Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Vom Tanz der Pierrots
Vom Tanz der Pierrots
Vom Tanz der Pierrots
Ebook378 pages5 hours

Vom Tanz der Pierrots

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Nach einem nicht ganz freiwilligen One-night-stand wird Lea aus ihrer bequemen, langjährigen Beziehung herauskatapultiert. Sie zieht in eine Kleinstadt, die trostloser nicht sein kann. Nur ihre verheiratete Kollegin Lilia bringt Farbe in den Alltag, und nach einiger Zeit mangelt es auch an Erotik nicht. Allerdings scheinen die beiden zunächst doch nicht füreinander geschaffen - oder müssen sie erst einmal auseinandergehen, um schließlich zueinander zu finden?
LanguageDeutsch
Publisherédition eles
Release dateApr 29, 2013
ISBN9783956090608
Vom Tanz der Pierrots

Read more from Toni Lucas

Related to Vom Tanz der Pierrots

Related ebooks

Lesbian Fiction For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Vom Tanz der Pierrots

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Vom Tanz der Pierrots - Toni Lucas

    978-3-95609-060-8

    Ich musste weg, einfach nur weg. Raus aus meinem Leben, am besten sogar raus aus meiner Haut. Ich stand vor den Scherben meiner Existenz und war angeblich auch noch selbst schuld daran. Helen, mit der ich mehr als sechs Jahre zusammengelebt hatte, hatte mich mir nichts dir nichts vor die Tür gesetzt, meine Habe fein säuberlich in Kartons verpackt. Zumindest war ihr Ordnungstick einmal für etwas gut.

    Dass sie aber auch gleich so ausrasten musste. Ausgerechnet Helen, die einem Flirt grundsätzlich nie abgeneigt war. Sie nannte es dezent »Meine Blicke schweifen lassen«. Nichts anderes hatte ich auch getan. Leider waren meine Blicke, und nicht nur die, hängengeblieben. Für Helens Geschmack offensichtlich ein bisschen zu lange.

    Zu meiner Verteidigung kann ich anführen, dass mich lange keine Frau mehr derart angebaggert hatte wie jener corpus delicti. Dabei mag ich blond eigentlich grundsätzlich nicht, und Whiskey vertrage ich sowieso ausnehmend schlecht. Konnte ich denn ahnen, dass sich ausgerechnet die Frau meines Chefs in unserer Stammkneipe amüsieren wollte?!

    An sich begann der Abend recht harmlos. Ich hing im Les Mesdemoiselles herum, meine holde Liebste amüsierte sich derweilen auf einem Zahnärztekongress. Der war zwar mit Anhang, aber in Kittelkreisen schien ich noch nicht mal als Anhang existieren zu dürfen. Allerdings konnte ich mich gar nicht offiziell darüber beschweren, galt ich doch an meiner Schule immer noch als die »junge« Kollegin – und das mit fünfunddreißig –, die kaum über ihr Privatleben sprach, anscheinend weil sie keines hatte. Ich war also auch nicht gerade eine Expertin in Sachen Outing am Arbeitsplatz.

    Trotzdem wurmte es mich, dass Helen ausgerechnet diesen Abend sausen ließ. Ich hatte doch tatsächlich Karten für die Oper ergattert, noch dazu in der Prinzessinnenloge. Rote Samtvorhänge, nur Platz für zwei, Champagner und . . . seufz. Es hätte wirklich romantisch werden können.

    Missmutig hing ich am Tresen, blubberte grantig in mein Rotweinglas und beobachtete die Anwesenden. Irgendwie schienen alle einschlägigen Bars einen fast inzestuösen Charakter zu haben. Jede kannte jede. Jede schien schon mal was mit einer der anderen gehabt zu haben oder kannte doch zumindest eine von denen, mit der die andere im Bett gewesen war. Neuzugänge wurden gierig beäugt, und Scharen von Beziehungssüchtigen stürzten sich auf sie.

    Was für ein Glück, dass ich nicht mehr auf der Suche war. Seither saß ich hier viel entspannter. Knurr. Was Helen bloß immer an diesen dentalfixierten Häppchenvertilgern fand. Apropos Neuzugänge – heute gab es hier auffällig viele Damen um die Vierzig.

    »Auch allein hier?«

    Wow, auf so eine Anmache wäre ich ja nie gekommen. Wie originell. Sah ich etwa aus, als wäre ich mit meinem imaginären Freund Harvey hier?

    Ich drehte mich in Richtung Stimme und wollte deren Besitzerin gerade mit Sarkasmus erschlagen, als ich mitten in der Bewegung innehielt. Oh, lecker. Ich schob mir meine obligatorische Schiebermütze aus der Stirn, um freie Sicht zu haben. Tolle Auslage. Appetitlich wölbten sich mir zwei recht ansehnliche Brüste im hautengen Shirt entgegen. Da sage mal einer was gegen Push-Ups.

