Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei
By István Bibó
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Der ungarische Historiker und Politologe István Bibó (1911-1979) analysierte bereits Mitte der vierziger Jahre die nationalen Illusionen, Romantizismen und politischen Mentalitätsprägungen der ostmitteleuropäischen Länder Tschechoslowakei, Polen und Ungarn.
Nationale Kurzsichtigkeit und nationalistische Feindseligkeit kennzeichneten alle osteuropäischen Kleinstaaten und bewirkten so letztlich ihre politische »Misere«. Ungarn, Tschechen, Polen, Serben, Kroaten und Slowaken hassten einander, angetrieben von den Großmächten, die ihre Machtinteressen zu sichern suchten. Die nationalen Enttäuschungen im Gefolge der territorialen Veränderungen nach den Pariser Vorortverträgen waren ein günstiger Nährboden für Hitlers Expansionspolitik gewesen. In dieser Region - so Bibó 1946 - gab es keine Nation, die eine Außenpolitik hätte führen können, die sich über die eigenen territorialen Ansprüche hinwegzusetzen vermochte. Die historischen Wurzeln dieses politischen Elends aufzudecken, war das erklärte Ziel von István Bibó.
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Book preview
Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei - István Bibó
Inhalt
1. Die Entstehung der europäischen Nation und des modernen Nationalismus
2. Der Bruch des Territorialstatus Ost- und Mitteleuropas und das Entstehen des Sprachnationalismus
3. Der Zusammenbruch der drei historischen osteuropäischen Staaten
4. Die Deformation der mittel- und osteuropäischen politischen Kultur
5. Das Elend der territorialen Auseinandersetzungen
6. Die Lösung der territorialen Konflikte und die Konsolidierung Osteuropas
7. Die Technik des guten Friedensschlusses
Nachbemerkung
Anmerkungen
István Bibó
Die Misere der
osteuropäischen
Kleinstaaterei
Aus dem Ungarischen
von Béla Rásky
Verlag Neue Kritik
Der vorliegende Text erschien erstmals unter dem Titel »A kelet-európai kisállamok nyomorúsága« 1946 in Budapest. Die Übersetzung folgt der Bibó-Gesamtausgabe: Bibó István, Összegyüjtött munkái, Band 1, Bern 1982, Európai Protestáns Magyar Szabadegyetem [Europäische Akademie der evangelischen Ungarn]. Das Lektorat besorgte Thomas Schmid.
© István Bibó 1946
Alle deutschsprachigen Rechte
Verlage Neue Kritik KG Frankfurt am Main 1992
Die E-Book-Ausgabe folgt der 2. Auflage der Printausgabe 2005
© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2014
E-Book Erstellung: Madeleine Schmorré
ISBN 978-3-8015-0570-7 (epub)
ISBN 978-3-8015-0571-4 (mobi)
ISBN 978-3-8015-0572-1 (pdf)
www.neuekritik.de
1. Die Entstehung der europäischen Nationen und des modernen Nationalismus
Die Ausformung der Nationen zu politischen Gemeinwesen ist einer der bedeutendsten Prozesse in der Geschichte Europas, und der Entstehungsprozess der modernen »Nationen« ist darin von besonderer Bedeutung. Wesentlich an dieser Entwicklung ist, dass bereits vorhandene oder neu entstehende nationale Bezugsrahmen nun von gewaltigen Massenbewegungen getragen werden und massive emotionale Bindungen diese Rahmen bestimmen. Es ist unrichtig, dass Nation und Nationalismus erst mit der Französischen Revolution und bei den anderen Nationen mit der jeweils eigenen bürgerlichen Revolution entstanden sind. Damals wurden vielmehr nur die an die Nation gekoppelten politischen Prozesse zu Massenbewegungen und die an die Nation gekoppelten Emotionen zu Massenemotionen. Diese Umformung verlief bzw. verläuft bei einigen Nationen verhältnismäßig harmonisch, bei anderen unerwartet und schnell und bei wiederum anderen hatte sie eine Reihe von Katastrophen zur Folge. Während einige Nationen durch diese Transformation moralisch gewinnen und materiell reicher werden konnten, verelendeten andere materiell oder verkamen moralisch, wieder andere gerieten in eine entwicklungspolitische Sackgasse. Im folgenden werden wir diesen Entstehungsprozess der modernen Nationen näher betrachten.
