Das Reich Gottes in der Geschichte: Zwischen Befreiungsbotschaft und Machtlegitimation
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Kaum ein anderes Thema hat eine solche soziale und politische Sprengkraft wie die richtig verstandene Botschaft von Gottes Reich, die ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden für alle fordert. Das erklärt, warum diese Botschaft über die Jahrhunderte hinweg häufig spiritualisiert, im Dienst politischer, auch kirchenpolitischer Absichten instrumentalisiert (z. B. Drittes Reich; Kirche als Reich Gottes auf Erden usw.) oder infolge von Einschüchterung durch Machthaber verschwiegen wurde.
Wie klingt die Botschaft vom Reich Gottes im Munde Jesu und wie verändert sie sich in den verschiedenen Epochen seither und bis heute? Diese Fragen klärt der Autor in seinem hervorragenden und gut lesbaren Überblick über das Reich Gottes in der Geschichte.
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Book preview
Das Reich Gottes in der Geschichte - Benedict Thomas Viviano O.P.
ZUM BUCH
Die Botschaft Jesu vom Kommen des Reiches Gottes und die darin enthaltene Forderung für ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit hat eine solche soziale und politische Sprengkraft wie kaum ein anderes Thema der Theologie. So verwundert es nicht, dass sie über die Jahrhunderte hinweg wechselnden Interessen dienen musste: Entweder wurde sie für politische und kirchenpolitische Zwecke instrumentalisiert und manipuliert, oder die Hoffnung auf das Reich Gottes wurde spiritualisiert, ins Jenseits verschoben und ihrer gesellschaftlichen Gestaltungskraft beraubt.
Der Autor schreibt die spannende Chronik einer Idee, die immer wieder in die Geschichte einbricht. Missverstanden zeitigt sie fatale Folgen, bis hin zur völligen Perversion im Dritten Reich. Richtig verstanden ermutigt sie zum Kampf für Gerechtigkeit, eine humane soziale Ordnung und Frieden.
ZUM AUTOR
Benedict Thomas Viviano O. P. Dr. theol., Lic. theol., geboren 1940, lehrte in den USA und an der École Biblique in Jerusalem. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Neues Testament an der Universität Freiburg (Schweiz).
Benedict Thomas Viviano O. P.
Das Reich Gottes in der Geschichte
Zwischen Befreiungsbotschaft und Machtlegitimation
VERLAG FRIEDRICH PUSTET
REGENSBURG
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Kingdom of God in History" (Good News Studies 27) Wilmington, Delaware 1988. Für die deutsche Übersetzung wurde der Text überarbeitet und erweitert.
Übersetzung: Chris Dickinson
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7917-6024-7 (epub)
© 2014 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg
Umschlagbild: Kuppel des Petersdoms in Rom © gettyimages (Thomas Coex)
eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg 2014
Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:
eISBN 978-3-7917-2589-5
Weitere Publikationen aus unserem Verlagsprogramm finden Sie unter www.verlag-pustet.de
Kontakt und Bestellung: verlag@pustet.de
Für meinen Bruder Paul, gest. 1984
Einleitung¹
Den Ansporn für dieses Buch gaben zwei verschiedene Motive. Einerseits wurde mir als Dozent für Neues Testament und insbesondere als Exeget der synoptischen Evangelien schon früh bewusst, dass das zentrale Thema der Verkündigung Jesu das baldige Kommen des Reiches Gottes ist. Zu meiner Verwunderung spielte dieses Thema jedoch kaum eine Rolle in der Systematischen Theologie, die ich im Seminar gelernt hatte. Nach weiteren Forschungen realisierte ich, dass dieses Thema des Reiches Gottes in der Theologie, der Spiritualität und der Liturgie der Kirche in den letzten zweitausend Jahren in vielerlei Hinsicht weitgehend ignoriert oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit verzerrt worden war. Wie konnte dies sein?
Andererseits war ich als verantwortungsvoller christlicher Lehrer bestrebt, die biblische Botschaft mit gegenwärtigen Fragestellungen in Beziehung zu bringen, insbesondere hinsichtlich der wachsenden Sorge der Kirchen um die soziale Gerechtigkeit sowohl in meinem eigenen Land wie auch in Bezug auf die Dritte Welt. Und da realisierte ich ebenfalls, dass die beste neutestamentliche Basis für solche Anliegen gerade die Verkündigung Jesu vom Reich Gottes ist. Kurzum, das Reich Gottes beinhaltet eine explosive Kraft, wenn man es nur richtig versteht!
