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Der Auschwitz-Prozess: Ein Lehrstück deutscher Geschichte
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Ebook285 pages3 hours

Der Auschwitz-Prozess: Ein Lehrstück deutscher Geschichte

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About this ebook

Im Dezember 2013 jährt sich zum 50. Mal der Auschwitz-Prozess. Vor Gericht in Frankfurt/Main standen 22 ehemalige SS-Angehörige jenes Konzentrationslagers, das zum Synonym für den Holocaust wurde - eine Zäsur bei der Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik. Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul aus der DDR vertrat Hinterbliebene von Auschwitz-Opfern als Nebenkläger. Im Buch werden Vorgeschichte und Ergebnisse des Prozesses analysiert. Es enthält neben ausgewählten Dokumenten persönliche Schilderungen von Prof. Kaul, wesentliche Auszüge aus seinem Schlussvortrag und der Urteilsbegründung.
LanguageDeutsch
Release dateSep 17, 2013
ISBN9783360500571
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    Book preview

    Der Auschwitz-Prozess - Ralph Dobrawa

    Impressum

    ISBN eBook 978-3-360-50057-1

    ISBN Print 978-3-360-02170-0

    © 2013 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

    Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,

    unter Verwendung eines Motivs von ullstein bild – dpa

    Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH

    Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin

    Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

    erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

    www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

    Der Textbeitrag »Persönliche Eindrücke eines Nebenklagevertreters« wurde dem Buch: Friedrich Karl Kaul, In Robe und Krawatte. Vor Gerichten der BRD, Berlin 1972, entnommen und den geltenden Rechtschreibregeln angepasst.

    VORWORT

    Der Ortsname Auschwitz ist bereits vor Jahrzehnten zum Sy­nonym für den Holocaust geworden. Mit dem Namen verbindet sich unendliches menschliches Leid, die Ermordung von Millionen Menschen, die wegen ihrer jüdischen Abstammung nach Auschwitz verschleppt wurden. Dort entschieden nach Eintreffen der Eisenbahntransporte an der sogenannten Rampe SS-Angehörige darüber, ob die Ankommenden sofort sterben mussten oder aber noch für einige Monate zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, bis auch sie vor Erschöpfung starben. Gemordet wurde systematisch und fabrikmäßig. Dies in einer Dimension und Perfektion, die die Menschheit bis dahin nicht kannte. Nicht nur die Tötung dieser Menschen, sondern auch deren Beraubung wurde geplant, organisiert und durchgeführt. Die Abscheu über das, was Menschen anderen Menschen im Konzentrationslager Auschwitz angetan haben, lässt sich kaum in Worte fassen. Der Gerichtsreporter Rudolf Hirsch schrieb später: »Auschwitz – kein Ort auf dieser Welt hat je Grauenvolleres gesehen. Hier wurden Millionen Menschen ermordet – maschinell. Sie wurden wie das Vieh ausgeschlachtet; was von ihnen nach Vergasung und Verbrennen übrig blieb, industriell verwertet.«

    Am 20. Dezember 1963 begann vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt am Main ein Strafverfahren gegen zweiundzwanzig ehemalige SS-Angehörige, die im Konzentrationslager Auschwitz in unterschiedlichen Funktionen tätig waren und auf diese Weise ihren individuellen Beitrag zur Durchsetzung nazistischer Rassenpolitik leisteten. Dieses Verfahren ist als Auschwitz-Prozess in die deutsche Rechtsgeschichte eingegangen und wird auch für künftige Generationen an Bedeutung nicht verlieren. Die juristische Behandlung der in Auschwitz verübten Untaten brachte zugleich Erschreckendes über das Funktionieren einer von staatlicher Hand gelenkten Massenmordmaschinerie zutage.

