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Night Train: Thriller
Night Train: Thriller
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Night Train: Thriller

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Zugfahrt mit Leiche

Nicola Schulz und André Falkner entstammen Milieus, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während André aus dem Luxusleben mit seiner reichen Freundin hinauskatapultiert wurde, ist Nicola nach ihrer Aussage gegen die Mitglieder einer rechten Terrororganisation im Zeugenschutzprogramm.

Eigentlich verbindet diese beiden nichts … außer der unerwarteten Armut, dem Alleinsein, dem Pendlerzug Leipzig-Berlin. Und dem Toten, den sie darin finden.
Keiner von beiden will mit dem Tod des Mannes in Verbindung gebracht werden.

Also fliehen sie.

In Zügen.

Auf ihrer Flucht begegnen Nicola und André Vorurteilen, Ignoranz und Gewalt. Die Autorin Anne Kuhlmeyer legt einen hochspannenden Train-Thriller vor, der den Leser mit auf eine atemlose Reise und hinein in die Finsternis der eigenen Befürchtungen nimmt.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 20, 2015
ISBN9783954412419
Night Train: Thriller

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    Night Train - Anne Kuhlmeyer

    Montag

    Montag

    1.

    Nein, der Tod ist nicht der Anfang.

    Der Tod ist auch nicht das Ende.

    Er ist mehr so mittendrin.

    Im Leben.

    Zufällig. Oder geplant. Oder zufällig ungeplant.

    Und dann steht man vor ihm oder direkt neben ihm, und die Welt dreht sich für Augenblicke andersherum.

    Man denkt selten an ihn. Wie Nicola. Wie die meisten Menschen, die keinen akuten Grund haben, über ihn nachzudenken. Die morgens aufstehen, Kaffee kochen, zur Arbeit gehen, ihre Kinder in die Kita bringen, im Supermarkt Kartoffeln kaufen, Nachrichten hören (im Zoo in Wuppertal starb ein Elefantenbaby; Nordkorea hat alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen und seine Bomben in Stellung gebracht; eine Explosion in einer Mine in China, dreiundzwanzig Tote), sich über den Chef, den Friseur, die Straßenbahn, die Preise oder das Wetter aufregen. Man kann sich wunderbar über das Wetter aufregen. Das Großartige daran ist, dass es sich nicht wehren kann.

    Nicola wartet auf den Zug. Eiskalter Ostwind weht über den Außenbahnsteig und schleudert ihr Kristalle wie Geschosse ins Gesicht. Die rechte Gesichtshälfte schmerzt, die Narbe ist nicht mehr frisch, der Schmerz ist geblieben. In der Halle des Leipziger Hauptbahnhofes ist es wärmer, aber Nicola will rasch und möglichst unauffällig eine Zigarette rauchen, ohne dass irgendein Sittenwächter ihr die Regeln für den Aufenthalt in Bahnhöfen erklärt. Sie hat genug von Regeln und Sittenwächtern jeglicher Art.

    Nicola Schulz, die in einem früheren Leben, an das sie nicht erinnert werden will, das sich ihr dennoch jeden Tag im Spiegel zeigt, Nicole Hausmann war und in einem noch früheren, von dem sie nichts oder fast nichts weiß, Didem Yilmaz. Didem, das Auge, sie lacht kurz in die kalte Luft und tastet nach der Narbe auf ihrer Wange und über das Lid, hinter dem eine undurchsichtige Hornhaut ihr den Blick nimmt. Nicola zieht an ihrer Zigarette, stößt den Rauch aus und schnippt die Kippe ins Gleisbett.

    Halb verdeckt von einem Schaukasten für die Fahrpläne steht jemand, den sie kennt, den sie lange nicht gesehen hat und keinesfalls wiedersehen will. Er tippt auf seinem Handy herum, sieht nicht auf, und sie geht abgewandt und mit klopfendem Herzen an ihm vorüber, nicht ohne einen Blick über die Schulter zu riskieren. Einen guten Friseur hat er, denkt Nicola, und frisch sieht er aus für sein Alter – graues Haar, trainierte Muskulatur unter dem gut sitzenden Anzug, den Mantel trägt er über dem Arm. Wenn sich das Innere auf dem Antlitz abbilden würde, wäre er …

    Man könnte sehen, wie er ist.

