatte ich Angst, wenn man ihr sagt, dass ich sterbe, würde sie die Russin rauslassen, wie eine Gorki-Figur, sich mit Brandy betrinken und weinerlich werden, das hätte mich noch mehr deprimiert.«

    »Ich weiß, was du meinst«, sagt Rebecca lächelnd. Moura, Baronin Budberg, wirkt wie eine Figur aus einem russischen Roman, voller melodramatischer, kaum glaublicher Geschichten von Liebe und Abenteuer: dass sie zur Zeit der Revolution von Russland nach Estland über das Eis lief, um zu ihrem ersten Mann und ihren Kindern zu kommen; dass er auf seinem Landgut ermordet wurde und sie später den Baron heiratete, um einen estnischen Pass zu bekommen, dafür seine Spielschulden bezahlte und sich kurz darauf scheiden ließ; dass sie die Geliebte des britischen Spions Robert Bruce Lockhart war und in Verdacht stand, 1918 mit ihm in den Attentatsplan gegen Lenin verwickelt zu sein, aber als Sekretärin von Maxim Gorki Zuflucht fand. Rebecca weiß, dass der letzte Punkt wahr ist, weil H. G. bei einer Russlandreise 1920 Gorki besuchte und ihr beichtete, er habe mit Moura in dessen Wohnung in Petrograd geschlafen, was zu einem ihrer heftigsten Kräche führte. Jahre nachdem ihre Beziehung zu Ende und seine Frau Jane tot war, traf H. G. Moura wieder, kam zu dem Schluss, sie sei seine große Liebe, half ihr, sich in England niederzulassen und versuchte sie vergeblich zur Heirat zu bewegen. Anthony, der Moura mag und ihre Beziehung mit H. G. akzeptiert, hält sie dennoch für eine sowjetische Spionin, und er ist nicht der Einzige. Rebecca weiß nicht, ob sie das glauben soll oder nicht; obwohl Moura früher vielleicht eine Mata Hari war, ist es schwer, die matronenhafte, etwas nachlässig gekleidete fünfzigjährige Frau von heute in dieser Rolle zu sehen. Als offene Kritikerin Sowjetrusslands bleibt sie aber auf vorsichtiger Distanz zu Moura.

    Diese Gedanken und Erinnerungen gehen Rebecca durch den Kopf, während sie mit H. G. über unverfängliche, neutrale Themen plaudert, bis sie merkt, dass ihm die Augen fast zufallen. »Ich will dich nicht ermüden, ich werde mal gehen«, sagt sie. Sie steht auf, beugt sich über ihn und küsst seine Wange. Die Haut ist nicht mehr so weich und straff wie früher, duftet aber immer noch schwach und angenehm nach Walnuss, wie damals, als sie zuerst ein Liebespaar wurden. Somerset Maugham hat sie einmal mit etwas süffisantem Lächeln gefragt, was das Geheimnis von H. G.s sexueller Anziehungskraft sei, ein doppelt so alter Mann wie sie, nicht besonders gutaussehend, nur 1,65 groß und mit einer Neigung zu Korpulenz, und sie antwortete: »Er roch nach Walnüssen und hat wunderbar gerammelt.«

    Als sie das Haus verlässt und bei der Erinnerung an diese Bemerkung lächelt, trifft sie Gip, der gerade ins Haus kommt, und ihr Lächeln verfliegt. Sie wirft ihm und Anthony vor, ihren Vater aufgeregt zu haben, weil sie ihm sagten, er werde bald sterben.

    »Er hat immer wieder gefragt«, erwidert Gip. »Ich will H. G. nicht anlügen. Er hat Frank und mir beigebracht, die Wahrheit zu sagen. Das ist die Grundlage aller Wissenschaft.« Gip lehrt Meeresbiologie am University College London.

    Sie mustern einander mit gegenseitiger Abneigung. Rebecca empfindet fast Übelkeit, wenn sie ihn ansieht, so sehr ähnelt er seiner Mutter, der zierlichen, zurückhaltenden Jane, die ihren Mann trotz seiner vielen Seitensprünge festhielt und in ihm eine unerschütterliche Loyalität erweckte. So sehr sie sich anstrengte, sie konnte H. G. nie dazu bringen, sich von Jane scheiden zu lassen. Natürlich passte es ihm sehr gut, eine Frau zu haben, die sich um sein Wohlergehen kümmerte, seine Freunde bewirtete, seine Manuskripte abtippte und die Einnahmen und Ausgaben regelte, während er immer dann, wenn ihm danach war, mit jeder Frau ins Bett ging, die ihm gefiel, aber keine Frau mit Selbstachtung hätte diese Situation toleriert. Rebecca zweifelte nie daran, wenn Jane H. G. gesagt hätte, er müsse sich zwischen ihnen entscheiden, hätte er sich von Jane scheiden lassen und sie selbst geheiratet. Sie wäre die passende, geistig ebenbürtige Partnerin für ihn gewesen, und eine Menge emotionalen Elends wäre vermieden worden, nicht zuletzt für Anthony.

    »Anthony meinte auch, wir sollten es H. G. sagen«, sagt Gip.

    »Ich weiß, aber ich glaube, es tut ihm jetzt leid. Wenn ich mit ihm telefoniere, klingt er angespannt.«

    »Natürlich ist er betroffen. Anthony hat H. G. sehr gern.«

    »Anthony hat einen umgekehrten Ödipuskomplex«, fährt Rebecca ihn an. »Er wollte seine Mutter umbringen und seinen Vater heiraten, seit er wusste, wer sein Vater war. Weil ich ihn aufziehen musste, gab er mir die Schuld, dass er in ein Internat kam, wo sie auf ihm herumhackten und er einsam und elend war. H. G. war immer ein gottähnlicher Onkel, der ab und zu herabstieg, mit Geschenken im Auto und ihn in Restaurants und Theater mitnahm.«

    »Ja … Das muss schwer für Anthony gewesen sein.«

    »Es war schwer für mich!« Rebecca schreit es fast.

