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Priskas Miniaturen: Erzählungen 1978-1988
Priskas Miniaturen: Erzählungen 1978-1988
Priskas Miniaturen: Erzählungen 1978-1988
Ebook174 pages2 hours

Priskas Miniaturen: Erzählungen 1978-1988

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Der frühe Klaus Merz, zwanzig Erzählungen aus der Zeit vor seinen großen Erfolgen, in denen seine Meisterschaft aber schon voll entwickelt ist. Äußerlich sind es stille Liebes- und Lebensgeschichten, denen das vorrangige Interesse dieser Erzählungen gilt: etwa dem Lokführer einer Schmalspurbahn, der täglich dieselbe Strecke fährt, der Zirkusartistin Hanni Ball, die zu ihrer Hochzeit eine Kleinkunstnummer mit Elefanten und weißen Mäusen einübt, dem Fotografen, der sich mit Passbildern über Wasser hält und daneben Bild für Bild an der Chronik eines Dorfes arbeitet.
Klaus Merz fasst als genauer, sensibler und diskreter Beobachter diese verdichteten Leben in knappe, prägnante Bilder, zeichnet ihr Auf und Ab in klaren Linien nach und lässt Hoffnung und Enttäuschung aufblitzen, nie ohne Wärme und Anteilnahme, aber mit Humor und Sinn für die skurrilen Seiten des Lebens.
Zwei längst vergriffene Erzählbände voll mit Glanzstücken Merz'scher Erzählkunst macht Haymon, seit 1994 "Stammverlag" des Schweizer Autors, seiner immer noch wachsenden Lesergemeinde wieder zugänglich.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateSep 10, 2012
ISBN9783709975305
Priskas Miniaturen: Erzählungen 1978-1988

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    Priskas Miniaturen - Klaus Merz

    www.haymonverlag.at.

    TREMOLO TRÜMMER

    1

    Über den Betten des Geschwisterpaares hingen drei colorierte Portraits. Otto Lilienthal. Jesus von Nazareth. Claude Dornier. Am Fussende der Bettstatt stand auf einer Marmorhalbsäule die Gipsbüste Enrico Carusos an der Wand.

    Karl belegte das linke Bett, damit sein steifes Bein die Schwester nicht störte, wenn er nachts ein- und ausstieg, um seine Existenz auf Orion hin auszurichten oder nach einem Zeppelin Ausschau zu halten. Sein Leben lang verweigerte er den Eierkonsum, was ihm schon als Kind den Spitznamen Dotter eingetragen hatte. Seine Schwester nannte man Krötchen, da sie ihre hohen, glockenähnlichen Puh-Puh-Rufe meisterhaft unter die langgezogenen Rufe der Geburtshelferkröten in Dotters Gemüsegarten zu mischen verstand. Mit schnellen Händen griff sie Jahr für Jahr in den Holunder und buk ihre unvergleichlichen Holderküchlein: Les Petites Coquines.

    Bei einer zufälligen Rückkehr in unser Dorf wurden wir Mitte November zu unfreiwilligen Zeugen der Sprengung des Dotterhauses. Der Luftschutz probte den Ernstfall. Die angegliederten Zivilschutzeinheiten trugen ihre gelben Helme, insgeheim hofften die Samariter auf Verletzte.

    Am Rande der Sperrzone, wo wir von Ordnungskräften aufgehalten worden waren, unterhielten sich die Zuschauer in aufgeräumter Stimmung miteinander. Und der unverwüstliche Kelterborn war tatsächlich mit seinem Bauchladen unterwegs.

    Das Haus hatte seit Jahren leer gestanden, aus Sicherheitsgründen waren die Dachziegel, lauter alte Biberschwänze, im Voraus schon abgetragen worden. Die Fensterscheiben hätten sich im Laufe der Jahre, wie es hiess, von selber erledigt.

    Durch den feuchten Dachlattenrost auf dem Krüppelwalm meinten wir die graue Tragfläche eines Hängegleiters wahrnehmen zu können.