    »Bist du auch das erste Mal hier?«

    »Ähhmm, wie bitte?«

    Vielleicht sollte ich Frauen grundsätzlich doch zuerst ins Gesicht schauen. Das würde die Konversation unheimlich erleichtern. Das hier jedenfalls sah gar nicht so übel aus. Fein geschnittene, sehr weibliche, wenn auch nicht mehr ganz junge Züge, umrahmt von irrsinnig schräg geschnittener blonder Seide.

    Lausbübisch grinste es mir entgegen. »Ich bin Nina, hallo.«

    Aha, und was jetzt? Immer noch ein Auge in ihrem üppigen Ausschnitt brachte ich »Lea, hi« hervor.

    »Trinkst du was mit mir?«

    Nun ja, mein Glas war leer und die Aussicht nicht schlecht, warum also nicht. Im Handumdrehen stand ein doppelter Whiskey vor mir. Nicht der letzte, wie sich bald zeigen sollte. Nina hatte offensichtlich die Fähigkeit, gleichzeitig zu reden und zu trinken, bestens kultiviert. Noch dazu schien sie intelligent und witzig zu sein. Ich fühlte mich ein wenig wie bei einer intellektuellen Frischzellenkur, die noch dadurch aufgepeppt wurde, dass sich Ninas Hand rein zufällig mal auf meiner Hand, auf meinem Arm und schließlich auf meinem Knie auf dem Weg nach oben befand. Mein Gott, war mir heiß. Der wievielte Whiskey war das jetzt eigentlich?

    Als ich später, sehr viel später, mit leichten Gleichgewichtsstörungen von der Toilette zurückkam, fing Nina mich mit einem verheißungsvollen Lächeln im Flur ab und legte mir eine Hand um die Taille, die andere auf die linke Brust. »Da bist du ja endlich, ich habe dich schon vermisst!« Sie erschien mir reichlich anschmiegsam. Fast ein wenig zu sehr.

    Mit leichten Schwierigkeiten, aber doch leidlich deutlich brachte ich hervor: »Was heißt denn hier ›endlich‹? Schließlich war ich keine zehn Minuten weg!«

    Nicht, dass es mir ums Prinzip gegangen wäre, aber ich hatte so Zeit gewonnen, meine Hände ebenfalls strategisch günstig zu platzieren. Nina fühlte sich ausgesprochen gut an. So einen klitzekleinen Genuss durfte man sich ja wohl noch gönnen. Es schien sie auch nicht weiter zu stören, flüsterte sie mir doch samtig ins Ohr: »Jede Minute ist zu viel, wenn du mich fragst. Wann trifft man schon mal eine Frau wie dich!«

    Huh, jetzt trug sie aber dick auf. Aber irgendwie machte mich das an. Gänsehaut breitete sich vom rechten Ohrläppchen bis hinunter zum Knöchel aus. Ich griente Nina herausfordernd an. »Kannst du das vielleicht ein bisschen genauer erklären?«

    Wieder dieses sinnliche Lächeln. »Aber sicher doch.«

    Und wie sie konnte. Ehe ich’s mich versah, landete ich an der Wand und hatte ihre Zunge am Gaumen und ihre Hand unterm Hemd. Oh ja, ich wusste schon, weshalb ich besonders Frauen ab vierzig mochte. Diese hier schien wirklich Feuer zu haben.

    Als mir gerade noch ein bisschen heißer wurde, als gut für mein logisches Denken war, hörte ich ein wenig wie durch dichten Nebel: »Können wir zu dir gehen?«

    Mein whiskeygebadetes Hirn sah sich nicht mehr in der Lage, irgendwelche Warnsignale abzusondern. Klar, Helen kam erst am nächsten Tag wieder, das Bett war frisch bezogen, die Frau ausgesprochen heiß – war ich eigentlich noch ganz bei mir?

    Diese Frage dämmerte mir allerdings erst wesentlich später, leider zu spät. »Nichts, was ich lieber täte!«

    Hatte ich diesen Satz wirklich gesagt? Musste ich wohl, denn knutschend und jeden Hauseingang nutzend, zogen Nina und ich wenige Minuten später die zwei Straßen weiter zu meiner Wohnung. Ich hatte diverse Schwierigkeiten, die Tür aufzuschließen, Nina auszuziehen, gelang mir da wesentlich schneller, sogar der Push-Up leistete keinen nennenswerten Widerstand.