    Der Prozess stellte in der Gerichtspraxis der Bundesrepublik eine Zäsur dar. Erstmals wurden SS-Angehörige vor ein westdeutsches Gericht gestellt, die wegen ihrer in einem deutschen Konzentrationslager verübten Verbrechen angeklagt waren. In der bis dahin geübten Praxis mied man die juristische Auseinandersetzung mit solchen Taten weitgehend, Tatverdächtige wurden geschont. Die Ursache für die allgemeine Unlust an der Verfolgung von NS-Verbrechen rührte ohne Zweifel daher, dass ein großer Teil von Richtern und Staatsanwälten, die bereits während des Dritten Reiches »Recht« sprachen, nahtlos in den Justizapparat der Bundesrepublik übernommen wurden. Dabei verlangte man ihnen keineswegs ab, sich vom früheren Handeln zu distanzieren oder sich zu antifaschistisch-demokratischen Grundsätzen zu positionieren. Es wurden auch Personen übernommen, die an der Abfassung von Todesurteilen oder an der Durchsetzung nazistischer Rassenpolitik beteiligt gewesen waren. Dies hatte selbst Auswirkungen in Forschung und Lehre, NS-belastete Juristen waren weiterhin als Professoren tätig. Selbst wenn sie keine faschistischen Gesetze und Vorschriften mehr propagieren oder kommentieren konnten, so mangelte es ganz wesentlich an einer konsequenten Auseinandersetzung mit der Rolle der Justiz während des Dritten Reiches. Kein einziger Richter, der in den Jahren 1933 bis 1945 an der Durchsetzung faschistischer Rechtsprechung und Umsetzung der Machterhaltung des nazistischen Staates mitgewirkt hatte, musste sich in der Bundesrepublik verantworten. Der einzige, der diesbezüglich strafrechtlich verfolgt wurde, ist dann in letzter Instanz durch den Bundesgerichtshof auch freigesprochen worden.

    Die Bundesrepublik war bereits im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz, als erstmals der Bundesgerichtshof sein eigenes diesbezügliches Versagen kritisch rückblickend eingestand. Es waren NS-Juristen, die bis zur letzten Stunde des Nazi-Regimes geurteilt hatten. Zeugnis hierfür ist der erst im Jahr 2008 gewissermaßen nachträglich herausgegebene Band der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen zwischen Mai 1944 bis März 1945. Diese amtliche Sammlung war 1945 kriegsbedingt nicht mehr erschienen. Hier setzte man sich mit dem »Beistandleisten gegenüber einem Schutzhäftling« ebenso auseinander wie mit dem »Begriff der Verleitung zur Dienstflucht aus dem Reichsarbeitsdienst« oder der Feststellung, »wer seinen Geschäftspartnern gegenüber, die Mitglieder der NSDAP sind, verschweigt, dass er Halbjude sei, kann sich eines Betruges durch Verschweigen schuldig machen«. Es sollten keine fünf Jahre bis zur Gründung der BRD vergehen, die dann Richter dieses Schlages wieder in ihren Dienst stellte.

    Die Deutsche Demokratische Republik ist einen anderen Weg gegangen. NS-belastete Richter und Staatsanwälte wurden nicht übernommen, auch wenn das in den ersten Jahren zu Schwierigkeiten führte, ehe neu ausgebildete Juristen zur Verfügung standen. Volksrichterlehrgänge trugen unter anderem dazu bei, die erste Not zu lindern. Die juristischen Defizite konnten alsbald aufgeholt werden, die Ausbildung an den Hochschulen und Universitäten war von antifaschistischem Geist geprägt. Das schloss nicht aus, dass einzelne, ehemals bürgerliche Juristen an der Ausbildung mitwirkten. Voraussetzung war, dass sie sich nicht in strafbarer Weise im faschistischen System engagiert hatten und bereit waren, die Grundsätze des neuen demokratischen Aufbaus zu vermitteln. Von diesem allen war auch die Verfolgung von NS-Gewalttätern geprägt. Die DDR führte die Masse der Prozesse in den ersten Jahren ihrer Existenz durch und erreichte frühzeitig einen hohen Stand der juristischen Auseinandersetzung mit dieser Form staatlich gelenkter Kriminalität.

    In der Bundesrepublik begann erst seit Durchführung des Auschwitz-Prozesses ein sukzessiver Wandel. Auch wenn die verkündeten Strafen in diesem Prozess auf ein sehr geteiltes Echo in der Welt stießen und auch vielfach unbefriedigend geblieben sind, wurde doch öffentlich aufgeklärt, was sich in Auschwitz abgespielt hatte. Zeugen aus vielen Teilen der Welt hatten zum ersten Mal Gelegenheit, über ihre Erfahrungen in Auschwitz zu berichten und dazu beizutragen, dass eine Bestrafung der Täter möglich wurde. Die Durchführung des Prozesses und auch seine Entstehungsgeschichte zeigen deutlich, dass er auf Initiative Einzelner zustande kam, die aus dem Schatten des Schweigens heraustraten. Wir wissen heute, dass ohne das konsequente Handeln von Fritz Bauer und die mühevolle Arbeit der von ihm beauftragten Staatsanwälte der Prozess in dieser Form nicht hätte durchgeführt werden können. Andere Akteure haben diese Grundhaltung nachhaltig unterstützt. Zu erwähnen sind hier die Nebenklagevertreter Friedrich Karl Kaul und Henry Ormond, auch der Sachverständige Jürgen Kuczynski. Sie alle trugen dazu bei, dass dieser (erste) Auschwitz-Prozess ein Lehrstück wurde. Das zeigt sich auch darin, dass im Jahr seiner Beendigung bereits der zweite Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main begann, bei dem sich erneut SS-Angehörige für ihr Untaten verantworten mussten.