Die Nation als prägendes Element der europäischen Geschichte ist das Ergebnis einer Entwicklung, die fast anderthalb Jahrtausende angedauert hat. Einer oberflächlichen, wenngleich weit verbreiteten Meinung zufolge befinden sich die Grenzen und damit alle nationalen Rahmen seit anderthalb Jahrtausenden in einem Zustand pausenloser Veränderung; diese Veränderungen seien nur eine Folge der jeweils wechselnden Herrschaftsgewalt gewesen, und nicht Ausdruck von Kontinuitäten oder inneren Gesetzmäßigkeiten. Diese Sichtweise erkennt nicht, dass die nationalen Einheiten Europas – trotz sich ständig verändernder Staatsgrenzen, unübersichtlicher Feudalbeziehungen, kritischer Phasen ihrer eigenen Formierung und trotz Veränderungen und Teilungen (5. bis 6., 15. bis 16. und 19. bis 20. Jahrhundert n. Chr.) – eine überraschende Stabilität und erstaunliche Zähigkeit bewiesen haben. Wie die Geschichte zeigt, sind Nationen, einmal entstanden, niemals ausschließlich deswegen zerfallen, weil die Zentralmacht geschwächt wurde oder lokale Autoritären sich verselbständigt hätten. Eine verselbständigte lokale Einheit bildete nur dann eine eigene Nation, wenn es neben dieser Sonderstellung auch lang anhaltende politische Erfahrungen gab, die für die neue Einheit nach innen den Grundstein des Selbstbewusstseins und nach außen jenen der Anerkennung legten.
Die Ausformung der europäischen Nationen begann im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. mit den germanischen Königtümern, die sich unter Führung der einen oder anderen anerkannten Dynastie das Erbe des Römischen Reiches teilten. Diese Königtümer, die zu Anfang eine gänzlich planlose Eroberungspolitik betrieben, nahmen schließlich nach einigen Grenzkorrekturen und -begradigungen die Formen der ehemaligen großen Einheiten des Römischen Reiches an: das Frankenreich die Form von Gallien, das Westgotenreich die von Hispanien, das Reich der Anglosachsen die Britanniens und das Langobardenreich die Italiens. Nach dem Zerfall des karolingischen Imperiums, das den Westen zusammenhielt, entstand neben dem Königreich Italien und dem Westfränkischen Königreich, dem späteren Königreich Frankreich, im 9. Jahrhundert auch ein Deutsches Reich. Diesen Ländern folgten im Norden sehr bald die drei skandinavischen und im Osten die drei katholischen Staaten: Polen, Ungarn und Böhmen. Mit dieser abgeschlossenen Zahl an Nationen überschritt Westeuropa die Schwelle zum Hochmittelalter. Im Bereich des Ostchristentums waren die Grenzen der einzelnen nationalen Gebilde fließender. Russland wurde unter der Führung der Rurikiden im 9. und 10. Jahrhundert vereint, Byzanz hütete die griechisch-römische Kontinuität, während im Balkanraum nach dem Muster der westlichen Monarchien eigene Königreiche der jungen Nationen entstanden: jenes der Bulgaren, der Serben und Kroaten zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert, das rumänische Fürstentum und das Großfürstentum Litauen etwas später.