    Allein im kleinen Wohnzimmer starrt H. G. ins Feuer und fragt sich, was die Welt über ihn sagen wird, wenn er stirbt. Die Nachrufe sind natürlich schon geschrieben. Bei seinem Alter und seiner Berühmtheit liegen sie seit Jahren in den Aktenschränken der Redaktionen und werden ab und zu auf den neuesten Stand gebracht, damit sie für den Druck bereit sind, wenn die Zeit kommt. Die Zeit ist etwas eher gekommen, als er 1935 dachte, als er einen humoristischen »Selbstnachruf« für eine BBC-Radioserie schrieb. Er wurde im Listener veröffentlicht und in Zeitungen auf der ganzen Welt nachgedruckt. »Der Name von H. G. Wells, der gestern mit 97 Jahren im Krankenhaus Paddington an Herzversagen verstarb, wird für die Jüngeren wenig bedeuten. Wessen Erinnerung aber bis in die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts zurückreicht und wer die typische Lektüre jener Jahre kannte, wird sich an einige Titel seiner Bücher erinnern und vielleicht sogar auf irgendeinem Speicher einen Band von ihm finden. Er war tatsächlich einer der produktivsten ›Zeilenschinder‹ jener Zeit …« Er stellte sich in den sechziger Jahren als »gebeugte, schäbige und jüngst etwas korpulente Gestalt« dar, die mit einem Stock durch den Regent’s Park schlurfte und dabei mit sich selbst redete. »›Eines Tages‹, hörte man ihn sagen, ›werde ich ein Buch schreiben, ein richtiges Buch.‹« Der Artikel war als Gedankenspiel gedacht und wurde allgemein auch so aufgenommen, eine entwaffnende Übung in Selbstironie, aber inzwischen wirkt er gar nicht mehr so absurd übertrieben.

    Natürlich werden die echten Nachrufe bei ihrem Erscheinen lang und respektvoll sein, seine vielen Verdienste aufführen, seine rund 100 Bücher, seine Tausenden von Artikeln, die Originalität der frühen wissenschaftlichen Romanzen wie Die Zeitmaschine und Der Krieg der Welten, die Kontroversen um seine Darstellung sexueller Beziehungen in Ann Veronica (die Abschweifungen seines eigenen Sexlebens würden diskret verhüllt werden), den warmen Dickens’schen Humor von Romanen wie Kipps und Mr. Polly steigt aus, die bemerkenswerte Treffsicherheit vieler Voraussagen (das Danebenliegen vieler anderer würde man taktvoll verschweigen), den Welterfolg der Geschichte unserer Welt, seine Artikel zur moralischen Ertüchtigung in zwei Weltkriegen, seine vielen Treffen mit führenden Politikern, seine Präsidentschaft des Internationalen PEN-Clubs, sein unermüdliches Eintreten für Wissenschaft, Bildung, die Abschaffung der Armut, Frieden, Menschenrechte, die Weltregierung … Ja, sie haben viel, worüber sie schreiben können. Aber die Artikel werden unvermeidlich einen Abfall zeigen, ein Gefühl von Antiklimax, eine merkbar gelangweilte Oberflächlichkeit bei der Behandlung der letzten 25 Jahre, und sie werden andeuten, dass er in dieser Zeit zu viele Bücher von sinkender Qualität schrieb. Das ganze Gewicht wird auf der ersten Hälfte seines Lebens liegen – bis etwa 1920. Damit endete sein Einfluss laut dem Artikel, den George Orwell vor ein paar Jahren für Horizon geschrieben hat: »Denkende Menschen, die zu Beginn unseres Jahrhunderts geboren wurden, sind in gewissem Sinne Wells’ Schöpfung … Ich bezweifle, ob irgendjemand anders, der zwischen 1900 und 1920 Bücher schrieb, junge Menschen ebenso beeinflusste, zumindest in der englischen Sprache.« Er erinnert sich ohne Schwierigkeit an die Worte, denn er ist oft zu dem Artikel »Wells, Hitler und der Weltstaat« zurückgekehrt, als würde er eine alte, immer noch schmerzende Wunde berühren.

    Aber ist das nicht eine ziemlich beeindruckende Leistung? Eine ganze Generation denkender Menschen geschaffen zu haben …?

    In letzter Zeit hat er diese Stimme öfter gehört, aber als er sich umblickt, ist niemand sonst im Zimmer, darum muss sie in seinem Kopf sein. Manchmal ist die Stimme freundlich, manchmal herausfordernd, manchmal neutral fragend. Sie spricht aus, was er vergessen oder unterdrückt hat, woran er sich gern erinnert, was er lieber vergessen würde, Dinge, von denen er weiß, dass andere sie hinter seinem Rücken sagen, und Dinge, die man wahrscheinlich nach seinem Tod sagen wird, in Biographien und Memoiren und vielleicht sogar in Romanen.

    Darauf kann man doch stolz sein, oder?

    Nicht so, wie Orwell es dargestellt hat. Er sagte, was mich zu einer Art inspiriertem Propheten im edwardianischen Zeitalter machte, mache mich jetzt zu einem seichten, inkonsequenten Denker. Er sagte, seit 1920 hätte ich mein Talent damit vergeudet, Pappdrachen zu erschlagen.

    Wenn ich mich recht erinnere, fügte er hinzu: »Aber wie viel ist es immerhin, wenn man überhaupt Talent zu verschwenden hat.«

    Das war bloß ein Trost, um den Stachel am Schluss noch zu mildern. Er hat es wahrscheinlich bei der Fahnenkorrektur dazugeschrieben, weil er sich erinnerte, dass Eileen Inez und mich zum Essen eingeladen hatte.