    2

    Krötchens wöchentliche Reise führte jeweils mit Europas steilster Normalspurbahn nach Beromünster, wo man sich hinter dem Turm der Stiftskirche unwillkürlich den geplanten Metallturm des Landessenders Beromünster, nota bene auf Gunzwiler Terrain, vorzustellen versuchte, auf dessen oberster Zinne ein reformiertes Unikum aus dem Wynental anlässlich einer gemütlichen Turnfahrt ins Luzernische eines Tages einen Handstand drücken würde. (Übrigens der nachmalige Vater von Drillingen, die selbst von ihrem Erzeuger nur schwerlich auseinander gehalten werden konnten und deshalb der Einfachheit halber im ganzen Dorf nur Bub genannt wurden, was wir wiederum, die wir mit Karl, Konrad und Kurt gemeinsam die Schulbank drückten, nie richtig verstehen konnten.)

    Dotters Schwester, mit dem üblichen Hang zum Geheimnisvollen beschwert, verrichtete, obwohl sie nicht katholisch war, im hinteren, dunklen Teil des Stiftskirchenschiffes ein stilles Gebet. Sie steckte zwei Kerzen an, die sie Ende Monat jeweils pauschal verrechnete, und stieg nachher mit grosser Zuversicht in den Postautokurs Richtung Luzern um.

    Die Fahrt führte über Neudorf, Gormund nach Hildisrieden hinunter, wo allfällige Rechtsabbieger noch heute nach kurzer Wegstrecke unweigerlich auf das Knochenhaus neben der Schlachtkapelle stossen und an den legendären Sieg der Einheimischen über das grosse Heer der Österreicher zu denken gezwungen sind. Lauter Männerknochen in einem vergitterten Kabäuschen, und alle ganz weiss.

    Es folgten noch Ortschaften wie Rothenburg und Emmenbrücke, wenn man von den vielen verstreuten Weilern und der grossen Fuhrhalterei am Strassenrand absah, bevor der Postkurs die Leuchtenstadt erreichte, wo Krötchen wie jeden Mittwochnachmittag von Enrico Käch zum Gesangsunterricht erwartet wurde.

    (Als Zweitälteste einer kinderreichen Familie aus Zell/LU wäre Käch eigentlich für den Dienst bei der Schweizergarde vorgesehen gewesen, hätte das unselige Rom den jungen Mann nicht schon nach wenigen Wochen aus dem Vatikansbezirk hinausgesogen und einen Bariton aus ihm gemacht.)

    3

    In Zeiten ohne festes Engagement als Privatgärtner in den Kulturen der ortsansässigen Fabrikantenfamilien, Blech und Tabak, baute Karl im geräumigen Estrich seines Elternhauses, das nach der Grippewelle anno achtzehn zu gleichen Teilen an die beiden Geschwister übergegangen war, an der verbesserten Version seines Hängegleiters weiter.

    Schon als Zwanzigjähriger hatte Dotter, auf seiner langen Wanderung Richtung Norden da und dort bei der Ernte aushelfend, Otto Lilienthal, dem Vater des Segelfluges, am Grabe die Reverenz erwiesen. – Der berühmte Flugmann war 1896, noch nicht fünfzigjährig, dafür aber mit über zweitausend Gleitflügen in den Knochen und hochverdient in Sachen Aerodynamik, auf einem Berliner Flugfeld liegen geblieben.

    Während seiner Wanderung trug Dotter zudem die eigenhändige Transkription von Leonardo da Vincis Aufzeichnungen über das Fliegen auf sich, die das Genie seiner Zeit aus Angst vor der Werkspionage oder weil er gefürchtet hatte, vorschnell dem Gespött der Leute preisgegeben zu werden, in seiner schwer zu entziffernden Spiegelschrift verfasst hatte. Dotter hatte auch einen Spiegel dabei.

    Die Stimme des Einsatzleiters im Megaphon erinnerte uns unwillkürlich an schneidende Kälte. Wir schlugen den Mantelkragen hoch und blieben bei unseren Gedanken, die das vergessene Geschwisterpaar in weiten Volten umkreisten, während vor unseren Augen schon die schwarze Zündmaschine installiert wurde. In letzter Dringlichkeit versuchten wir Dotter und Krötchen wenigstens in unseren Köpfen ein mögliches Denkmal zu setzen, bevor der Applaus über die geglückte Zertrümmerung ihres Anwesens über uns zusammenschlagen und uns als Einziges die spärliche Kindheitserinnerung an zwei ältere Menschen, von denen wir eigentlich nicht viel wussten, in den gealterten Händen zurückbleiben würde.