    Der Sex war dann auch erste Klasse. Diese Frau war wirklich heiß! Sie musste schon lange auf Entzug gewesen sein. Na ja, sie schien mir ein bisschen ungeschickt, aber das schob ich auf den Alkohol.

    Nach Luft ringend lagen wir nebeneinander, und Nina sagte mit anerkennendem und einem etwas erstaunten Blick zu mir: »Das war richtig gut. Hätte ich gar nicht gedacht.«

    Wie hatte ich das denn bitte zu verstehen? Auf meine diesbezügliche Frage lächelte Nina jedoch nur sibyllinisch, drehte mit fast abwesendem Blick in meinem Fransenhaar herum und streichelte mich dann beinahe andächtig.

    Inzwischen war ich fast schon wieder nüchtern geworden. Körperliche Betätigung hilft mir dabei immer ungemein. Ich besah mir das verwüstete Ehebett, linste hinüber zu unserer Kleiderspur, die offensichtlich nicht an der Schlafzimmertür endete, und mir wurde ganz mulmig zumute. Oh Gott, oh Gott. Was hatte ich bloß angestellt!

    »Nina, hör mal, könnten wir das hier für uns behalten?« Meine Hand fuhr fast entschuldigend über ihren Körper.

    Erschrocken zuckte sie zusammen, sah auf die Uhr und murmelte hastig: »Klar, kein Problem.« Kühl fügte sie hinzu: »Du, ich muss jetzt sowieso gehen. Dank dir. Wir sehen uns.«

    Na, das musste ja nun wirklich nicht sein. Ich würde froh sein, wenn Helen wieder da war und sie nichts merken würde. Uh, da stand mir noch etwas bevor.

    Plötzlich, Nina wollte gerade das Bett verlassen, flog mit einem Schlag die Schlafzimmertür auf. Im Rahmen tauchte Helen wie eine Rachegöttin auf.

    »Helen, was machst du denn hier?« Züchtig raffte ich die Decke über Nina und mich. Was für eine peinliche Szene, wie aus einem Kitschroman.

    »Das frage ich dich!« fauchte es zurück.

    Ich deutete zu der männlichen Furie, die nun ebenfalls aus dem Schatten des Flurs auftauchte. »Und der da?«

    »Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen draußen warten?« Helen schwang herum wie eine Amazone auf dem Kriegspfad.

    Plötzlich fror mein Arm mitten in der Bewegung ein. Meine Augen hatten gerade meinen Chef erkannt, aber mein Hirn nahm diese Botschaft noch nicht so recht an. »Herr Kuczynski?« Wahrscheinlich schaute ich aus wie ein Karpfen, der auf dem Trockenen nach Luft schnappte.

    Kuczynski würdigte mich keines Blickes. Er stürzte an Helen vorbei, brüllte nur: »Raus hier!« und zerrte Nina aus dem Bett.

    »Helen, was geht hier vor?«

    Hatte ich irgend etwas verpasst? War ich Opfer der versteckten Kamera geworden? Helen stand jedoch mit verschränkten Armen im Türrahmen und übte mich mit Blicken zu töten. Nina ließ sich willig, wenn auch kichernd, hinter meinem Chef herziehen und schaffte sogar das Kunststück, im Laufen ihre Sachen aufzusammeln und sich halbwegs anzuziehen.

    Hastig raffte ich die Decke um mich und versuchte ihr nachzugehen.

    Helen allerdings hinderte mich daran, indem sie mich wirklich nicht sehr zärtlich am Arm packte. »Bleib hier!« zischte sie.

    An der Wohnungstür drehte sich Nina noch einmal um, grinste mich schulterzuckend an und winkte mir zu. »Tschüss, Süße, war schön mit dir. Nicht sauer sein.«

    Langsam entwirrte sich das Geschehen. Mein Chef und Nina verließen die Wohnung, während Helen im Bad verschwand.

    Ich blieb völlig perplex zurück, zog mich an und hämmerte gegen die Badezimmertür. »Helen, mach auf, ich kann das erklären.«

    Ungefähr nach dem dreißigsten Versuch flog die Tür auf und brach mir fast das Nasenbein. »Was kannst du erklären? Dass du mit der Frau eines anderen schläfst, während ich einen ganzen Kongresstag sausen lasse, um früher nach Hause zu kommen? Dass du mit Heten in unserem Bett herumschläfst? Dass irgend so ein Kerl hier mitten in der Nacht auftaucht und die ganze Nachbarschaft rebellisch macht mit seinem Gebrüll? Ja, das bitte erklär mir mal.«

    Sie sah wirklich anbetungswürdig aus, wenn sie so wütend war. Unvermittelt streckte ich die Hand aus, um ihre Wange zu streicheln.