    Er hatte Orwell zuerst durch die Romanautorin Inez Holden kennengelernt, die 1941 die Remise bewohnte, und ein paar Tage vor der Einladung gab sie ihm die neueste Ausgabe von Horizon mit dem Aufsatz über ihn und sagte: »Ich glaube, das solltest du bis nächsten Samstag lesen, H. G., weil George annehmen wird, dass du es gesehen hast. Nimm es nicht so schwer – eigentlich bewundert er dich.« Der Artikel hatte ihn getroffen. Er begann mit einem Angriff auf seine frühen Artikel über den Krieg, und es war zugegebenermaßen voreilig gewesen, die deutsche Armee als am Ende zu bezeichnen, kurz bevor sie in Russland einmarschierte, aber viel mehr traf ihn die Behauptung: »Viel von dem, was Wells sich vorgestellt und wofür er gearbeitet hat, ist in Nazideutschland real vorhanden. Die Ordnung, die Planung, die staatliche Förderung der Wissenschaft, der Stahl, der Beton, die Flugzeuge. Alles ist da.«

    Aber sie sind doch da, nicht wahr?

    Ja, aber mit einer völlig anderen Absicht dahinter. Es ist eine Travestie dessen, was ich gefordert und wofür ich gearbeitet habe – wie ich ihm auch bei dem Essen sagte.

    Er hatte Horizon mitgenommen, um über den Artikel zu streiten, und sah sofort, dass Orwell ein eigenes Exemplar hatte und offensichtlich auf ein Duell vorbereitet war. Sie saßen sich am Tisch gegenüber, und er diskutierte den Text Absatz für Absatz mit Orwell, während Inez und Eileen nervös zuhörten und der andere Gast, William Empson, immer betrunkener wurde. Am Ende des Abends stand es etwa unentschieden, aber kurz darauf sagte Orwell im Radio, H. G. Wells nehme an, die Wissenschaft werde die Welt retten, doch es sei viel wahrscheinlicher, dass sie sie zerstören würde. Wütend über diese zweite Attacke schickte er eine Notiz für Orwell an die BBC: »Das sage ich überhaupt nicht, Sie Arschloch. Lesen Sie meine frühen Bücher.«

    Zum Beispiel?

    Zum Beispiel Die Insel des Dr. Moreau. Zum Beispiel Wenn der Schläfer erwacht. Zum Beispiel Der Krieg der Welten. Nicht die Wissenschaft rettet die Erde vor den Marsbewohnern. Es ist der Zufall, dass sie keine Abwehrkräfte gegen irdische Bakterien haben.

    Aber in anderen Büchern behauptest du, dass die Anwendung der Wissenschaft die Welt retten kann.

    Die Anwendung, ja. Der Fortschritt hängt ganz von einer positiven Anwendung der Wissenschaft ab. Aber unsere literarischen Intellektuellen haben nie an diese Möglichkeit geglaubt. Eliot, zum Beispiel, der in jeder anderen Hinsicht das Gegenteil von Orwell ist, stimmt mit ihm darin überein.

    T. S. Eliot hat in einem Artikel im New English Review ein paar freundliche Dinge über dich gesagt.

    Aber der Ton des ganzen Artikels war von oben herab, und am Schluss schrieb er: »Mr. Wells, der alles auf die nahe Zukunft setzt, geht sehr nah am Abgrund der Verzweiflung.« Christen wie Eliot haben von der Menschheit nie etwas Besseres als Blitzkriege und Konzentrationslager erwartet, weil sie an die Ursünde glauben. Also können sie das Ende der Zivilisation mit Gleichmut betrachten, die Füße hochlegen und auf die Wiederkunft Christi warten.

    Warum regen diese Leute dich so auf?

    Er starrt ins Feuer, das unter einem Mantel grauweißer Asche schwach glimmt.

    Weil ich fürchte, sie könnten Recht haben. Ich bin der Verzweiflung nah.

    »Der alte Mann redet wieder mit sich selbst«, sagt die Tagesschwester zur Nachtschwester, als sie abends wechseln.

    »Worüber?«

    »Frag mich nicht. Ich kriege nur ab und zu ein Wort mit. ›Nachruf‹ kommt öfter vor.«

    Brütest du noch über deinen Nachrufen?

    Ich finde, Atheisten mit einer tödlichen Krankheit sollten ihre Nachrufe lesen dürfen. Natürlich vertraulich und ohne das Recht, darauf antworten zu dürfen – außer vielleicht, um sachliche Fehler zu korrigieren.

    Warum bloß Atheisten?

    Wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt, muss eins von den Dingen, auf die man sich freut, die Erkenntnis sein, was die Zeitgenossen wirklich über einen gedacht haben, das Mithören von Gesprächen als Geist, das Mitlesen der Nachrufe über die Schultern der Leute … Es sei denn, alle Zeitungen werden täglich im Himmel geliefert. Oder an dem anderen Ort. Aber wir anderen werden es nie herausfinden. Das ist frustrierend.

    Was willst du herausfinden? Ob man dich für einen großen Schriftsteller hält?

    Mein Gott, nein, den Ehrgeiz habe ich schon lange aufgegeben – habe ihn Henry James und solchen Leuten überlassen. Die Idee der literarischen Größe habe ich doch schon in Boon zertrümmert, weißt du noch? »Der Rückgang in der Produktion von Größe wegen der übergroßen Zahl neuer Schriftsteller und der Vergrößerung des Publikums ist zu stoppen durch die Schaffung eines Adels erblicher Romanautoren, Lyriker und Philosophen … Der Nobelpreis wird ihnen nach Alter verliehen.«

    Und was sonst? Ein großer Denker? Ein großer Visionär? Ein großer Mann?

    Kein großer Irgendwas. Die ganze Idee der Größe ist eine romantische Falle des 19. Jahrhunderts. Sie führt zum Aufstieg von Tyrannen wie Hitler. Wir müssen das Kollektiv höher achten als das Individuum, dem Geist der Menschheit dienen, nicht versuchen, ihm unseren eigenen Willen aufzuzwingen. Ich sage das seit 30 Jahren, aber niemand hat ernsthaft zugehört. Sonst würden wir nicht in diesem Schlamassel stecken, durch den Europa immer mehr in Ruinen fällt.

    Vielleicht geht etwas Gutes aus dem Krieg hervor. Diese Idee einer Organisation namens Vereinte Nationen zum Beispiel – die Nachrufe sollten deinen Beitrag dazu würdigen.