Hatte die Kirche bewusst versucht, die Botschaft vom Reich Gottes zu unterdrücken, oder wurde diese schlicht falsch verstanden? Ging sie lediglich unter im Durcheinander, als Christen von der Weltuntergangsstimmung der palästinischen Kultur zu einer hellenistisch-stoisch beeinflussten Kultur übergingen; einer Kultur, in der innere Gelassenheit selbst für Sklaven (Epiktet) als höchster Wert verkündet wurde und deren Ziel die Erleuchtung war, die zur Vereinigung mit dem All-Einen in einer glückseligen spirituellen Ewigkeit führt, jenseits dieses Jammertals (hermetische Literatur)? Oder hatte die Kirche einfach ein apokalyptisches burn-out erlitten als Folge von zu vielen zerbrochenen Hoffnungen und bitteren Misserfolgen? (Schließlich widerfuhr den Juden über lange Zeit hinweg etwas Ähnliches.) Überdies kann eine Einschüchterung von Regierungsseite als Faktor nicht ausgeschlossen werden, weder damals noch heute. Wir können beispielsweise leichter verstehen, warum die Pfarrer es versäumten, das Zentrum der christlichen Botschaft zu predigen, wenn wir uns bewusst machen, dass im „katholischen" Österreich bis ins 18. Jahrhundert die Predigtthemen für die Sonntagsgottesdienste durch die Regierungsstelle für Kirchenangelegenheiten festgelegt wurden und dass jedes Buch, das ein Theologieprofessor aus der Universitätsbibliothek auslieh, der Geheimpolizei gemeldet wurde. Derartiges geschieht noch heute in vielen Ländern. Und doch kann Einschüchterung durch die Staatsmacht nicht die ganze Geschichte erklären, wie wir sehen werden. Kurzum, was passierte im Verlauf der Geschichte mit dem Reich Gottes?
Bestrebt, dieser Frage auf den Grund zu gehen, bemerkte ich, dass es keine nennenswerte englischsprachige Literatur zum Thema gab. Es war also Raum da für ein Buch, das die Geschichte der Reich-Gottes-Vorstellung anhand einiger großer repräsentativer Persönlichkeiten erzählt. Eine Auswahl war nötig. Zwangsläufig ist der Autor nicht mit allen Epochen des Christentums gleichermaßen vertraut. Er fühlt sich auch nicht befähigt, ein Kapitel über die Wurzeln des Themas im antiken nahöstlichen Konzept des Königtums zu liefern. Was folgt, ist eine Kombination von biblischer Theologie und Geistesgeschichte, welche, so hoffe ich, auch dazu beiträgt, eine theologische Basis für die christliche Beteiligung im Kampf für die Gerechtigkeit zu liefern.
Im Deutschen liegen zwei Werke vor, die mehr oder weniger die gleiche Geschichte zu erzählen versuchen. Das eine ist von Johannes Weiß, Die Idee des Reiches Gottes in der Theologie, ein Buch von 156 Seiten (1901). Es dient als ein Modell für meine Arbeit. Doch überspringt das Buch den mittelalterlichen Teil der Geschichte und erzählt nicht, was zwischen 1901 und 1984 geschehen ist. Das andere Werk gehört einer gänzlich anderen Größenordnung an. Ernst Staehelin aus Basel verbrachte sein ganzes Leben damit, Interpretationen des Reiches Gottes von den Kirchenvätern bis in die Gegenwart zusammenzutragen. Seine Quellensammlung wurde in sieben stattlichen Bänden unter dem Titel Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi im Zeitraum von 1951 bis 1965 publiziert. Leser, die das Thema weiter verfolgen wollen, finden in diesem ausgiebigen Werk eine wahre Goldgrube.
Im Englischen gibt es zudem ein kurzes Standardwerk, Karl Löwiths Meaning in History. Von einem Berufsphilosophen geschrieben, zeichnet es das Reich-Gottes-Verständnis bei den großen Geschichtsphilosophen nach, vermeidet jedoch die biblische Exegese.