    »Wage es nicht, mich anzufassen!«

    Ernüchtert gab ich etwas so Geistreiches wie: »Helen, erklärst du mir bitte mal, was hier eigentlich vor sich geht?« zurück. Ich hörte mich an wie eine Schallplatte mit Sprung.

    »Ich dachte, das könntest du mir sagen«, blaffte sie. »Ich komme todmüde nach Hause und will eigentlich nur noch zu dir ins Bett, da tobt vor unserer Tür dieser Kerl herum, brüllt, er wisse genau, dass seine Frau da drin sei und wenn ich ihn nicht hereinlassen würde, riefe er die Polizei. Ich rede auf ihn ein wie auf einen lahmen Gaul, versuche ihn zu beruhigen und mache ihm schließlich das Angebot, mit hereinzukommen, um sich zu überzeugen, dass außer dir hier niemand ist – und dann liegst du tatsächlich mit dieser Frau im Bett. Wer war der Kerl eigentlich?«

    Betreten blickte ich zu Boden und murmelte: »Mein Chef . . . Du«, ich hob den Kopf, »ich wusste nicht, dass sie verheiratet ist. Wir hingen einfach so in der Bar herum, und dann hat sie mich abgeschleppt. Du warst ja wieder mal nicht da.«

    »Nun bin ich auch noch schuld, dass du fremdgehst. Na toll. Ich will nichts mehr hören. Verschwinde einfach.« Helen schlug die Wohnzimmertür hinter sich zu, und ich vernahm nur noch das Ächzen der Couch, als sie diese auszog.

    Ich verschwand in meinem Arbeitszimmer, vom Schlafzimmer hatte ich nun wirklich erst einmal genug.

    Die Nacht auf dem Sofa war kurz und unbequem. Ich hatte immer schon gesagt, dass dieses Ding ein Missgriff war. Meine Hoffnung, am nächsten Morgen in Ruhe über alles zu reden, löste sich in Rauch auf, sobald Helen sturmumwölkt in der Küche erschien.

    Obwohl sie bereits im Bad gewesen war, konnte ich mühelos erkennen, dass auch ihre Nacht nicht wirklich erholsam gewesen war. Gegen Augenringe halfen selbst ihre dezenten Make-up-Künste nichts.

    Ich hatte bereits das Schlafzimmer tiefengereinigt, einen dem Vorfall angemessenen Frühstückstisch gezaubert und sogar Brötchen an der Tanke geholt. Die Rosen hatte ich mir gespart, so schuldig schien ich mir nun auch wieder nicht. Zudem konnte Helen äußerst unromantisch sein.

    Dies bewies sie stehenden Fußes, als sie erst mich und dann den Tisch sah. Sie knurrte wie Nachbars Dobermann. »Und du meinst, mit ein paar Stoffservietten ist es getan? Glaubst du wirklich, ich erteile dir für ein paar lausige Tankstellenbrötchen die Absolution?«

    »Helen, so lass mich doch erklären.« Ich wand mich wie ein Aal. »Als ob dir das noch nie passiert wäre. Du bist sauer, gehst in eine Bar, trinkst zu viel und machst einen Fehler. Helen, du warst doch auch nie ein Kind von Traurigkeit.«

    Noch einmal versuchte ich ihr den Verlauf des vorherigen Abends aus meiner Sicht darzustellen, doch es half nichts. Sie schüttelte nur den Kopf. Fehlte bloß noch, dass sie sich die Ohren zuhielt und »lalala« intonierte, wie das kleine Kinder so tun, wenn sie nichts hören wollen. Immerhin gönnte sie mir ein abschließendes Statement. »Wie soll ich dir denn jemals wieder vertrauen? Ich kann das nicht. Sicher, ich hatte auch schon solche Aussetzer, aber nie während unserer Beziehung. Und das macht den Unterschied. Tu mir einen einzigen Gefallen und zieh aus.«

    Noch dachte ich, diese Idee würde sie in wenigen Tagen aufgeben, wenn ein wenig Gras über die Sachen gewachsen wäre. Vielleicht tat uns ja etwas Abstand gut. Also packte ich ein paar Sachen und den Laptop ein. Ursprünglich spielte ich mit dem Gedanken, zu meiner Großmutter zu ziehen, doch dafür nahm ich die Krise nicht ernst genug und zog in ein Pensionszimmer. Vorübergehend, so dachte ich mir, zumindest bis sich die heimischen Rauchzeichen gelegt hatten. Zweifellos erschien mir unser Beziehungsdebakel als das zunächst kleinere Übel.