    Dieses Buch anlässlich des 50. Jahrestages des Auschwitz-Prozesses soll auch jene Ereignisse wieder in den Focus des Lesers stellen, mit denen sich das Frankfurter Schwurgericht damals befasste. Es ist zugleich eine Mahnung, da nach wie vor gilt, was Bertolt Brecht einst formulierte: »Der Schoß ist fruchtbar noch …« Erinnern wollen wir an das Wirken von Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul, der die Interessen von mehreren in der Deutschen Demokratischen Republik ansässigen Nebenklägern wahrnahm und dem Verfahren durch seine aktive Mitwirkung und Einflussnahme eine besondere Prägung gab.

    Gotha, August 2013

    Ralph Dobrawa

    DIE VERFOLGUNG NAZISTISCHER GWALTVERBRECHEN NACH DEM ENDE DES 2. WELTKRIEGES

    Als sich die Alliierten Anfang Februar 1945 auf der Krim zur sogenannten Konferenz von Jalta trafen, war auch die Bestrafung der Kriegsverbrecher Gegenstand der Beratungen. Man kam überein: »Nur dann, wenn Nationalsozialismus und Militarismus ausgerottet sind, wird für die Deutschen Hoffnung auf ein würdiges Leben und einen Platz in der Völkergemeinschaft bestehen.« In den Beschlüssen der Konferenz wurde festgehalten: »Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, dass Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören. Wir sind entschlossen […] alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen […] die nationalsozialistische Partei, die nationalsozialistischen Gesetze, Organisationen und Einrichtungen zu beseitigen, alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse aus den öffentlichen Dienststellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes auszuschalten.«

    Im Ergebnis des erneuten Treffens der Alliierten in Potsdam vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 kam es zum Abschluss des Potsdamer Abkommens. Dort heißt es unter III A 5: »Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Gräuel und Kriegsverbrechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. Nazistische Parteiführer, einflussreiche Nazianhänger und die Leiter der nazistischen Ämter und Organisationen und alle anderen Personen, die für die Besetzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren.« Kurze Zeit darauf wurde im August 1945 das Viermächte-Abkommen »über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse« verabschiedet. Artikel 1 dieses Abkommens sah die Bildung eines Internationalen Militärgerichtshofs vor, »zur Aburteilung der Kriegsverbrecher, für deren Verbrechen ein geografisch bestimmbarer Tatort nicht vorhanden ist, gleichgültig, ob sie angeklagt sind als Einzelpersonen oder in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Organisationen oder Gruppen oder in beiden Eigenschaften«.

    Bestandteil dieses Abkommens ist das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof. Hierin wurde unter anderem festgelegt, welche Handlungen Verbrechen darstellen, »die der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterliegen und für die persönliche Verantwortlichkeit besteht«. Das waren Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter Letzterem verstand das Statut »Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen […] Anführer, Organisatoren, Anstifter und Mitschuldige, die am Entwurf der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen beteiligt sind, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.« (Artikel 6) Dabei wurde in Artikel 8 ausdrücklich vorgesehen: »Die Tatsache, dass ein Angeklagter auf Befehl seiner Regierung oder eines Vorgesetzten gehandelt hat, gilt nicht als Strafausschließungsgrund, kann aber als Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden.« Auf dieser Grundlage kam es zum Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, in dessen Folge Hermann Göring, Rudolf Heß und andere Nazis zum Tod oder langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Es folgten zwölf weitere Prozesse vor amerikanischen Militärgerichten in Nürnberg, unter anderem gegen Ärzte, Juristen, Angehörige von Konzentrationslagern. Auch hier wurden Todesstrafen, lebenslängliche und zeitlich beschränkte Freiheitsstrafen ausgesprochen.

    Wesentliche Rechtsgrundlage war das von den Alliierten am 20. Dezember 1945 erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 10. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten – Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik – wurde sukzessive die Verantwortung für die Verfolgung nazistischer Gewalttaten auf die Gerichte des jeweiligen Staates übertragen. In der Sowjetischen Besatzungszone erfolgte dies auf der Grundlage des bereits am 16. August 1947 erlassenen Befehls Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Das Interesse an der Verfolgung der zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen war in beiden deutschen Staaten jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Die Bundesrepublik hat sich dabei über einen sehr langen Zeitraum verhalten »wie der Jagdhund, der zur Jagd getragen werden muss«, wie das Friedrich Karl Kaul am Beispiel der Verfolgung der Tatverdächtigen an der Ermordung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann einmal formuliert hat.