    Schön, wenn es so wäre. Aber es ist noch ein langer Weg zur Weltregierung. Ohne eine Veränderung des kollektiven Denkens wird es ebenso nutzlos sein wie der Völkerbund.

    Kurz nach ihrem Besuch bei H. G. lädt Rebecca Anthony zum Tee in ihrem Londoner Club ein, dem Lansdowne. Sie haben sich einige Zeit nicht gesehen, und sein Äußeres fällt ihr negativ auf. Mit 30 ist er immer noch gutaussehend auf eine massige, fleischige Art, aber heute sehen seine Wangen unnatürlich fett, fast geschwollen aus, und seine Haare, die ihm über die Stirn fallen, müssten gewaschen und geschnitten werden. Seine Kleidung sieht zerknittert und schmuddlig aus, bestimmt weil er so oft abwesend von Zuhause und Kittys häuslicher Fürsorge ist. Als sie auf das Thema H. G. kommen, und ob es richtig sei, ihm von seinem unheilbaren Krebs zu erzählen, kommt seine Rede ihr theatralisch und unaufrichtig vor. Er macht böse Bemerkungen, durch die er und Gip mitfühlend erscheinen sollen, nimmt ihre Hand und sagt: »Ich will dich nicht verletzen, Rac, aber du solltest dich nicht in H. G.s Wohl einmischen. Es ist lange her, seit du der Mittelpunkt seines Lebens warst.« »Das weiß ich sehr gut«, antwortet sie ungehalten. »Ich stehe seit 21 Jahren nicht mehr im Zentrum seines Lebens. Warum machst du so ein Theater?« »Ich meine nur, dass H. G. Gip und Marjorie viel näher steht als dir. Sie müssen entscheiden, was notwendig ist.« »Ich muss aber nicht so tun, als wäre ich ihrer Meinung«, sagt sie. Als sie nach Kitty und den Kindern fragt, blickt Anthony ein wenig zur Seite, als verberge er etwas. Sie wird bald wissen, warum.

    Mitte Mai erhält Rebecca einen kurzen Brief von Kitty, in dem sie schreibt, dass Anthony sie um die Scheidung gebeten hat. »Es kam ganz überraschend. Letzten Sonntag sagte er nach dem Abendessen, als die Kinder im Bett waren, er wäre bei der BBC jemandem begegnet und wolle sie heiraten. Ich sagte: ›Das ist Pech, weil du schon mit mir verheiratet bist.‹ Ich dachte, er macht einen Witz. Aber er meint es ernst.«

    Rebecca ist außer sich. Sie mag und bewundert Kitty, eine begabte Malerin und schöne Frau, die Anthony 1936 auf sehr romantische Art umworben und erobert hat, als er ihr bei der zweiten Begegnung einen Antrag machte und solange hartnäckig blieb, bis sie kapitulierte. Damals erschien es Rebecca als eine von Anthonys typisch impulsiven und grotesken Aktionen, aber diesmal hatte sie ein gutes Ende. Die ältere und viel reifere Kitty überzeugte Anthony, seinen Ehrgeiz als Maler aufzugeben, weil er nie wirklich gut sein würde, und stattdessen Schriftsteller zu werden wie seine Eltern, und obwohl er noch nichts Großes produziert hat, hat er bei Romanrezensionen im New Statesman einiges Talent gezeigt. Sie schienen miteinander glücklich zu sein, vor allem nachdem Anthony seine Haltung zum Krieg klärte, die gespalten war zwischen seinen pazifistischen Prinzipien und dem Wunsch, nicht als Drückeberger zu erscheinen, indem er Milchbauer wurde, eine vom Kriegsdienst freigestellte Tätigkeit. Diese Arbeit liegt ihm erstaunlich gut, genau wie Kitty, aber vor etwa einem Jahr hat er eine Teilzeitstelle bei der BBC angenommen, was ihm als würdigerer Beitrag zur Kriegsanstrengung erschien und jetzt zu dieser dummen Vernarrtheit geführt hat. »Wer ist sie?«, fragt Rebecca Anthony am Telefon, aber er will es ihr nicht sagen. »Ich möchte sie treffen«, sagt Rebecca. »Das geht nicht«, erwidert er. »Es hat nichts mit dir zu tun, Rac. Es ist zwischen Kitty und mir.« »Wie kannst du daran denken, diese beiden wundervollen Kinder zu verlassen?«, fragt Rebecca und denkt an die zweieinhalbjährige Caroline und den einjährigen Edward, die sie vergöttert. »Du wolltest doch, dass H. G. seine Kinder verlässt«, gibt Anthony zurück. Wütend wirft Rebecca den Hörer auf die Gabel und bereut es dann, denn sie hat noch mehr Fragen. Zum Beispiel, weiß H. G. von der neuesten Dummheit seines unehelichen Sohns?

    H. G. weiß tatsächlich davon, weil Anthony es ihm erzählt und dann eine Gardinenpredigt über die Übel der Scheidung anhören muss, die ihn überrascht. »Aber du hast dich auch von deiner ersten Frau scheiden lassen und warst sehr glücklich mit deiner zweiten, glaube ich.« »Das hat nichts damit zu tun«, sagt sein Vater, dessen Stimme zu einem hohen Quieken wird, wie immer, wenn er sich aufregt. »Isabel und ich hatten keine Kinder.« »Kitty und ich werden gemeinsam Zeit mit den Kindern verbringen. Sie ist nicht rachsüchtig. Sie war sehr vernünftig.« »Das ist mehr, als du verdienst«, sagt H. G. »Du bist ein Narr. Ich verstehe dich nicht. Hab ich noch nie.« »Ich bin verliebt.« H. G. schnauft verächtlich. »Ich dachte, ausgerechnet du solltest das verstehen«, sagt Anthony.

    H. G. bleibt stumm, und als Anthony ihn anschaut, sieht er, dass seine Augen geschlossen sind. Ob er schläft oder nur so tut, ist nicht zu sehen, aber er rührt sich nicht, als Anthony die Decke über seinen Füßen zurecht zieht und niedergeschlagen das Zimmer verlässt. In der Küche findet er die Nachtschwester beim Schwatz mit der Haushälterin und sagt ihr, er gehe zurück in Mr. Mumfords Wohnung.