    4

    Krötchen sang mit Blick auf die Reuss, im Rücken Enrico Käch, eine schwierige Koloratur. Vor dem inneren Auge der Sängerin schwebte der Astralleib des frühverstorbenen, neapolitanischen Meistertenors mit seinen zweieinhalb Oktaven Stimmumfang. Er trug seinen Part mit seiner ausgeglichenen Stimme, der vielgerühmten darstellerischen Begabung sozusagen über den Wolken vor.

    In Luzern ging es um nichts Geringeres als um die Transposition von Carusos Tenor in die Sopranlage Krötchens – mit Hilfe von Geburtshelfer Käch, der die feingliedrige Schwester mit den tiefliegenden Augen immer wieder vor den waghalsigen Flugkünsten ihres Bruders warnte und prompt auch Recht bekam, als man Dotter eines Tages, seinen Hängegleiter zu einer Tragbahre umfunktioniert, nach Hause brachte. Man hatte ihn zwischen Schwarzenbach und Ehrlosen auf offenem Feld zusammengelesen. Sein linkes Knie war entzwei, und bald schon stand fest, dass er zwar noch fliegen, aber nie mehr würde landen können.

    Es kam zum Bettenwechsel unter den Geschwistern. Krötchen pausierte in Sachen Gesang und pflegte den Piloten. Dotter entwickelte in seinem Kopf schmalere Flügel.

    Sie assen zusammen einen Geburtstagskuchen nach dem andern auf, erwiesen Käch die letzte Ehre. Und manchmal legte die Schwester ihrem Bruder ein Tremolo ins Ohr, dass darüber aller Schmerz verging, anschwoll und verging.

    Die Nachricht vom berüchtigten Handstand anlässlich der Turnfahrt zum Landessender Beromünster erreichte die zunehmende Abgeschiedenheit des Geschwisterpaares nur noch wie ein Gerücht.

    5

    Nach Jahren konnte man Dotter im Kursschiff über den Bodensee fahren sehen. In Friedrichshafen lag die Dornier DO X, das Grossflugboot, vor Anker. Dotter zählte die Motoren nach, es waren tatsächlich zwölf. Er spürte die Versteifung seines Standbeines nicht mehr, als sich der silberne Koloss langsam aus dem Wasser hob und Richtung Meersburg verschwand. Und er verwand, bereits wieder im Kursschiff stehend, an diesem grossen Tag beinahe den Schmerz über den Verlust seiner Schwester, die eines Abends ohne Abschied einfach zu Caruso übergelaufen war.

    Der Herr sei im Himmel, hatte von diesem Zeitpunkt an Dotter notorisch zu sagen gepflegt, wenn ihn jemand über Thuja hinweg, durch Buchenlaub grüsste. Wie Krötchen hing er keiner bestimmten Konfession an, aber er war zeitlebens vom Nazarener beeindruckt geblieben, der Kranke geheilt und übers Wasser gegangen war, auf dem er die Dornier hatte liegen sehen. – Auch er, Dornier, ein Nachfahre Lilienthals, Mitstreiter Graf Zeppelins und, bei aller technischen Besessenheit, ein grosser Bewunderer Enrico Carusos.

    Die beiden Reporter auf ihrem Holzpodest setzten die Kameramotoren in Gang, das Gebäude sackte leiser als erwartet in sich zusammen. Die Wendrohre der Pionier- und Brandschutzleute spritzten in die Staubwolke hinein.

    Wir hätten in unserer Unverbesserlichkeit über den Trümmern gerne eine von Dotters Tragflächen schweben sehen. Auch eine fern verklingende Koloratur wäre uns recht gewesen. Stattdessen betrat die Gemeindepräsidentin den Platz und bedankte sich beim Luftschutzoffizier für die gelungene Räumung. Mit Staub auf den Schultern machten wir uns auf den Weg.

    BACHARACH

    1

    Unsere Talbahn fährt im Halbstundentakt. Abfahrt nullsieben und siebenunddreissig in der Kantonshauptstadt. Ankunft neununddreissig Minuten später an der Endstation. Die vormals himmelblauen Trieb- und Personenwagen sind im Lauf der Zeit leuchtend orange gespritzt, neues Rollmaterial ist hinzugekauft worden. Auch auf der Schmalspur ruft der Taktfahrplan nach einem gnadenlosen Betrieb.