    ~*~*~*~

    Der Weg zur Schule hingegen wurde am Montag für mich zum Alptraum. So musste sich ein Delinquent kurz vor der Hinrichtung fühlen. Am liebsten hätte ich mich ja krankschreiben lassen, aber das hätte das Unausweichliche nur hinausgeschoben. Ich schlich die Treppen zum Lehrerzimmer hinauf wie ein geprügelter Hund. Nur gut, dass ich so früh dran und noch sonst keiner zu sehen war. Vielleicht bewahrte Kuczynski ja Stillschweigen. Welcher Mann gibt schon gern zu, dass seine Frau fremdgeht, noch dazu mit einer Frau.

    Doch kurz vorm Lehrerzimmer fing mich unsere Schulsekretärin spröden Blickes ab. »Sie sollen gleich mal zum Chef kommen.«

    Nanu, waren wir nicht mal beim Du? Klasse, sie wusste also schon irgend etwas. Kuczynski lauerte hinter seinem Schreibtisch wie der Großinquisitor. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht!?« blaffte er mich zur Begrüßung an.

    Gedacht? Seit wann denkt man beim Sex? Lea, hör auf mit dem Quatsch, du musst das hier überleben, und zwar möglichst ohne allzu starke Blessuren. »Tut mir leid, Herr Kuczynski. Aber ich wusste nicht . . .«

    »Unsinn.«

    Er würgte meinen Satz ab und hielt mir eine Standpauke, die sich gewaschen hatte. Unmoral, sexuelle Abartigkeit und Ehebruch waren dabei wohl noch die harmlosesten Vokabeln. Eine Schande für den Lehrerstand sei ich und als Kollegin untragbar. Kurz, das Gespräch beziehungsweise das monologische Brüllen verlief mehr als unerquicklich.

    Da half es auch nichts, dass ich mich bei ihm entschuldigte und nachdrücklich beteuerte, nicht die blasseste Ahnung gehabt zu haben, wer Nina war. »Was würden Sie wohl tun, wenn Sie in einer Bar herumstehen, und plötzlich taucht vor Ihnen eine bildschöne Frau auf, die Ihnen eindeutige Avancen macht? Wäre Ihr Ego nicht auch geschmeichelt? Würden Sie nicht auch das Beste daraus machen?«

    Vielleicht war Angriff hier die beste Verteidigung? Offensichtlich nicht. Kuczynski kniff die Augen zusammen und zischte mit gefährlich leiser Stimme: »Im Gegensatz zu Ihnen bin ich durchaus in der Lage, meine Triebe unter Kontrolle zu halten. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und stellen Sie mich moralisch nicht auf Ihre Stufe!« Er war puterrot angelaufen, seine Halsschlagader pochte gefährlich. »Und jetzt verlassen Sie umgehend mein Büro. Über die Konsequenzen reden wir noch.«

    Wenn er gekonnt hätte, hätte er mich sicher sofort entlassen. Das aber verhinderte immerhin der Beamtenstand. Wenigstens etwas. Als ich Kuczynskis Zimmer verließ, hätte ich um ein Haar die Sekretärin niedergetreten.

    Sie blickte mir noch vorwurfsvoll in die Pupille und meinte: »Nun passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«

    Dachte sie vielleicht, ich hätte mich voller Verzweiflung aus dem Fenster gestürzt? Dass sie für ihr Alter – sie stand kurz vor der Rente – noch immer erstaunlich gut hörte, zeigte sich dann später im Lehrerzimmer. Leprakranke hatten sicher mehr soziale Kontakte als ich. Wohin immer ich kam, überall machte sich Getuschel breit. Mein ansonsten recht guter Ruf schien auf Ewigkeiten ruiniert, selbst einige Schüler wagten es, mich ziemlich dreist von der Seite anzugrinsen, von einigen »coolen« Sprüchen ganz zu schweigen. Länger als ein paar Wochen würde selbst ich das nicht unbeschadet aushalten.

    Verdrossen trabte ich in meine Pension. Weiber!

    ~*~*~*~

    Die nächsten Wochen wurden wahrhaft zum Spießrutenlauf. Selbst im Les Mesdemoiselles wurde über nichts anderes geredet. Hier erntete ich neben amüsiertem Grinsen (»Na, nichts mehr mit Doktorspielen bei Helen?«) allerdings auch anerkennendes Schulterklopfen: »War sie wenigstens gut, die Kleine? Hat es sich denn gelohnt?«

    Darauf war ich aber nun wirklich nicht scharf. Dennoch lächelte ich und antwortete nonchalant: »Die Lady schweigt und genießt.«

    Wenn ich nun schon die Trophäe hatte, konnte ich sie auch bewundern und mich triumphieren lassen. Ganz nebenbei erfuhr ich dann auch den wichtigsten Teil der Geschichte. Nina hatte bei einem ihrer wöchentlichen Damenkränzchen mit ihren Freundinnen die üblichen Themen durchgeplaudert. Als dann Modetipps, Ehemänner und andere Unsäglichkeiten nichts mehr hergaben und der Sherry fast zur Neige ging, kam man auf delikatere Themen zu sprechen. Der erste Sex, Liebhaber, pubertäres Geknutsche mit der besten Freundin.