    Er hat wohl nicht ganz Unrecht.

    Was?

    Du hast in deinem Leben mehr als deinen Teil an Liebesaffären gehabt.

    Ich hatte viele Affären. Mit Liebe hatten die meisten nichts zu tun. Soweit es mich betraf – und auch die meisten Frauen – war es ein gegenseitiges Geben und Nehmen von Lust. Die Idee, man müsse so tun, als liebe man eine Frau, um mit ihr zu schlafen, die wir dem Christentum und romantischen Romanen verdanken, ist absurd. Sie hat zu nichts als körperlicher Frustration und emotionalem Elend geführt. Der Wunsch nach Sex ist bei gesunden Männern und Frauen immer vorhanden und muss immer befriedigt werden. Liebe, echte Liebe, ist sehr selten. Wie ich im Experiment in Autobiographie schrieb, habe ich nur drei Frauen geliebt: Isabel, Jane und Moura.

    Hast du Rebecca nicht geliebt?

    Ich war in sie verliebt. Und vor ihr in Amber. Aber das ist eine andere Geschichte. Die gefährlichste von allen.

    Warum gefährlich?

    Man glaubt, man habe endlich die perfekte Partnerin gefunden – Seelen- und Bettgefährtin.

    Was du in der geheimen Fortsetzung der Autobiographie den Liebes-Schatten genannt hast.

    Genau.

    Du hattest Jung gelesen.

    Ja, aber es ist etwas anderes als der Schatten bei ihm. Es ist eine Person, jemand, der alles verkörpert, was einem selbst fehlt, mit dem man die vollkommene Erfüllung finden könnte, von der man immer geträumt hat. Aber wenn man glaubt, man hat sie gefunden, geht der Verstand völlig flöten. Es ist, als hätte man einen Liebestrank getrunken oder sei verhext – wie die Liebenden im Sommernachtstraum. Es ist eine Art Wahnsinn. Wenn Anthony das passiert ist, wird es eine Bruchlandung geben.

    Anthony verlässt das verdunkelte Haus durch die Hintertür und geht mit seiner abgeblendeten Taschenlampe den Weg entlang, wo er den Duft von unsichtbar blühenden Hyazinthen und Alpenveilchen einatmet, bis er die hintere Mauer des Gartens erreicht. Entgegen den Verdunkelungsbestimmungen hebt er die Taschenlampe und beleuchtet den Fries, den H. G. in seinem comic-haften »Pichuas«-Stil mit schwarzen Linien gemalt hat: Aufstieg und Fall der Herren der Schöpfung, eine Reihe von Figuren im Profil von den prähistorischen Monstern bis zu Männern im Zylinder. Darunter steht: »Zeit zu gehen.«

    Eine Tür in der Mauer erinnert Anthony an eine von H. G.s Kurzgeschichten über einen Mann, der in seiner Kindheit auf eine Tür in der Mauer einer anonymen Londoner Straße stößt, die in einen paradiesischen Garten voller Sonnenschein, Blumen und angenehmer Freunde führt, den er für den Rest seines Lebens vergeblich wiederzufinden sucht. Hinter dieser Tür liegt aber kein Paradies – nur Mr. Mumfords Wohnung, etwas klein, renovierungsbedürftig, möbliert mit Resten aus H. G.s Landhaus Easton Glebe in Essex, das Anthony in den zwanziger Jahren immer in den Schulferien besuchte: ein verblichenes Sofa mit einem Riss im Polster, ein Klapptisch, ein drehbares Bücherregal und ein wie eine Trophäe an der Wand aufgehängter alter Hockeyschläger, eine Erinnerung an die vielen wilden Spiele, die der kraftstrotzende H. G. damals für seine Wochenendgäste organisierte. Banale, schäbige Dinge, aber die Besuche in Easton Glebe, die sie heraufbeschwören, erschienen dem unglücklichen Schuljungen damals wirklich wie das Paradies.

    Er ruft Jean an, aber es ist besetzt, wahrscheinlich weil ihre Mitbewohnerin Phyllis endlose Gespräche mit ihrer Mutter führt, wie fast jeden Abend. Er setzt sich auf das verblichene Sofa, nimmt, um die Zeit totzuschlagen, einen dicken Sammelband von H. G.s Kurzgeschichten aus dem Drehregal und schlägt »Die Tür in der Mauer« auf.

    Sie beginnt: »Eines vertraulichen Abends vor kaum drei Monaten erzählte Lionel Wallace mir seine Geschichte.« Lionel Wallace ist ein erfolgreicher vierzigjähriger Politiker, der mit fünf oder sechs Jahren von zu Hause fortlief und sich in den Straßen von West Kensington verlief. Er kam an einer grünen Tür in einer hohen weißen, mit wildem Wein bewachsenen Mauer vorbei, durch die er in einen verwunschenen Garten trat. »Etwas lag dort in der Luft, das beschwingte und einem ein Gefühl von Leichtigkeit und frohen Ereignissen und Wohlbefinden gab; etwas lag in seinem Anblick, das alle Farben rein und vollkommen und zart leuchten ließ. … alles war dort schön …« Zwei freundliche Panther kommen auf den Jungen zu, und einer reibt sein Ohr an seiner Hand und schnurrt dabei wie eine Katze. Ein großes blondes Mädchen hebt ihn hoch und küsst ihn und führt ihn dann durch eine schattige Allee zu einem Palast mit Springbrunnen und vielen schönen Dingen und Spielgefährten, obwohl er sich später nicht erinnern kann, wer sie waren. Natürlich glaubt man ihm seine Geschichte nicht, und er wird fürs Lügen und Weglaufen bestraft. Für den Rest seines Lebens sehnt er sich danach, in den Garten zurückzukehren, aber er kann die Tür in der Mauer nicht wiederfinden, und als er mehrmals zufällig daran vorbeikommt, geht er nicht hindurch, weil er wichtigere Dinge zu tun hat – eine Prüfung für ein Stipendium in Oxford, eine Verabredung mit einer Frau, bei der es um seine Ehre geht, eine wichtige Abstimmung im Parlament. Diese Gelegenheiten sind in jüngster Zeit häufiger geworden. »Dreimal in einem Jahr ist mir die Tür angeboten worden – die Tür zum Frieden, zur Freude, zu einer Schönheit jenseits aller Träume, zu einer Freundlichkeit, die niemand auf Erden kennen kann. Und ich habe sie zurückgewiesen.«

    Als Anthony bis dahin gelesen hat, klingelt das Telefon. Es ist Jean. Er ist ärgerlich, nur ein oder zwei Seiten vor dem Schluss der Geschichte unterbrochen zu werden, den er vergessen hat, und legt nicht denselben zärtlichen Ton in seine Stimme wie sonst, wenn er sie begrüßt.