In der Zeit des Konzils von Konstanz 1414 waren die fünf führenden Nationen Westeuropas – Italien, Frankreich, England, Deutschland und Spanien – bereits mit deutlichem Profil als politisch zusammengehörende und bewusst als solche verstandene Einheiten erkennbar. Zu dieser Zeit begannen sich auch die Nationen West- und Mitteleuropas auseinander zu entwickeln: die französische, die englische und die spanische Monarchie bekamen effektive, reale Körper, während die deutsche und die italienische zunehmend amorph, symbolisch und geradezu unsichtbar wurden. Zur gleichen Zeit entstanden einige weitere, kleinere europäische Nationen. Im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland entstanden aufgrund der (von Huizinga so feinsinnig herausgearbeiteten) politischen Erfahrung des Herzogtums Burgund, später aus dem sowohl einigenden als auch trennenden Erlebnis des niederländischen Freiheitskampfes die holländische und die belgische Nation. Bereits etwas früher hatte die endgültige Loslösung der Schweiz vom Deutschen Reich begonnen, die zu dieser Zeit ihren Abschluss fand. Als Italien zerfiel, gab es bei der Republik Venedig und beim Königreich Sizilien Anzeichen für einen Prozess der Nationwerdung. Zur gleichen Zeit kam es zur Wiedervereinigung der Pyrenäen-Halbinsel und dann zu deren Trennung in die spanische und portugiesische Nation, woran sicherlich auch die großen überseeischen Eroberungen ihren Anteil hatten. Damals trat auch die erste volkstümliche Nationalistin auf: Jeanne d’Arc. Und schließlich bildeten sich zu dieser Zeit alle jene Gedanken und Empfindungen heraus, in denen sich ein Nationalgefühl bis heute manifestiert: die Nation, deren Wohlergehen das höchste Ziel des Kollektivs ist, die Betonung und Achtung nationaler Eigenheiten, die Ablehnung der Fremdherrschaft und die positive Bewertung der Nationalsprache. Die sprachliche Einheit stellte damals freilich noch keinen nationsbildenden Faktor dar. Ortega y Gasset verweist sehr treffend darauf, dass im Europa der jüngsten Geschichte die Staaten nicht deshalb einsprachig sind, weil die einsprachigen Nationen zusammengestanden und einen Staat gebildet hätten, sondern weil die politische, kulturelle und zahlenmäßige Hegemonie eines Volkes einen bestehenden staatlichen oder nationalen Rahmen einsprachig gemacht hat. Tatsächlich bewahren zahlreiche europäische Sprachgrenzen auch heute noch die Erinnerung an längst versunkene politische Grenzen: die französisch-wallonische, die französisch-katalanische Sprachgrenze, die dänisch-norwegische und die schwedisch-norwegische Dialektgrenze usw. Die Grenzen der so entstandenen mittelalterlichen europäischen Nationen sowie die nationalen Rahmen in ihrer Gesamtheit blieben, trotz einiger kleiner Verschiebungen, im wesentlichen unverändert. Politische Strukturen, die auf feudaler oder familiärer Grundlage einen eigenen Zusammenhang schufen und den nationalen Einheiten entgegenstanden, erwiesen sich meistens als sehr fragil. Zwar waren sie zuweilen von langer Dauer, doch früher oder später lösten sie sich auf, ohne irgendwelche Spuren hinterlassen zu haben. Auf diese Weise entstand und zerfiel letzten Endes der englisch-normannische und der englisch-französische Konnex, die Verbindung Aragon-Sizilien, die spanisch-neapolitanische, die zuerst spanisch-mailändische und dann österreichisch-mailändische, die zuerst spanisch-niederländische und dann österreichisch-niederländische, die englisch-hannoveranische Verbindung, die fast tausend Jahre währende Verbindung Savoyen-Piemont und vor allem die im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation verkörperte deutsch-italienische Beziehung. Erinnerungen mögen geblieben sein doch keine einzige dieser Verbindungen konnte irgendeine wesentliche Grenzveränderung zwischen den betroffenen Nationen bewirken.
So war in Westeuropa zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert langsam der moderne Staat entstanden. Die einst nur symbolische Zentralmacht eignete sich mehr und mehr das politische Leben der Nation an; und das städtische Bürgertum und die intellektuellen Schichten, die den Staatsapparat prägten und in Gang hielten, beteiligten sich immer mehr an der Ausformung des Nationalbewusstseins. Die Residenzstadt wurde zu einem Teil des ganzen Landes, das Land wurde nicht nur politisch und rechtlich, sondern auch verwaltungstechnisch und ökonomisch zu einer profilierten Einheit. In dieser Situation ereignete sich die Französische