    Als Nina ihre diesbezügliche Jungfräulichkeit zugab, hatten die gelangweilten Damen endlich ein neues Thema. Sie zogen Nina fortwährend damit auf, und schließlich kam es zu einer Wette. Nina behauptete kühn, sie würde jede Frau bekommen, die sie wolle. Ein Kasten Champagner der verwöhnten Damenwelt war der Einsatz, eine Nacht bei der Eroberung Pflicht.

    Unverzüglich machte man sich auf in unsere Bar. Die angeblichen Neuzugänge, die ich wahrgenommen hatte, waren nichts anderes als das flotte Damenkränzchen, welches den Gang der Dinge beäugen wollte. Als sie dann jedoch bemerkten, dass Nina mich wirklich abschleppte, bekam eine der feinen Gesellschaft wohl kalte Füße und rief den zu hörnenden Ehemann an. Dieser war gerade beim Skatabend und musste erst ein Taxi durch die halbe Stadt jagen, bevor er seine Frau zur Rede stellen konnte.

    Inzwischen verfolgte uns die Damenbande und behielt das Haus im Auge, während wir uns mehr oder weniger ahnungslos vergnügten. Den Rest kannte ich dann ja aus eigenem Erleben. Leider. Wie trottelig war ich eigentlich?

    ~*~*~*~

    Während in der Schule die Atmosphäre immer kühler wurde, kräuselte sich der heimische Rauch immer dichter. Helen ließ nicht mit sich reden, sie ließ mich nicht mal mehr in die Wohnung, sondern hatte sofort die Schlösser ausgetauscht. Da halfen auch keine Demutsbezeugungen per SMS und E-Mail. Sie meinte, das könnte schließlich immer wieder geschehen, und mit jemandem wie mir könnte sie nicht zusammenleben. Darauf setzte sie mir die besagten Kartons endgültig vor die Tür.

    Ich wusste, wann ich verloren hatte, dazu kannte ich Helen zu gut. Trotzdem musste eine Lösung her. Ich brauchte eine neue Stelle und natürlich eine neue Wohnung. Aber als Lehrer wechselte man nicht so einfach die Schule. Da wollten schon noch ein paar andere mitbestimmen. Zähneknirschend bat ich beim Schulamt um meine Versetzung, beamtentechnisch gesehen nennt man das dann aus »persönlichen Gründen«. Allerdings machte man mir keine großen Hoffnungen, schließlich warteten einige der Kollegen schon seit mehreren Jahren.

    Unser aller Schöpfer, vielleicht war es aber auch nur ein nachsichtiger Schulrat, ließ jedoch ein Wunder geschehen, und mein Antrag wurde bewilligt. Als ich aber den Versetzungsort auf der Karte zu Gesicht bekam, musste ich schon schwer schlucken – Neuburgstedt, eine Kleinstadt im Nirgendwo, dreißigtausend Einwohner, die nächste Lesbenbar eine halbe Autostunde entfernt. Konnte es schlimmer kommen? Wie lange mochte es dauern, bis der Buschfunk meinen Fehltritt verbreitet hatte? Ich Großstadtwesen, das abhängig war von Kino, Theater, Konzerten, Nachtleben – ich in der Provinz? Na, das konnte ja heiter werden. Es waren schließlich nicht die sieben Todsünden, die ich auf mich geladen hatte. Und das mit dem Ehebrechen sollte man sowieso noch mal überdenken. Eigentlich hätte ich auch gleich in ein Kloster eintreten können.

    Mein erster Trip in den Verbannungsort ließ sich allerdings zum Glück besser an als erwartet. Das Städtchen selbst lag recht idyllisch in eine Hügellandschaft eingebettet. Das interessanteste für Touristen schien ein großer Park zu sein, den ein Herzog im neunzehnten Jahrhundert im englischen Stil hatte anlegen lassen. In seinem südlichen Teil fanden sich zudem die Ruinen des alten Schlosses, das besagter Adliger aus ziemlich nebulösen Gründen schon während der Bauzeit nicht gemocht hatte und deshalb nach seiner Fertigstellung wieder verfallen ließ. Des weiteren gab es die obligatorischen Kirchen aller Couleur, ein Heimatmuseum, auf dessen Inaugenscheinnahme ich vorerst verzichtete, sowie Wanderwege ohne Ende.