    Das Straffreiheitsgesetz von 1949 war ein erster Schritt in diese Richtung, die ganz eindeutig sowohl politisch wie juris­tisch gewollt war. Dabei fällt auf: »Nicht ein einziger Redner legte offen dar, dass sich die Amnestie auf Straftaten bis hin zur Körperverletzung mit Todesfolge, ja in minderschweren Fällen selbst auf Totschlag erstrecken sollte – und das es solche bisher weder amnestierten noch verjährten Delikte seit der ›Reichskristallnacht‹ nicht eben selten gegeben hatte.« Dieses Fazit zog der Historiker Norbert Frei 1996 in seinem Buch »Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit.« Dem Straffreiheitsgesetz folgte die Wiedereingliederung der aus dem öffentlichen Dienst ausgeschiedenen und mit NS-Vergangenheit belasteten Personen. »Anfang der 50er Jahre ließen die Anstrengungen, Untaten aus der NS-Zeit strafrechtlich zu ahnden, auffallend rasch und drastisch nach.« Frei führt weiter aus: »Einer der Gründe für den unübersehbaren Verfall der Ahndungsmoral so bald nach Entstehung der Bundesrepublik war die durch das ›131er‹-Gesetz garantierte hochgradige personelle Kontinuität im Bereich der Justiz, die, in der Wahrnehmung der Begünstigten, dadurch auch ihre politische Rechtfertigung erfahren zu haben schien. Etliche Staatsanwälte und Richter waren, wie eine Vielzahl verzögerter Ermittlungen, Verfahrens­einstellungen und außerordentlich milder Urteile erweist, in NS-Strafsachen zu einer angemessenen Handhabung der Gesetze immer weniger bereit.« So wundert es nicht: »Die Zahl der neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren sackte in diesem Jahr auf ein Rekordtief ab, und im Jahr darauf wurden lediglich 21 Personen rechtskräftig verurteilt – ein Tiefstand, der bis in die 60er Jahre nur einmal (1959) unterschritten werden sollte.«

    Das zweite Straffreiheitsgesetz aus dem Jahr 1954 stärkte diese politische, moralische und juristische Fehlhaltung, indem letztlich »alle jene, die sich vor 1945 an hilflosen und wehrlosen Menschen so mörderisch und viehisch vergangen hatten, begnadigt [wurden], wenn nicht mehr als drei Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten waren«, wie der Bundestagsbericht von 1955 festhielt. Die Taten mussten laut »Gesetz über den Erlass von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren vom 17. Juli 1954« nur »in der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere eines Befehls, begangen worden« sein.

    Wie bereits dargelegt, galt die Berufung auf Befehl allenfalls als Strafmilderungsgrund. Am 8. Mai 1960 verjährten alle strafrechtlich relevanten Handlungen, die während der Naziherrschaft begangen wurden, wenn sie nicht als Mord einzustufen waren. Eine heftige Debatte im Deutschen Bundestag am 10. März 1965 führte zumindest dazu, dass die drohende Verjährung für Mord nicht eintrat (die Verjährungszeit belief sich damals auf 20 Jahre mit Verjährungsbeginn 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation des NS-Regimes. Dieses Datum wurde später in das Jahr 1949 verschoben). Durch das 9. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1969 verlängerte sich die Verjährungsfrist für Mordtaten auf 30 Jahre, und erst mit dem 16. Strafrechtsänderungsgesetz vom 3. Juli 1979 wurden die Bestimmungen über eine Verjährung bei Mord ganz aufgehoben. Bereits im Jahr 1968 hatten die Vereinten Nationen eine Konvention über die Nichtanwendbarkeit der gesetzlichen Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verabschiedet, der die Bundesrepublik allerdings nicht beigetreten ist.

    In der Deutschen Demokratischen Republik wurde der Verfolgung von Nazigewaltverbrechern stärkere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hing nicht nur damit zusammen, dass zahlreiche Antifaschisten in verantwortlichen Positionen tätig waren, sondern es bestand auch ein breiterer gesellschaftlicher Konsens, diese Verbrechen konsequent zu verfolgen. Die Masse der Verfahren wurde bereits bis zum Jahr 1950 durchgeführt.