    »Ist irgendwas, Liebling?«, fragt Jean.

    »Nein, ich steckte nur gerade in einer Erzählung von H. G.«

    »Na, tut mir leid, dass ich störe«, sagt sie ironisch. »Soll ich später nochmal anrufen?«

    »Nein, natürlich nicht. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen durcheinander. Der alte Herr hat mir gerade einen etwas unangenehmen Vortrag gehalten.« Er fasst sein Gespräch mit H. G. für sie zusammen.

    »Der hat ja Nerven, nicht? Nach dem, was du mir erzählt hast, war er selber nicht gerade ein Vorbild an ehelicher Treue.«

    Anthony lacht trocken in sich hinein. »Kann man nicht sagen. Aber als ich ihn daran erinnert habe, mochte er das gar nicht.«

    »Vielleicht sollte ich ihn mal kennenlernen«, sagt Jean. »Wenn er so empfänglich ist, könnte ich ihn vielleicht gewinnen.«

    »Nicht jetzt, Liebling«, erwidert Anthony hastig. »Noch nicht.«

    Nach dem Ende des Gesprächs kehrt er sofort zu der Erzählung zurück, um herauszufinden, was mit Wallace passiert. Ach ja, es fällt ihm wieder ein. Man findet ihn auf dem Boden einer Grube für eine Erweiterung der Londoner U-Bahn, nachdem er durch eine fahrlässig unverschlossene Tür im Bretterzaun gegangen und heruntergestürzt war – zufällig oder wahrscheinlicher absichtlich. »Wir sehen unsere Welt hell und normal, den Bretterzaun und die Grube. Nach unseren Tageslichtbegriffen trat er aus der Sicherheit in Dunkelheit, Gefahr und Tod. Aber sah er es auch so?«

    Unterdessen ist der Gesprächspartner im kleinen Wohnzimmer zum Fragesteller geworden.

    Du hast in deinem Leben nur drei Frauen geliebt, Isabel, Jane und Moura?

    Ja.

    Zwei Ehefrauen und eine Geliebte.

    Nach Janes Tod wollte ich Moura heiraten.

    Aber sie wollte nicht.

    Nein.

    Vielleicht hatte sie Angst, du würdest keinen Sex mehr mit ihr haben, nachdem ihr verheiratet wärt.

    Was meinst du damit.

    Deine beiden Ehen waren doch sexuelle Fehlschläge, nicht wahr?

    Ich würde eher Enttäuschungen sagen als Fehlschläge.

    Isabel hat dich im Bett enttäuscht?

    Ich war ausgehungert nach Sex, als wir heirateten, aber sie konnte es nicht erwidern. Ich war ein unerfahrener Liebhaber, und sie war eine zutiefst konventionelle junge Frau.

    Also hast du recht bald aufregenderen Sex mit anderen Frauen gesucht? Wie mit ihrer kleinen Assistentin?

    Ich habe Ethel Kingsmill nicht gesucht, sie hat die Initiative ergriffen. Aber es zeigte mir, dass es Frauen gab, die dieselben Bedürfnisse hatten wie ich.

    Und ein Jahr später hast du Isabel wegen deiner Studentin Amy Catherine Robbins verlassen, die du seltsamerweise »Jane« nanntest.

    Sie mochte Amy nicht und nannte sich Catherine, was mir nicht gefiel, also suchte ich einen neuen Namen für sie aus.

    Keinen sehr romantischen, nicht wahr? Keine erotischen Assoziationen. »Plain Jane« … Jane Aus-ten …

    Was ist mit Jane Eyre? Sie war recht leidenschaftlich.

    Magst du den Roman?

    Nein, wo du schon fragst. Aber –

    Du hast wegen Jane Isabel verlassen und sie schließlich geheiratet, aber in deiner Autobiographie schreibst du, dass sie im Bett ebenso enttäuschend war. Ist es nicht seltsam, dass du eine sexuell gehemmte Ehefrau gegen eine andere eingetauscht hast? Oscar Wilde hätte gesagt: »Einmal ist Pech, zweimal wirkt wie Unachtsamkeit.«

    Worauf willst du hinaus?

    Vielleicht wolltest du insgeheim, unbewusst, niemals wirklich eine sexuell reife Frau heiraten. Vielleicht kannst du Sex nur ganz genießen, wenn er wild und regellos ist. Vielleicht hat Moura das geahnt.

    Unsinn!

    Wirklich?

    »Er redet wieder mit sich selbst«, sagt Marjorie zu Gip, als er eines Nachmittags in Hanover Terrace vorbeischaut, wie so oft auf dem Heimweg vom University College. Sie führt ihn leise zur Tür des kleinen Wohnzimmers, die einen Spalt offen steht, und er steht ein paar Minuten lauschend im Korridor. Er versteht nicht mehr als ein paar Worte und Sätze, aber der dialogische Rhythmus der Stimme des alten Mannes erinnert ihn an etwas, was sein Bruder Frank als kleines Kind tat.