Es existieren darüber hinaus verwandte Werke zur Geschichte des Millenarismus, zu den Christlichen Soziallehren, zum Verhältnis von Kirche und Staat, zur Dogmengeschichte, zur sozialen Umwelt des Frühchristentums, zur Theologie des Landes, zur Christologie und zu den Gleichnissen Jesu. In Church History, Nr. 43 (1974), S. 257–267, versorgt uns John E. Groh mit einem vorzüglichen bibliographischen Überblick.
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der Reich-Gottes-Thematik der Evangelien sowie auf deren Interpretation und einigen Versuchen, dieses Reich in der folgenden Kirchengeschichte zu verwirklichen. Entwicklungen, die seit der Erstausgabe dieses Werks stattgefunden haben – insbesondere der Fall der Mauer 1989 und ihre Folgen – sind in Kapitel 6 für diese Ausgabe neu hinzugefügt worden.
Es ist offensichtlich, dass das Thema des Reiches Gottes von Natur aus umfangreich ist und daher nur schwer eingegrenzt werden kann. Nur die Wichtigkeit des Themas berechtigt zu dem Versuch.
Das Werk ist an eine Leserschaft gerichtet, die sich aus Theologiestudierenden und anderen Lesern mit einem Minimum an theologischer Bildung zusammensetzt.
Den folgenden Menschen möchte ich gerne für die Gelegenheit danken, einige Ideen aus diesem Buch zur Diskussion vorgelegt haben zu dürfen: das Seminar der Universität Dubuque, das Seminar in Wartburg, das Aquinas Institute, die Studiengruppen der Priester der Erzdiözese von Denver und St. Louis, die New England Provinz der Assumpsionisten und die Kommission für soziale Gerechtigkeit der Dominikaner in Nordamerika unter der herausragenden Leitung von Edward van Merrienboer. Auch möchte ich dem Herausgeber des Thomist für die Erlaubnis danken, Material aus dem dritten Kapitel nachzudrucken. Im Besonderen danke ich Nancy Hardesty, die das Manuskript getippt hat.
Wien, am Fest des hl. Thomas von Aquin Benedict Thomas Viviano O. P.
I. Das Reich Gottes in der Verkündigung Jesu
Es wird oft behauptet, die prophetischen Bücher des Alten Testaments böten eine bessere Basis für soziale Gerechtigkeit als der Großteil des Neuen Testaments. Auf den ersten Blick scheint dies zuzutreffen. Paulus ist um das Innenleben seiner jungen Gemeinden besorgt, welche er mit dem Leib Christi identifiziert. Auch Johannes scheint hauptsächlich darum bemüht, seine Brüder zu lieben, und begnügt sich offensichtlich damit, den Rest der Welt zu ignorieren bzw. zu verurteilen. Das Buch der Offenbarung verurteilt zwar den Staat als dämonisch, ist jedoch zu weit vom allgemein akzeptierten Zentrum des Neuen Testaments entfernt, um als Fundament einer neutestamentlichen Ethik fungieren zu können. Die anfangs ausgeführte Behauptung würde weiter bestehen, wäre da nicht das zentrale Thema der Verkündigung Jesu – das Reich Gottes.
Beginnen wir mit einigen Statistiken. Das Wort basileia (Reich) erscheint im gesamten Neuen Testament 162-mal, davon 121-mal in den synoptischen Evangelien. Die Formel basileia tou theou / ton ouranon (Reich Gottes / der Himmel) kommt bei den Synoptikern 104-mal vor: 51-mal bei Matthäus, 14-mal bei Markus, 39-mal bei Lukas. Diese häufige Verwendung sowie der Inhalt rechtfertigen, die Formel als theologisches Thema zu betrachten.
Das Reich Gottes in den frühen Schichten der Evangelien
Wenn wir uns nun einem einzelnen Evangelium zuwenden, dem Markusevangelium, können wir uns leicht ein Bild von der Art und Weise machen, wie Jesus den Begriff des Reiches Gottes verwendete. Es ist das Thema seiner ersten öffentlichen Predigt:
„Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium" (Mk 1,14–15).
Das Reich Gottes ist Inhalt und Zweck der Gleichnisse (Mk 4,11.26.30). Es ist das Ziel im Tod und der Beweggrund für ethisches Handeln (9,1.47). Man muss sich dem Reich Gottes wie ein Kind nähern; es ist weit weg von den Reichen (10,14–15.23–25). Jemand, der um das höchste Gebot der Liebe weiß, ist ihm nahe (12,34). Die Eucharistie ist dessen Vorwegnahme und Erwartung (14,25). Der Mann, der sich um den Leichnam Jesu sorgt, ist auf der Suche nach dem Reich (15,43). Kurzum kann man sagen, dass das Reich Gottes der endgültige Horizont der Verkündigung Jesu ist – endgültig sowohl im Sinne des Wertes als auch der Zeit und der Ewigkeit.