    Mein Bekannter behauptet immer, der Grossteil des Personals sei merklich dicker, aber nicht zufriedener geworden, seit die Kompositionen nicht mehr von Hand abgewinkt und die Fahrkarten nur noch stichprobenweise kontrolliert würden. Wahrscheinlich hat er Recht, denn ich kenne weit und breit keinen genaueren Menschen als diesen Kalbermatten.

    2

    Wer mittwochs kurz vor zwölf auf dem Weg zu den letzten Geleisen das Untergrund-Café passiert, kann Kalbermatten hinter der hellerleuchteten Scheibenfront des Lokales sitzen sehen, in Uniform, den gebürtigen Walliser, der in der geflochtenen Tragtasche seiner ledigen Mutter durch den Lötschberg gekommen ist und seither das Mittelland kaum mehr verlassen hat.

    Er tupft mit dem feucht gemachten Zeigefinger die letzten Krümel seines Käsekuchens auf, den er sich wie vor jeder Mittagsschicht einverleibt hat, und er will zahlen.

    Er möge diese Wähen zwar nicht sonderlich gern, sei aber daran gewöhnt, hat er mir vor Jahren einmal anvertraut, als wir beide Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht hatten und nebeneinander im Wartezimmer eines Internisten sassen: jeder einsfünfundsiebzig gross und sechsundsiebzig Kilogramm schwer, also mittlere Staturen, er bei der Bahn und ich sein Passagier.

    3

    Wenn mich Kalbermatten illegalerweise im Führerstand mitfahren lässt, setze ich vorsichtshalber das Gesicht eines Geleisearbeiters auf, um ihn beim Stationspersonal nicht in Verruf zu bringen. Während der Fahrt unterhalten wir uns über unser Dorf im Hunsrück, das wir von einem elfteiligen Fernsehfilm her kennen. Anstatt Du sagt man dort Dau zueinander, während Kalbermatten und ich selbstverständlich beim ordentlichen Sie bleiben.

    Im Hunsrück wird genau wie bei uns geliebt, gelebt, gehasst und gestorben. Unsere Gespräche über den Hunsrück sind Gespräche über uns, ohne dass wir einander dabei zu nahe treten würden auf der kurzen gemeinsamen Fahrt.

    „Der Jahrmarkt des Lebens", sagt Kalbermatten unverhofft, dreht an seinem Bremsrad, und ich weiss genau, an welche Szene er jetzt denkt. Beide haben wir das Frühlicht vor Augen, das über einem verlassenen Festplatz liegt, und die schmalen, nackten Füsse einer Frau, die über grün gesprenkelte Steinfliesen gehen im Film.

    4

    Beim ersten Halt auf Verlangen müssen wir jeweils leise sein, denn der Mann am Kiosk auf der gegenüberliegenden Strassenseite döst unruhig über seiner bunten Auslage. Wir wollen ihn nicht stören, wollen auch nicht geschwätzig werden über dem schwierigen Schicksal, das sofort wieder in sein Bewusstsein tritt, wenn er durch den Bahnlärm geweckt wird oder der Schatten eines Kunden über seine Auslage streicht.

    „Verkalkte Sulzergelenke links und rechts", flüstert Kalbermatten mir zu, ohne seinen Schienenstrang aus den Augen zu lassen.

    Die Türen schliessen automatisch.

    Wir sind jetzt eine Strassenbahn. Ich erzähle, was ich durch die offenen Fenster der bahnnahen Häuser alles sehen kann.

    „Wie auf dem Hunsrück", sagt Kalbermatten und behält die auswärtigen Automobilisten im Auge, die die Schienen nicht räumen wollen, pfeift mit Erfolg.

    5

    Ausweiche hat die Station in unserem Rücken geheissen. Sie ist unbemannt. Wir biegen also ohne Segen in die zweite grosse Gerade ein, queren sorgfältig und in rechtem Winkel das Geleise der Normalspurbahn – auf jeder Fahrt erfolgt dieser kleine Doppelschlag ins Kreuz des fahrenden Lokalbahnpersonals – und setzen in einem Zug über die vierspurige Autobahn hinweg.

    Damen und Herren in weissen Höschen

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