    Aber man sieht nie, wie sie sind, außer in wirklich miesen Filmen.

    Er hat Nicola nicht entdeckt, vermutlich erwartet er sie ebenso wenig wie sie ihn.

    Ein paar Meter entfernt steht einer mit aufgemaltem Lachen im kalkigen Gesicht, zu seinen Füßen eine Aktentasche. Ein Clown mitten im März. Vielleicht will er zur Arbeit, in eine Kinderklinik, da haben sie jetzt Clowns gegen den Schmerz. Er rührt sich nicht, betrachtet seine Schuhe und sieht nicht besonders fröhlich aus.

    Nicola hat Menschen und Abstand gebracht zwischen sich und den, den sie kennt. Er hält immer noch den Kopf über sein Handy gebeugt. Besser so. Damals hat sie eine Entscheidung getroffen, die sie gezwungen hat, unsichtbar zu sein.

    Das Auge des Zugs stiert aus der Ferne. Gemächlich schlendert sie weiter, zurück in die Halle.

    Ich sehe sie. Sie sieht mich nicht. Ich sehe sie alle. Den Mann mit dem Handy, die Dicke mit dem Rucksack, das Pärchen in den abgetragenen Jacken … Auch den, der sich hinter der Maske versteckt. Den muss man im Auge behalten. Die tun so, als täten sie nichts.

    Aber Sie machen sich keine Begriffe, was die alles tun, wenn sie meinen, keiner schaue hin. Ich beobachte sie genau. Ich tue nichts Unrechtes. Ich mache hier nur meine Arbeit. Damit Sie und Ihre Kinder in Sicherheit sind.

    So ist das. Glauben Sie nicht, was man mir nachsagt. Wir sind viele, ja. Wir werden immer mehr. Und wir sind bestens vernetzt. Zu Ihrer Sicherheit. Vertrauen Sie uns! Sie kennen mich nicht? Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin. Moment, da kommt noch einer …

    In einen blauen Mantel gehüllt, der zu dünn für die Jahreszeit ist, flitzt André Falkner die Stufen hinauf, über den Querbahnsteig … der Zug läuft ein, Bremsen quietschen … und erreicht den ersten Wagen. Leute steigen aus. Nicht viele. Aber viele drängen sich auf dem Bahnsteig, um den Pendlerzug nach Berlin zu nehmen, wie er selbst. Täglich fährt er morgens hin und abends zurück. André geht am Zug entlang, zwei Waggons weiter schiebt er sich durch die Tür. Drinnen hält er Ausschau nach der Frau (warm ist es hier) und da ist sie und liest, wie immer die eine Hälfte des Gesichts von brünettem Haar verschleiert. Er nickt ihr zu und setzt sich gegenüber. Sie starrt auf ihr Buch, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Hübsch ist sie, schön geradezu, wahrscheinlich. Mehrfach hat er versucht, einen Blick auf ihr ganzes Gesicht zu erhaschen, es ist ihm nicht gelungen.

    André lehnt sich zurück, der Zug gleitet durch die schneebedeckte Landschaft. Der Winter will kein Ende nehmen. Mitte März und fünf Grad minus in der Nacht. Wenigstens im Zug ist es warm, ganz im Gegensatz zu seiner Wohnung. Was heißt »Wohnung«? Zu dem Loch, in dem er seit drei Monaten haust. Vor ein paar Tagen haben sie ihm den Strom abgestellt. Die Therme braucht aber welchen, deshalb wachsen Eisblumen an den Fenstern. Die Rechnungen stapeln sich. Er müsste zum Amt, eigentlich. Welche Demütigung! Bis zum Frühling reiche das Geld, hat er gedacht. Wer konnte schon ahnen, dass der Frühling ausbleibt?

    Häuser, Bäume, Felder …

    Der Zug rollt.

    Heute bestimmt! Heute kommt jemand, der dringend seine Hilfe benötigt, seinen Sachverstand, seine Cleverness. Heute wird sein Glückstag! Er hat immer Glück gehabt im Leben. Später, wenn er zurückdenken wird an diese Monate, werden sie nicht mehr sein als Wermutströpfchen im Zeitstrom, mit Anekdoten, die er seinen Freunden erzählt, lachend, mit einem Glas Champagner in der Hand und einer schönen Frau im Arm, unter den Sternen von Mailand oder Madrid. Wenn nur der Winter sein Ende fände. Verdreckt und grau ist alles. Auch die Leute, die vor allem, gerade dort, wo er wohnt.