    »Er hatte einen imaginären Freund, mit dem er geredet hat«, sagt Gip zu Marjorie, als sie wieder in dem Zimmer sind, das ihr als Büro dient. »Ich hab ihm heimlich zugehört, denn wenn er es merkte, war er sofort still. Wenn ihn was beschäftigt hat – zum Beispiel wenn er was angestellt hatte und sich fragte, ob es rauskäme oder ob er es von sich aus sagen sollte –, hat er es mit dem anderen Jungen besprochen und das Für und Wider vertreten. Das war faszinierend. Es war wie ein Hörspiel – obwohl es damals natürlich noch kein Radio gab. Vielleicht tut H. G. jetzt was Ähnliches, aber in der zweiten Kindheit.«

    »Eine interessante Theorie«, sagt Marjorie. »Wir müssen Frank fragen, was er davon hält, wenn er das nächste Mal kommt.« Gips jüngerer Bruder, der Dokumentarfilme macht und jetzt als Beamter ausgebombten Familien Wohnraum zuweist, verbringt viel Zeit mit dem Pendeln von und nach London und kann Hanover Terrace nur gelegentlich besuchen. Die Hauptverantwortung für H. G.s Wohlergehen liegt bei Gip und Marjorie, aber sie beklagen sich nicht. Beide haben ihn sehr gern.

    Ein paar Tage darauf kommt Rebecca erneut zu Besuch und bedauert Anthonys unverantwortliches Verhalten. H. G. sagt, er habe sein Bestes getan, ihn vom Verlassen seiner Familie abzubringen, aber ohne Erfolg.

    »Warum um Himmels Willen kann er nicht mit einer Affäre zufrieden sein wie jeder andere auch?«, beklagt sich Rebecca. »Kitty hätte es nichts ausgemacht, wenn er diskret gewesen wäre, das hat sie mir am Telefon fast ganz offen gesagt.«

    »Ganz meine Meinung«, sagt H. G. »Aber Anthony ist dumm, theatralisch und unreif. Ob das eine Charakterschwäche ist oder von seiner Erziehung kommt, ist schwer zu sagen.«

    »Ich hoffe, du machst mir keine Vorwürfe.«

    »Ich mache mir Vorwürfe, dass es ihn gibt.«

    Beide schweigen einen Augenblick und erinnern sich an die Umstände von Anthonys Zeugung: eine leidenschaftliche Umarmung im Wohnzimmer seiner Wohnung in St James’s Court, seine Hände unter ihren Kleidern, ihre willige Erwiderung … aber ein Dienstmädchen war in der Wohnung, dessen Anwesenheit ihn davon abhielt, sie ins Schlafzimmer zu führen, wo er Kondome hatte, darum machte er weiter und verließ sich auf den Interruptus, verlor im entscheidenden Moment aber die Kontrolle. Beide haben denselben Gedanken. Wie viel Elend, wie viele Jahre des Zorns, der Frustration und der Vorwürfe sind aus diesem kurzen Glücksmoment entstanden! Und gehen immer weiter …

    »Wenn Anthony auf dieser dummen Scheidung besteht, solltest du dein Testament ändern und Kitty etwas Geld hinterlassen«, sagt Rebecca.

    »Daran habe ich auch gedacht. Genug, damit die Kinder gut versorgt sind.«

    »Davon haben sie natürlich keinen Vater.«

    H. G. zuckt die Achseln. »Mehr kann ich nicht tun.«

    Bei der Heimfahrt von Marylebone Station nach High Wycombe in einem stickigen Erster-Klasse-Abteil mit drei älteren Geschäftsleuten mit Bowler-Hüten, die sie von Zeit zu Zeit über den Rand ihrer Zeitungen ansehen, ist Rebecca von Furcht übermannt, dem Gefühl eines Fluchs unzureichender Väter, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Ihr Vater verließ die Familie, als sie acht Jahre alt war, ging wegen eines vagen Geschäftsvorhabens nach Südafrika und verschwand spurlos, weshalb seine Frau ihre drei Töchter mit kärglichen Mitteln aufziehen musste. Dann musste Rebecca Anthony allein aufziehen – zugegebenermaßen mit großzügigerer Unterstützung seines Vaters, aber H. G. blieb auf Distanz und behielt seine Freiheit –, und jetzt will Anthony Kitty mit seinen Kindern alleinlassen. Und was war der Lohn für die Mütter, deren Leben durch diese alleinige Verantwortung eingeschränkt und durchkreuzt wurden? Sie zogen die Ressentiments ihrer Kinder auf sich, das war ihr Lohn. Sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass ihr geliebter Daddy mit einer irgendwie ehrenhaften Erklärung zur Familie zurückkehren würde, wie der Vater in Die Eisenbahnkinder (wie hatte sie über den Schluss des Buches geweint!), bis sie 13 Jahre alt war und sie von seinem Tod erfuhren. Später hörte sie von seiner Mutter, er sei ein unverbesserlicher Weiberheld gewesen, der die Dienstmädchen verführte und zu Prostituierten ging. Im Rückblick ist ihr klar, dass sie als Kind wie als Jugendliche schwierig und ein Störenfried war und stets mit ihren Schwestern stritt und ihre Mutter kritisierte. Anthony war genauso, als er aufwuchs – er bewunderte seinen abwesenden Vater als Held und gab ihr die Schuld für seine unglückliche Schulzeit. Sie kann sich leicht vorstellen, wie die kleinen Catherine und Edward in den kommenden Jahren den gleichen Fehler wiederholen, Anthony vergöttern und Kitty genauso unverdient bestrafen werden, während sie sich müht, sie großzuziehen, sich um den Hof zu kümmern und etwas Zeit für ihre Kunst zu finden. Der Feminismus, für den Rebecca eintrat, seit sie erwachsen ist, hat Frauen sexuell befreit – jedenfalls die mutigeren unter ihnen –, aber er hat nicht das grundlegende Ungleichgewicht im Verhältnis von Mann und Frau beseitigt: den weiblichen Instinkt, den eigenen Nachwuchs zu behüten, und den männlichen, den eigenen Samen großzügig zu verteilen. H. G. ist nur eine intelligentere und erfolgreichere Version ihres Vaters. Sogar Henry hat sie in dieser Hinsicht enttäuscht. Er ist immer freundlich und beschützend, bewundert und unterstützt ihre Arbeit (als sie Schwarzes Lamm und grauer Falke schrieb, hat er sie unermüdlich in schmutzigen Zügen und verlausten Hotels durch Jugoslawien begleitet), hat untadlige Manieren und genug Geld, damit sie stilvoll leben kann, und ist in jeder Hinsicht der perfekte Ehemann, außer dass er sich gern in junge Frauen verguckt und seit 1937 nicht mehr mit ihr geschlafen hat. Als sie eines Nachts im Dunkeln lag, hat sie gefragt: »Warum schläfst du nicht mehr mit mir?«, aber er schlief oder hat so getan. Natürlich hat sie seitdem selbst Liebhaber gehabt, jetzt allerdings keinen. Niedergeschlagen denkt sie, dass ihr Liebesleben vorbei sein könnte.