    Auch galt auf dem Lande der Titel Gymnasiallehrer offensichtlich noch etwas. Als ich mit Wohnungsannoncen und Internetangeboten bewaffnet von Immobilienmakler zu Immobilienmakler zog, um mir eine neue Bleibe zu suchen, wurden die Mienen sogleich deutlich heller, wenn ich meinen Beruf nannte. Fast hätte ich schwören können, dass ich sogar Dollarzeichen in den Augen flimmern sah. Hatte es sich eigentlich noch nicht herumgesprochen, dass der öffentliche Dienst die Gehälter rabiat gekürzt hatte?

    So trabte ich in der Hoffnung auf eine bezahlbare Unterkunft, die um ein geringes größer war als eine Hundehütte, durch die Straßen der Stadt. Und siehe da, schon nach der neunten Besichtigung, als ich bereits überlegte, vorerst mal wieder die zweifelhaften Freuden einer Pension zu genießen, hatte ich Glück. Die Wohnung war passabel, wenn auch im obersten Stock. Egal, sparte ich mir das Fitnessstudio. Immerhin war die Küche schon eingebaut, weitere Möbel besaß ich sowieso kaum noch. Schreibtisch, Computer, ein paar Bücherregale und stapelweise Bücher. Mit mehr war ich bei Helen nicht eingezogen, und um den Zugewinn zu erstreiten, hatte ich weder Zeit noch Nerven.

    Nina hatte sich nie wieder gemeldet. Allerdings hatte ich dies sowieso nicht erwartet, auch wenn ich eine Entschuldigung in gewisser Hinsicht für angemessen gehalten hätte. Oder doch zumindest die Hälfte des Champagners. Schließlich war ich keine Laborratte, an der man mal so einfach seine Triebe ausprobieren konnte. Bei passender Gelegenheit würde ich mir vielleicht noch etwas einfallen lassen.

    ~*~*~*~

    Am Ende des Umzugstages, nachdem ich den letzten von Helen fein säuberlich gepackten Karton die Treppen hinaufgewuchtet hatte, ließ ich mich erschöpft auf mein neues Messingbett fallen. Also fing ich mal wieder von vorn an. Das war meine Chance. Alles konnte nur besser werden, dachte ich. Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommen würde, ich hätte vermutlich mein Heil in der Flucht gesucht. Weshalb schaffte ich es eigentlich dauernd, mein Leben noch weiter zu verkomplizieren?

    Nach Umzugsstress und großen Dramen mit meinen Eltern – wie erklärte man ihnen, dass man die heißgeliebte Großstadt hinter sich ließ und freiwillig in die provinzielle Verbannung ging, nur weil man die Frau vom Chef vernascht hatte –, waren die Sommerferien fast vorbei, die Vorbereitungswoche begann.

    Ich stand nun also etwas verlegen in der riesigen Aula dieser erstaunlich modernen, auf Bürogebäude getrimmten Schule und wartete ergeben darauf, dass die erste Dienstberatung begann. Nach und nach trudelten die neuen Kollegen ein, die mir zumeist eifrig die Hand schüttelten und deren Gesichter ich mir nicht einprägen und deren Namen ich mir nicht merken konnte. Mein Gesprächsanteil beschränkte sich im Wesentlichen auf: »Guten Morgen! Fiedler. Schön, Sie kennenzulernen.«

    Sicherheitshalber lächelte ich nett, während ich versuchte unbestimmt in die Gegend zu schauen. Sehr bald hatten sich kleine Grüppchen gebildet, deren Mitglieder lebhaft miteinander plauderten, den neuesten Klatsch austauschten, einander versicherten, wie gut erholt man aussähe und dass die Ferien wie immer viel zu kurz gewesen seien. Also der übliche Smalltalk, mit dem man versuchte sich langsam an die Schulluft zu gewöhnen.

    Währenddessen stand ich verlorener denn je in der Menge – im übrigen kein unbedingt neues Gefühl – und hatte Muße, mir die ganze Gesellschaft zu betrachten. Es gab ungewöhnlich viele männliche Kollegen, doch sahen die meisten recht durchschnittlich aus. Aber vielleicht hatte ich Glück und es gab den einen oder anderen mit Esprit, vor dessen spitzer Zunge man beständig auf der Hut sein musste. Auch wenn ich mir nicht besonders viel aus Männern machte, auf dieses intellektuelle Vergnügen mochte ich denn doch nicht verzichten.

    Wichtiger aber waren die Kolleginnen. Nicht dass ich vorhatte, die Frau fürs Leben zu finden. Schließlich war ich auf der Flucht und nicht auf dem Ball der einsamen Herzen. Zudem hatte ich mir fest vorgenommen, Beruf und Privates strengstens zu trennen. Immerhin machte es sich nicht sonderlich gut, wenn in meiner Akte vermerkt würde, dass ich alle zwei Jahre die Schule wechselte, vielleicht gar noch wegen unmoralischen Verhaltens.