    Ein dünner Mann in fadenscheinigen, hellgrünen Jeans und rotem Anorak drückt sich neben ihn in den Sitz und stellt seinen Rucksack zwischen die Füße, die in braunen Stiefeln stecken. Wo haben die Leute nur ihren Geschmack?

    André wendet sich mit einem Anflug von Ekel ab.

    Heute kommt ein dicker Auftrag rein! Sein erster Fall, den er mit Bravour lösen wird. Vielleicht sucht ein Millionär ein gestohlenes Gemälde oder eine abhandengekommene Gattin, etwas Großes jedenfalls, das ihm reichlich Honorar und Reputation einbringen wird.

    Heute!

    Glückstag …

    Er muss eingedöst sein, denn plötzlich steht der Zug, entlässt eine Handvoll Menschen und nimmt neue auf. Sie bringen Kälte und den Geruch nach schmutzigen Kleidern herein. Lieber säße er in der ersten Klasse, anstatt sich hier die feuchte Luft mit dem Pöbel zu teilen. Wieso halten ICEs eigentlich – und das auch noch in Wittenberg? Manche halten, manche nicht, André hat das zugrunde liegende Prinzip noch nicht entschlüsselt. Gerade walzt eine fette Alte durch den Gang und rempelt ihm ihre Tasche an die Schulter, walzt weiter, ohne sich zu entschuldigen.

    Zur ersten Klasse hat es nicht gereicht. Die Bahncard 100 hat über viertausend Euro gekostet. Für die erste Klasse wären noch mehr als zweitausend dazugekommen. So viel war er Carmen doch nicht wert, obwohl sie es sich hätte leisten können mit ihrem Erbe, das ihr lebtaglang Zinseszinsen einbringt, von denen sie erst kürzlich eine kleine, exklusive Boutique für Hundeoberbekleidung eingerichtet hat (schon jetzt wirft der Laden mehr Kohle ab, als sie ausgeben kann) und um den Globus jettet, um Unterhöschen für siebzig Dollar das Stück einzukaufen. André hätte sogar ihren Namen angenommen, wenn sie ihn geheiratet hätte. Schwarzenberger. Warum nicht, wenn jegliche Kreditkarte damit zu bedienen ist? Doch sie hat ihn nicht geheiratet. Heiraten, sagte sie, sei etwas für Spießer und sie wolle frei sein. Nun ja, das war sie dann auch. Sie war so frei, ihn mit nichts als seinem Koffer vor die Tür zu setzen. Mitten im Winter. Tatsächlich waren es einige Koffer und ein paar Möbel, die er von Berlin nach Leipzig kutschiert hat, in eine Wohnung im Osten, mit Nachbarn aus aller Herren Länder und deren krakeelendem, ungewaschenem Nachwuchs. Muttis in Jogginghosen mit Kinderwagen, Jugendliche in Jogginghosen mit Kampfhunden, alte Knacker in verschlissenen Anzügen mit Teegläsern in den Händen. Man bekommt Augenkrebs, wenn man das jeden beschissenen Tag sehen muss.

    Er hätte überall hingekonnt. Nur in Berlin wollte er nicht bleiben. Sicher hätte er etwas Billiges gefunden. Aber was, wenn man ihn rein zufällig da gesehen hätte? (Oder gezielt? Sein Herz beschleunigt sich.) Vielleicht, wie er in ein Haus neben einem türkischen Gemüseladen geht. Was hätte er sagen sollen, wenn er einem alten Bekannten über den Weg gelaufen wäre? Schön dich zu sehen. Du kommst gerade aus Florenz von einer Tagung? Komm rein, willst du vielleicht ein Wasser? Oder einen Tee? Ich könnte die Nachbarn fragen, die haben Strom.

    Weiter vorn im Abteil hebt ein Mann seine Tasche aus dem Gepäckfach. Das ist doch … Verdammt! Das darf doch nicht wahr sein! Es ist eine Weile her, dass er dem Grauhaarigen begegnet ist. Es war bei Carmen. Und es war nicht gut. Gar nicht gut. Es war eher eine Katastrophe. Begegnungen wie diese wollte er vermeiden und hat das auch über lange Zeit geschafft. Dass er den hier im Zug … Wieso ist der nicht mit einem seiner Luxusschlitten unterwegs oder wenigstens in der ersten Klasse?