Was bedeutet der Ausdruck Reich Gottes in der Verkündigung Jesu? Er gibt nirgendwo eine Definition dafür, und so bleibt zwangsläufig ein Rest von Unsicherheit oder gar Rätselhaftigkeit (Mk 4,11), da Jesus es vorzog, darüber in Gleichnissen zu sprechen. Und doch bleiben wir nicht gänzlich ohne Hilfsmittel. Wir müssen das Alte Testament sowie jüdisch-apokalyptische, rabbinische und targumische Literatur und einen einzigen, aussagekräftigen Vers des Paulus als Hilfe beiziehen. Aber zuerst sollten wir einen genaueren Blick auf die programmatischen Verse Markus 1,14–15 werfen.
Markus 1,14 beinhaltet zwei Aussagen. Der Vers beginnt mit einem deutlichen Zeitbezug („nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte") und bezeichnet die Verkündigung Jesu als Evangelium Gottes. Diese beiden Aussagen dienen dann als Rahmen für den nächsten Vers. „Die Zeit (kairos) ist erfüllt" deutet darauf hin, dass ein bedeutender Wendepunkt in der sich entfaltenden Heilsgeschichte erreicht worden ist, ein besonderer Moment, der einen neuen Äon einführt.
Hinter dieser Überzeugung liegt die jüdisch-apokalyptische Vorstellung, dass die Geschichte nicht lediglich eine endlose Wiederholung immer gleicher Abläufe darstellt, sondern einen unter Gottes Führung ablaufenden, zielgerichteten Prozess. Die Geschichte durchläuft verschiedene Stadien oder Äonen. Diese werden unterschiedlich gezählt, doch ist eine Periodisierung mit sechs Zeitaltern üblich: von Adam bis Abraham, von Abraham bis Mose, von Mose bis David, von David bis zum Exil, vom Exil bis zum Messias, dessen Kommen das letzte Zeitalter einleitet. Eine alternative Unterteilung basiert auf der Abfolge von Weltreichen: Assyrien, Babylonien, Persien, Griechenland, Rom. (Diese Aufzählungen variieren je nach Autor. Der gemeinsame Nenner ist dabei jeweils, dass die Geschichte sich auf ein Ziel hin bewegt, und dass dieser Prozess sich unter Gottes Fürsorge und Führung abspielt; in anderen Worten, die Geschichte ist nicht rein zufällig oder zyklisch; sie ist nicht sinnlos.)²
Gemäß Markus 1,15a sind die Menschen nun bereit für ein neues Stadium, da die Zeit „erfüllt" ist. Gott ist bereit, denn die Voraussetzungen sind nun gegeben (vgl. Gal 4,4). Dieses neue Stadium wird eingeleitet durch die Festnahme Johannes des Täufers und durch das öffentliche Wirken Jesu. Der Vers endet (15b) mit einem Aufruf, an das Evangelium zu glauben. Somit sind die Verkündigung Jesu und die Ankunft des neuen Zeitalters nichts Sichtbares, sondern eine Sache des Glaubens (unter Beimischung einer guten Portion Hoffnung), und die angemessene Reaktion eines Menschen ist es, darauf zu vertrauen.
Wenden wir uns nun dem Kern des Verses zu: „[D]as Reich Gottes ist nahe. Kehrt um." Jesus spricht über den neuen Äon als eine Zeit, in welcher der gerechte und heilige Gott Israels so vollends auf Erden regieren wird, dass dieser neue Äon schlicht Reich / Herrschaft Gottes genannt werden kann. Sein Wille zur Gerechtigkeit und Heiligkeit wird in diesem Zeitalter auf Erden so vollumfänglich verwirklicht sein wie im Himmel. Mit dieser Tat Gottes konfrontiert, wird der Mensch mit Reue über begangenes Unrecht und einer neuen Hinwendung zum Willen Gottes antworten.