    Staatsanwalt Peter Przybylski konstatierte in seinem Buch »Zwischen Galgen und Amnestie. Kriegsverbrecherprozesse im Spiegel von Nürnberg«: »Bis zum 31. Dezember 1950 waren bereits 12 147 Personen abgeurteilt, das sind etwa 95 % aller bis zum heutigen Tag auf dem Gebiet der DDR zur Verantwortung gezogenen Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit. Obwohl die DDR nur ein Drittel des Territoriums des ehemaligen Deutschen Reiches umfasst und zahlreiche Naziverbrecher 1945 in die Westzonen bzw. in die BRD geflohen waren, ist die Zahl der hier verurteilten Täter doppelt so hoch wie in der BRD – von der Höhe des durchschnittlichen Strafmaßes ganz zu schweigen.« Zum Ende des Jahres 1978 waren es insgesamt 12 861 verurteilte Kriegsverbrecher.

    Dabei wendete die DDR stets das Völkerrecht an, nicht zuletzt auch, um deutlich zu machen, dass es sich keineswegs um gewöhnliche Kriminalität, sondern um staatlich gelenkte und geleitete Straftaten handelte. Die Nichtverjährbarkeit von Nazi- und Kriegsverbrechen wurde darüber hinaus mit einem Gesetz vom 1. September 1964 ausdrücklich bekräftigt. Die DDR bekannte sich damit zu den Nürnberger Grundsätzen, was auch in Artikel 91 ihrer Verfassung Niederschlag fand.

    Das in den 60er Jahren in der DDR herausgegebene »Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik in Staat, Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft« machte auf die Dimension des Phänomens der Nichtverfolgung dort aufmerksam. Im Gegenzug gab es – der Diktion des Kalten Krieges folgend – Vorwürfe in gleicher Richtung gegenüber der DDR, die sich jedoch nur in geringem Umfang als begründet erwiesen.¹ Inzwischen hat sich bestätigt, dass das Braunbuch nur wenige Fehler enthielt.

    1 Einzelheiten dazu sind nachzulesen in: Joseph, Detlef »Hammer, Zirkel, Hakenkreuz. Wie antifaschistisch war die DDR?« und ders. »Nazis in der DDR«

    VORGESCHICHTE UND VERLAUF DES FRANKFURTER AUSCHWITZPROZESSES

    Die politische und faktische Situation in Bezug auf die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen macht deutlich, weshalb in den späten 40er und 50er Jahren in der BRD eine Verfolgung von Handlungen, die in Konzentrationslagern begangen wurden, nahezu nicht stattfand. Das betrifft insbesondere das Konzentrationslager Auschwitz, welches sowohl von der Größe seiner Grundfläche wie auch von der Anzahl der Häftlinge, die durch die Hölle des Lagers gehen oder dort sterben mussten, an der Spitze steht. Ermittlungen von Amts wegen waren bis zur Errichtung der Zentralstelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg eher selten.² Viele Verfahren kamen erst auf konkrete Anzeigen hin in Gang. So war es auch, als ein ehemaliger Auschwitz-Insasse bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart Anfang 1958 Anzeige erstattete gegen den ehemaligen SS-Mann Wilhelm Boger, der sich im Raum Stuttgart aufhielt.

    »Schleppend nur kamen die Ermittlungen in Gang. Erst der vom Internationalen Auschwitz-Komitee durch seinen Generalsekretär Hermann Langbein (Wien) ausgeübte Druck veranlasste den Stuttgarter Sachbearbeiter, durch die Vernehmung von Zeugen – allesamt von dem Anzeigeerstatter Adolf Rögner und auch Hermann Langbein benannt – Beweismittel herbeizuschaffen. Im Oktober 1958 wurde Boger endlich in Untersuchungshaft genommen. Im Januar 1959 übergab der Holocaust-Überlebende Emil Wulkan dem Frankfurter Journalisten Thomas Gnielka Dokumente, Schreiben der Auschwitzer Kommandantur sowie des SS- und Polizeigerichts XV in Breslau. In der Korrespondenz aus dem Jahre 1942 waren SS-Männer aufgelistet, die Häftlinge ›auf der Flucht‹ erschossen hatten. Der Journalist erkannte die Bedeutung der Dokumente und leitete sie an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer weiter.« ³

    Der 1903 in Stuttgart geborene Fritz Bauer stammte selbst aus einem jüdischen Elternhaus. Nach dem Studium der Staats- und Rechtswissenschaften und der Promotion wurde er Richter in Stuttgart. Frühzeitig bekannte sich Bauer zur SPD. Später beriet er juristisch die ihr nahestehende Organisation »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«. Bauer war zielstrebig und hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Neben der Juristerei befasste er sich auch mit Literatur und Philosophie. Das Luther zugeschriebene Wort »Ein Jurist, der nur ein Jurist ist, ist ein arm Ding« scheint sein Handeln

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