    Der Mann nimmt seine Tasche und geht durch den Gang direkt an André vorbei. André drückt sich in den Sitz, hebt die Zeitung vors Gesicht, die jemand liegen gelassen hat, sein Puls hämmert, und er schwitzt. Er linst an der Zeitung vorbei, der Graue zieht die Tür zum nächsten Abteil auf.

    Zu weit weg von Berlin konnte er auch nicht. Und nicht aufs Dorf. Bloß das nicht! Leipzig war ein Kompromiss, ein schmerzhafter – so wie Kompromisse eben sind. Damit kennt er sich aus. Obwohl ihm das erst jetzt klar wird, jetzt während er unendlich viel Zeit in Zügen verbringt.

    Wenigstens ist die Bahncard noch ein Dreivierteljahr gültig; und das wird er nutzen. Er ist immer gerne gereist. Für Bekannte von Carmen (sie nannte sie Geschäftspartner) hat er Autos, oder besser Luxuslimousinen, überführt. Nach Genf und Amsterdam, nach Barcelona und Moskau, zurück mit dem Zug. Dass etwas schiefgegangen ist, lag wirklich nicht an ihm. Er hat nicht im Mindesten damit gerechnet, einem von Carmens sogenannten Geschäftspartnern hier zu begegnen. Zumindest hat der Graue (André mag nicht einmal seinen Namen denken) ihn nicht entdeckt. André muss etwas tun, damit das so bleibt. Wer weiß, vielleicht nimmt der neuerdings auch regelmäßig den Pendlerzug. André lacht in sich hinein. Pendlerzug. Der! Ausgerechnet! Wozu? Ist ja egal. Er muss achtsam sein.

    André liebt das Zugfahren. Wie zum Hohn ist ihm nur diese Bahncard aus der langjährigen Beziehung zu der glamourösen Hexe geblieben. Daneben ein paar Kleidungsstücke, die ihn nicht aussehen lassen wie den letzten Penner. Einen Wintermantel hätte er sich zulegen sollen vor dem Ende. Doch es war einfach zu plötzlich gekommen. Bis dahin hatte er kaum warme Garderobe gebraucht, denn die Winter verbrachten sie auf den Kanaren, in Dubai oder Sydney. Sie feierten bis tief in die Nächte. Die Luft war warm und weich und voll von Musik und Blütenduft. Vielleicht war es auch der Duft der teuren Parfüms, die Carmens teure Freundinnen trugen.

    Während er auf das weiße Grauen da draußen schaut, klopft ein Gedanke an, ein Zweifel, den er üblicherweise im Keller seines Gedächtnisses versenkt. Vielleicht hätte er das mit dem Poker … und das mit Josefine … doch nicht …

    Er schüttelt den Kopf und strafft die Schultern, spürt den Muskelkater vom Training. Irgendwie muss man sich ja warmhalten. Und fit. Deshalb läuft er fast täglich, danach Situps, Crunches, Liegestützen, alles, was man so tun kann ohne Fitness-Studio. Das kann er sich nicht mehr leisten, jedenfalls kein ordentliches. Kurz besuchte er eines unweit seiner neuen Bleibe. Die Räume waren finster, die Duschen verdreckt, das Schlimmste waren die Leute. Testosterongespritzte Muskelpakete, ganzkörpertätowiert, fette Muttis in rosa Jogginghosen. Da konnte er nicht mehr hin. Er braucht das Saubere, das Gediegene, das Schöne. Das Andere hat er hinter sich.

    »Sie haben auch in Berlin zu tun, nicht wahr?« Ein wenig plaudern mit der Schönen, die immer noch in ihr Buch starrt, ohne zu lesen, das wird ihn ablenken. »Ich sehe Sie ja fast täglich inzwischen.« Er setzt dieses Lächeln auf, von dem er weiß, dass es nahezu unwiderstehlich ist …