    An meiner letzten Schule jedoch war ich mit meiner Vorliebe für Sneakers, Schiebermütze, Blazer, Jeans und Designerhemden etwa genauso wenig aufgefallen wie ein blutender Hering im Haifischbecken. Bei dem Gedanken an all die gestylten Kolleginnen, die jeden Tag so aussahen, als wäre die Wahl zur Miss Gymnasium angesagt, und die zwar notfalls ohne Vorbereitungen, aber nie ohne Schminktäschchen zur Arbeit erschienen wären, stahl sich mir ein kleines Lächeln in den Mundwinkel. Das erste Echte an jenem Tag, wenn ich mich recht erinnere.

    Die inzwischen anwesenden Frauen machten allerdings nicht den Eindruck, als wäre die Nachricht, dass Modetrends häufiger als alle zehn Jahre wechseln, bereits bis in diese friedliche Kleinstadt vorgedrungen. Die meisten erschienen doch recht mausig in Rock und biederem Twinset. Ein paar jüngere trugen Jeans und T-Shirt, und nur einige wenige bewiesen, dass die Wahl des Outfits eine hohe Kunst darstellt.

    Na, bestens, rein äußerlich würde ich hier ganz gut herpassen. Aber trotzdem fehlte mir etwas. Ich sah eigentlich niemanden, dem so richtig der Schalk in den Augen funkelte, der Charme und Charisma ausstrahlte. Dafür hatte ich einen Blick, und solche Frauen brauchte ich wie die vielbeschworene Luft zum Atmen. In ihrer Nähe fühlte ich mich wohl, blühte ich auf, wurde ich witzig, schlagfertig, einfach menschlich. Tja, schade eigentlich. Es würde wohl doch ein ziemlich tristes Leben mit oberflächlichen Gesprächen und bedeutungslosen Arbeitsbeziehungen werden. Die Tatsache, dass die Aula, ähnlich wie das gesamte Gebäude, in einem futuristisch-kühlem Grau-Blau-Ton gehalten war, verbesserte meine sinkende Stimmung auch nicht gerade.

    Endlich aber kam Bewegung in die Menge. Üblicherweise strebte jeder einem Platz in den hinteren Reihen zu. Es überraschte mich schon, dass es mir gelang, einen gemütlichen Fensterplatz mit Aussicht auf die Platanen im staubigen Hof zu ergattern. Immerhin hatte ich so eine reale Chance, die drohende mehrstündige Sitzung einigermaßen entspannt zu überstehen. Erwartungsgemäß blieb der Platz neben mir leer. Neue müssen eben erst getestet werden. Vielleicht sind sie ja allgemeingefährlich, leiden an ansteckenden Krankheiten oder verursachen peinliche Zwischenfälle.

    Mit einem Mal verebbte das summende Gemurmel, und Stille machte sich breit. Bei diesem blondbehaarten Hünen von Schulleiter, der gerade den Raum betrat, schien das wohl auch angebracht zu sein. Wieder einmal drängte sich mir die Frage auf, warum um alles in der Welt Männer so furchtbar behaart sein müssen. Wir sind doch schon lange im Zeitalter der Mikrofaser – also weg mit dem Pelz! Aber da zeigt sich wie so oft, dass die Evolution um manche Geschöpfe doch einen gewaltigen Bogen schlägt. Wie ich allerdings seit unserem ersten Gespräch neidlos anerkennen musste, schien mein zukünftiger Chef trotz allem recht umgänglich zu sein.

    Gerade jedoch als er tief Luft holte, um mit seiner Begrüßungsrede loszulegen, öffnete sich die Tür und sie schlüpfte herein. Wobei »schlüpfte« wohl der falsche Ausdruck ist. Ich wäre, peinlich berührt von meinem Zuspätkommen, eine Entschuldigung murmelnd hereingeschlüpft und hätte mich schleunigst gesetzt.

    Sie jedoch hatte den Auftritt einer unbestrittenen Königin. Aufrecht, mit erhobenem Kopf, funkelnde Kobolde in den dunklen Augen und die Wangen vom schnellen Gehen leicht gerötet, betrat sie den Raum. Dem Schulleiter schenkte sie ein strahlendes Lächeln sowie einen hinreißenden Augenaufschlag, den er sichtlich geschmeichelt annahm. Eine Entschuldigung, die sie ihm auch nicht lieferte, schien er jedenfalls nicht zu erwarten. Die übrigen Kollegen wurden mit

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1