Ein Problem bleibt bestehen, nämlich die Interpretation der Zeitform des Verbs „ist nahe" (im Griechischen ein Wort: eggiken, von eggizo). Die Übersetzung ist bewusst unklar formuliert. Wenn man das Verb weiter analysiert, kann man auf zwei ziemlich verschiedene Übersetzungen kommen: (1) Das Reich Gottes ist gekommen, sprich, es ist bereits da. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Perfekt des Verbs sich auf eine vergangene Handlung mit anhaltender Auswirkung auf die Gegenwart bezieht. Dies ist die Leseart von C. H. Dodd.³ (2) Das Reich Gottes kommt, d. h. es ist schon nahe, aber es hat noch nicht begonnen. Es wird in der nahen Zukunft erst kommen. Diese Auffassung (von J. Weiß und A. Schweitzer)⁴ geht ebenfalls davon aus, dass das Perfekt des Verbs sich auf eine vergangene Handlung mit anhaltender Auswirkung auf die Gegenwart bezieht, doch die besagte vergangene Handlung tritt nicht ein, sondern nähert sich lediglich an. Dies ist die wirkliche Bedeutung des Verbs eggizo. Dodd kann seinen Standpunkt nur durch einen Verweis auf Matthäus 12,28 und die Parallelstelle bei Lukas 11,20 verteidigen: „[W]enn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen (ephthasen)". Hier steht das Verb phthano, nicht eggizo, und phthano bedeutet tatsächlich kommen.
Wir sind hier mit einer echten Schwierigkeit konfrontiert, doch ist sie nicht unüberwindbar. Das Verb in Markus 1,15 bedeutet tatsächlich „ist nahe, nicht hingegen „ist angekommen
. Dass diese auf die Zukunft bezogene Erwartung das dominante Motiv der Verkündigung Jesu ist, wird im Folgenden deutlicher werden. Vorläufig beziehen wir uns auf den allgemeinen apokalyptischen Rahmen und Hintergrund dieses Verses, der bereits dargelegt wurde, sowie auf das Gebet, das Jesus seine Jünger zu beten gelehrt hatte. Dort (Mt 6,10) werden wir unterwiesen zu beten: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe", d. h. wir bitten, dass zukünftiger Segen kommen möge. Was ist nun mit Matthäus 12,28? Die gängige Erklärung, die dem Verfasser zufriedenstellend scheint, ist die folgende: Im Kontext dieses Verses – eine Dämonenaustreibung – sagt Jesus, seine Wundertätigkeit sei ein Zeichen dafür, dass Gott innerhalb der Geschichte kraftvoll am Werke sei; dass Gott eine neue Epoche anbrechen lasse, deren erklärtes Ziel das Reich Gottes ist – ein Reich, dass als Saat, Symbol und Person in Jesus gegenwärtig ist, obwohl die volle soziopolitische Umsetzung noch aussteht. Folglich haben J. Weiß und seine Anhänger in der Behauptung Recht, dass der grundlegende zeitliche Verweis der Botschaft über das Reich Gottes zukünftig ist, wie auch im programmatischen Vers Markus 1,15, dass Jesus jedoch dessen Gegenwärtigkeit im Zeichen und der Vorwegnahme gelegentlich wahrnimmt.
Obwohl im Alten Testament der Ausdruck „Reich Gottes nicht vorkommt (mit Ausnahme von Weish 10,10), findet man darin durchgehend die grundlegende Überzeugung, dass der Gott Israels König ist. Diese göttlich-königliche Herrschaft bedeutet, dass er Herr seiner Schöpfung ist, dass er in seiner uneingeschränkten Freiheit ein bestimmtes Volk aus der Menschheit heraus erwählt hat, um mit ihm einen Bund zu schließen, wie es die Israeliten von den orientalischen Herrschern her kannten. Als göttlicher Herrscher ist er gerecht und sorgt für endgültige Gerechtigkeit; wen er auserwählt hat, muss ihm nicht nur durch Opferkulte oder poetische Loblieder dienen, sondern durch eine Gerechtigkeit, die der seinen entspricht. Dies ist die Botschaft der Propheten und des Gesetzes Israels. Im Buch Deuteronomium erhalten die Richter Israels folgenden Auftrag: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen
(Dtn 16,20). In der frühen Apokalyptik wird diese göttliche Herrschaft auf den Menschensohn übertragen, der sie zur Erde bringen und dort umsetzen soll (Dan 7,13–14) – diese Vision war bestimmend für das Handeln