    Der Zug fährt 08:15 Uhr in Leipzig ab und kommt kurz nach zehn in Berlin an. Jeden Tag. Zumindest ist das der Plan. Häufig klappt das. Es sei denn, es ist zu viel Schnee oder zu viel Sonne oder Regen oder Zugbegleiterstreik oder Herbst. Laub auf den Schienen und die modernen Züge müssen langsam fahren wegen der eingeschränkten Bremsfunktion. Die Zugführer kriegen ordentlich Druck von ihren Leitstellen, wenn sie den Fahrplan nicht einhalten. Davon lässt sich der Zugführer nicht beeindrucken. Die können ihn am Arsch lecken. Liegt Schnee, liegt eben Schnee und man muss so fahren, dass die Leute heil ankommen. Er will auch heil ankommen. Mit heiler Haut in die Rente. Er bremst ab und fährt in Schrittgeschwindigkeit durch die Schneewehen hindurch, die es hier immer gibt. Er kennt seine Strecke. Zum Kaffee ist er zu Hause.

    Schon wieder dieser Typ. Jeden Tag fährt er mit und setzt sich in ihre Nähe, nickt ihr zu oder wünscht ihr einen Guten Morgen oder einen Guten Abend, als würden sie sich kennen. Nicola linst an ihrem Haarvorhang vorbei und hinter der Barrikade ihres Buches hervor. Es interessiert sie gerade nicht sehr, was drinsteht. Im Hinausgehen hat sie irgendetwas gegriffen, was auf dem Regal neben dem Bett lag. Vorsichtshalber. Als Versteck taugt fast jedes Buch. Dass sie ausgerechnet André Bretons Anthologie des schwarzen Humors, ein Band in einem unhandlichen Format, mitgenommen hat, kann nur ein Omen sein. Es kichert in ihr. Mit Vorahnungen und Zeichen in Buchform hat sie es nicht so. Sie nimmt die Welt am liebsten, wie sie ist, und glaubt nichts, überhaupt nichts mehr, was sie nicht überprüft hat, selbst wenn sich das Überprüfen reduziert hat und momentan nur in Ausnahmefällen sinnvoll erscheint. Rechercheaufgaben gibt es nicht mehr, seit die kleine, unabhängige Frauenzeitschrift, für die sie in den letzten Jahren schrieb, schließen musste. Die beiden Redakteurinnen sind nun genauso frei wie sie. Frei von Arbeit und Geld. So ist das im freien Journalismus. Nur Idealisten und Idioten tun sich das an.

    Der Typ gegenüber glotzt. Nicht unfreundlich, zugegeben. Und gut sieht er auch aus. Wahrscheinlich überlegt er, was er sagen könnte, um ein Gespräch anzufangen.

    Sie schaut aus dem Fenster, Flocken wirbeln, der Wind zerrt an den Fahnen eines Baumarktes, weißes Weiß gleitet vorbei … Der Winter ist endlos, aber es ist immer noch Frühling geworden.

    Der Schlaksige mit der grünen Hose hält die Augen geschlossen und lächelt entspannt. Wahrscheinlich studiert er irgendwas, und seine Eltern schicken ihm Geld für die Miete und die Mensa.

    Sie ist heilfroh, dass sie ein paar Cent aus besseren Tagen zurückgelegt hat, wenngleich die nicht weit reichen werden. Und dass Sergej da ist, ein Schrank von einem Kerl. Sie muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu blicken, trotz ihrer hohen Gestalt. Lea ist auch okay, obwohl sie dafür, dass sie da ist, nie oder fast nie da ist. Nicola erinnert sich noch ganz genau, wie sie Lea aufgesammelt hat. Es war nach einer vergeigten Prüfung. Sie haben sich in der Moritz-Bastei kennengelernt, einem von Studenten restaurierten und betriebenen Club im unterirdischen Teil der ehemaligen Leipziger Stadtmauer. Lea hat geheult, und Nicola hat sie mit nach Hause genommen. Danach hat sie nie mehr geheult und sämtliche Prüfungen bestanden. Sie studiert Mathematik, ein Rätsel für Nicola. Und sie kocht, wenn sie denn da ist und wenn einer von ihnen Geld für gute Lebensmittel hat. Phantastisch. Sergej hat ihr einmal nach einem ihrer spektakulären Menus einen Heiratsantrag gemacht und Lea hat ihm fröhlich das Dessert auf die Nase gedrückt.