    Im Juni nimmt der Krieg in England wie in Übersee eine dramatische Wendung. Am 6. Juni beginnt die langerwartete alliierte Invasion Frankreichs – nicht wie erwartet am Pas de Calais, sondern in der Normandie. Die Nation ist von Aufregung und Spannung gepackt und gierig nach jedem Krümel der strikt kontrollierten Nachrichten. Nach ein paar Tagen scheint der Erfolg der Operation festzustehen, die Truppen haben sicher Fuß gefasst, und Verstärkung und Nachschub strömen über die raffinierten schwimmenden Mulberry-Häfen. Bestimmt ist das der Anfang vom Ende des Krieges, obwohl man lange warten musste, seit Churchill die Schlacht von El Alamein das Ende des Anfangs nannte. Als sich die Menschen aber gerade entspannen und feiern, hält Hitler wie der Dämonenkönig in einer Pantomime eine neue Wunderwaffe bereit, um zu zeigen, dass er noch nicht am Ende ist: die von Goebbels so genannte V1, die erste der beiden »Vergeltungswaffen«, die Rache für das alliierte Bombardement deutscher Städte nehmen sollen. (Die V2 kennt noch niemand.) Die V1 ist ein kleines Flugzeug ohne Pilot in unheilverheißendem Schwarz mit einem bombenförmigen Rumpf, der eine Tonne Sprengstoff trägt, und kurzen Stummelflügeln. Sie wird von einem Düsenmotor auf dem Rumpf angetrieben, der wie der Griff eines Bügeleisens aussieht und ein charakteristisches Dröhnen erzeugt, wegen dem die V1 von den Engländern »Brummbombe« genannt wird. Im vorher eingestellten Moment hört das Geräusch auf, und die Rakete fällt herunter. Die Sekunden stummer Spannung, in denen das Herz stehenbleibt, zwischen dem Verstummen des Motors und der Explosion, wenn die Bombe ihr zufälliges Ziel trifft, ist eine neue Quelle der Anspannung für die schwer geprüften Londoner.

    Diese Entwicklung des Luftkriegs hat H. G. nicht vorausgesehen. Die V1 fliegt zu allen Tages- und Nachtzeiten niedrig und schnell, im Dunkeln von ihrer Düsenflamme verraten. Die Flak kann wenig gegen sie ausrichten, und nur die neusten Spitfire- und Typhoon-Maschinen sind schnell genug, um sie abzuschießen oder ihre Tragflächen anzustoßen, so dass sie ins Meer oder auf offenes Land fallen (ein schwieriges Manöver, aber Schüsse riskieren, selbst mit in die Luft zu gehen). Die V1-Offensive beginnt am 13. Juni, und bis Ende des Monats sind rund 2500 gestartet, von denen ein Drittel über dem Kanal und ein Drittel über Südostengland abstürzt oder abgeschossen wird, ein Drittel erreicht London. Im Juli steigt die Zahl. Es scheint, als beginne ein neuer Blitz. Man plant die Evakuierung von Frauen und Kindern aus der Hauptstadt. Die Besitzer von Hanover Terrace verziehen sich wieder aufs Land. Freunde und Bekannte drängen H. G., sich einen sichereren Platz zu suchen, aber er lehnt das verächtlich ab. Die V1-Offensive scheint seine Gesundheit zu stärken. Sein Appetit erholt sich. Er wird beweglicher, geht durchs Haus und macht bei schönem Wetter sogar kurze Spaziergänge im Park.

    Eines Tages kommt Moura ohne Ankündigung zu Besuch und schließt mit dem eigenen Schlüssel auf, also ist es eine Überraschung, eine angenehme sogar, obwohl sie mitgenommen aussieht. Sie ist vormittags von ihrer Tochter, die bei Oxford wohnt, nach London gekommen und hat ihre Wohnung mit zersplitterten Scheiben wegen einer V1-Explosion vorgefunden. Es war ein Schock, sagt sie und bittet um einen Brandy, um sich zu beruhigen. »Lassen Sie die Flasche da«, sagt sie zur Haushälterin und zwinkert H. G. zu. Ihre Aufnahmefähigkeit für Brandy ist legendär. Wenn sie mit ihrem einzigartigen russisch-englischen Akzent »Hanover Terrace« sagt, klingt es wie »Hangover Terrace«, aber er hat sie nie mit einem Kater erlebt – nur die Männer, die am Abend davor versucht haben mitzuhalten. »Warum ziehst du nicht her, bis deine Wohnung wieder bewohnbar ist«, schlägt er vor, aber sie schüttelt den Kopf und gießt sich noch einen Brandy ein. »Nein, ich gehe zurück zu Tanja.« Er nimmt nicht an, dass sie vor den V1 davonläuft. Wenn von den tödlichen Gefahren, die sie angeblich schon überlebt hat, nur die Hälfte wahr ist – nun ja, die Hälfte ist vielleicht der richtige Anteil, also vielleicht ein Viertel – wenn nur ein Viertel der tödlichen Gefahren wahr ist, stehen ihr Mut und ihre Nerven außer Frage. »Du kannst das Gästezimmer haben, solange du willst«, sagt er. Sie droht ihm mit dem Finger. »Aidschi! du willst unser Abkommen brechen.«

    Normalerweise hatte er bei seinen Frauen die Details der »Abkommen«, wie er sie

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