    Bevor Nicola und Lea zusammenzogen, hat Nicola natürlich recherchiert. Lea stammt aus Aue im Erzgebirge. Sie hat Nicola mit zu ihren Eltern genommen, einfache Leute in einem einfachen Leben, und sie haben Pflaumen geerntet, entsteint und eingekocht. Lea gab Nicola ihr Zimmer für die Nacht. Es war ein wenig jünger als Lea, mit Postern an den Wänden und den Kuscheltieren ihrer Kindheit auf einem Sessel neben dem Bett. Was es sonst noch enthielt, hat Nicola in der Nacht erforscht. Vieles war darin, aber keine Geheimnisse, nicht einmal in ihrem Tagebuch.

    Sergej war ihnen später zugelaufen. Was genau er macht, darüber redet er wenig, etwas mit Autos. Also er repariert sie. In einer kleinen Werkstatt am Rande eines Industriegebiets im Osten von Leipzig. Ein halbes Jahr war Nicola damit beschäftigt, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, Lea hat sie paranoid genannt. Am Ende kam raus, dass es nichts in Erfahrung zu bringen gibt. Sergej lebt schon lange in Deutschland, eigentlich schon immer. Kurz nach seiner Geburt sind seine Eltern aus Kasachstan gekommen. Er ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat Mechatroniker gelernt, war eine Zeit arbeitslos, und nun hat er den Job in dieser kleinen Werkstatt. Er mag ihn. Er bringt nur nicht viel ein. Sergej wollte von seinen Eltern weg. Es war ihm zu eng dort. Nicola und Lea besuchten ihn einmal da. Sie saßen in der Küche bei diesen stillen, harten Leuten, die Sergejs Eltern waren, und redeten nicht viel. Sie tranken bis in den Morgen. Nicola hätte gern Sergejs Zimmer genauer untersucht. In Zimmern verstecken sich Geheimnisse. Nur hatte Sergej kein Zimmer. Er schlief auf dem Sofa.

    Jedenfalls teilen sie sich die Miete, Küche und Bad.

    Und Sergej.

    Lea und Nicola.

    Sie schlafen abwechselnd mit ihm. Weil er gerade da ist, und weil man auch den Kühlschrank teilt und den Wein. Und weil er okay ist. Er ist Nicola nie nahegekommen. Er ist nur … hübsch.

    Deshalb will sie nicht nach Berlin ziehen, obwohl das einfacher wäre, wahrscheinlich. Deshalb und noch aus einem anderen Grund …

    Berlin wäre einfacher. Sie hat einen Mini-Job im Bahnhofsbuchladen bekommen, vierhundertfünfzig Euro. In dem Grill gleich in der Nähe ist sie fest angestellt mit fünfzwanzig die Stunde und ein paar Cent Trinkgeld. Erst Buchladen, danach Grill oder umgekehrt. Abends, manchmal nachts, zurück nach Leipzig mit dem Pendlerticket. Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Immerhin hat sie noch eins, ein Leben. Es hätte auch anders kommen können.

    Manchmal fährt sie mit der U-Bahn zu der Stelle, an der es passiert ist, wartet, mit einem Springmesser in der Tasche. Danach kommen die Tränen und sie wirft eine Oxycodon ein gegen den Schmerz. Atypischer Gesichtsschmerz heißt das, was sie hat, sagte jedenfalls der Arzt, den sie nach einer Odyssee durch alle Fachbereiche zuletzt besuchte, und gab ihr das Zeug. Er macht immer ein wichtiges Gesicht, wenn er das Betäubungsmittelrezept ausstellt und ermahnt sie, die Dosierungsanleitung einzuhalten. Sie nickte brav und holt sich den Rest für den Monat von einem anderen Doc.

    »Sie haben auch in Berlin zu tun, nicht wahr?«, sagt der Typ gegenüber. Er zupft eine unsichtbare Fussel von seinem hellen Kaschmirpullover, den er über einer fast gleichfarbigen Cordhose trägt. »Ich sehe Sie ja fast täglich inzwischen.« Er setzt ein Lächeln auf, das er wohl für unwiderstehlich hält.

    Er sieht wirklich gut aus mit dem Dreitagebart und dem zurückgekämmten von erstem Grau durchzogenen Haar. Sie würde sich mit ihm unterhalten, wäre da nicht dieser Blick unter den halb geschlossenen Lidern hervor, so einer von oben herab. Arrogantes Arschloch, das mit einem goldenen Löffelchen im Mund zur Welt gekommen ist. Angeblich soll man keine Vorurteile haben, doch sie

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