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Die unsichtbare Fotografin
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Die unsichtbare Fotografin

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Als Alice die Fotoapparate ihres Großvaters geschenkt bekommt, weiß sie, was sie will: Fotografin werden. Inzwischen zählt sie zu den Erfolgreichen der Branche und ist ständig unterwegs, reist von Shanghai nach Mailand, von Tokio nach New York, immer mit leichtem Gepäck. Einer von Bildern überfluteten Welt setzt Alice ihren eigenen Blick entgegen. Für sie zählt nur die Schönheit, sie allein will sie festhalten. Mit ihrem egomanischen Bruder Bob, einem Schriftsteller in der Krise, verbindet sie eine sehr enge Beziehung. Wo immer Alice ist, ist auch Bob, und wenn Bob einmal nicht da ist, ruft Alice nach ihm, obwohl die beiden die Welt sehr unterschiedlich wahrnehmen. Im Gegensatz zu Bob glaubt Alice weder an die Sprache noch wie James, ihrem großen Vorbild als Fotograf, an die verändernde Wirkung von Fotos. Politik interessiert sie nicht, doch verstörende Fotos konfrontieren sie damit und mit ihren eigenen Verunsicherungen, sobald sie nicht mehr in die Schönheit flüchten kann. Ihre Welt verengt sich mehr und mehr, aber Alice ist selbstsicher genug, sich nicht den aufgezwungenen Bedingungen zu unterwerfen, sondern erneut aufzubrechen ...
LanguageDeutsch
Release dateFeb 6, 2013
ISBN9783701361519
Die unsichtbare Fotografin

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    Die unsichtbare Fotografin - Elisabeth Reichart

    Mailand

    Shanghai

    Verändertes Shanghai – jedes Mal sah ich eine andere Stadt, soweit etwas von ihr zu sehen war und sie nicht im Smog verschwunden blieb. Ich fotografierte die Veränderungen für ein Architekturmagazin, hatte es aufgegeben, meinen Weiterflug nach Japan im Voraus zu buchen. Auf mehr als diesiges Licht hatte ich nur vor drei Jahren gehofft, als ich staunend nach dem Himmel suchte, der sich nicht zeigen wollte. Mir gefielen die Aufnahmen der Wolkenkratzer, die im Smog verschwanden, besser als die im diesigen Licht, aber das Magazin war anderer Meinung, die Architekten wollten ihre nachgeahmten Gebäude sehen, die ohne sie mitten in die Zukunft hinein wuchsen. Nirgendwo sonst pulsierte das Leben so hektisch himmelwärts stürmend wie in dieser Stadt, die keine Zeit hat, ihre Toten zu begraben. Eine ungewöhnliche Bemerkung von Li bei meinem letzten Besuch, begleitet von einem Lächeln, das ich nicht deuten konnte.

    Li erwartete mich am Flughafen, würde wieder für mich übersetzen, wie bei all meinen Aufenthalten zuvor. Ich hatte mir Li nicht ausgesucht, er wurde mir von der Stadtregierung zugeteilt, eine großzügige Geste, die nur wenigen Besuchern gewährt wurde, betonte Li in unserem ersten Gespräch. Eine Fotografin braucht keinen Dolmetscher, hatte ich geantwortet und Li in Verdacht, nicht nur mein Dolmetscher zu sein. Das Lächeln begleitete inzwischen alle seine Sätze, hatte sich im Gesicht festgesetzt, wo zuvor die Überzeugungen die Haut spannten. Li ist so alt wie ich, doch das hatte unsere Unterhaltungen nicht erleichtert. Er hatte sich einfach abgewandt, sobald ich unangenehme Fragen stellte, oder mich scharf zurecht gewiesen, indem er die Weisheit der Partei betonte. Mit schneidender Arroganz hatte er manchmal hinzugefügt, ob ich etwa glaube mehr zu wissen als die Partei, und ich hatte es aufgegeben, ihn etwas zu fragen, wollte nicht vor einer menschlichen Stimme erschrecken, noch dazu vor einer, auf die ich dank großzügiger Entscheidung angewiesen, die meine zweite Stimme in diesem Land war.

    Der Smog war dichter als je zuvor. Nichts wies darauf hin, dass ich in Shanghai war, ich könnte ebenso gut in Peking sein oder in einer beliebigen anderen chinesischen Boomtown. Lachend fragte ich Li, ob wir wirklich in Shanghai seien, und war überrascht von seiner Antwort: Nein, keine Spur, alle Sicherheiten seien auf den Mond ausgewandert, aber sie würden bald woanders hinziehen, wenn der Verkehr im Weltraum weiterhin so zunehme.

    Ob denn die Beschwerden der Mondfrau nicht gehört würden, fragte ich zurück, und wir kicherten vor uns hin, während Li meinte, die Beschwerdekommission sei kollabiert unter dem Mondgestein, das die Mondfrau geschickt habe.

    Wir sprachen Englisch, der Taxifahrer hatte mich zwar mit einer auswendig gelernten Begrüßungsformel willkommen geheißen, aber die wenigen Worte fielen ihm so schwer, dass ich sicher war, er würde uns nicht verstehen. Trotzdem wollte ich Li nicht wieder fragen, warum die Bewohner diesen Smog hinnahmen oder die Regierung das unbedingte Bedürfnis verspürte, alles unter Smog zu begraben. Die Fahrt wurde immer langsamer, bis wir nur noch standen. Neben dem Taxi ging ein Mann vorbei, der zwei Schweine an der Leine führte, die in roten Jacken steckten und Federhüte trugen. Ich hatte selten eine so komische Gruppe auf einer Straße gesehen. Welch ein mutiger Protest, flüsterte ich, um Li die Chance zu geben, mich einfach nicht zu hören. Ich fotografierte sie so, dass das Gesicht des Mannes nicht erkennbar war. Die Vorstellung, jemanden durch meine Fotos zu gefährden, hatte mir während meines ersten Aufenthalts hier schlaflose Nächte verursacht. Immer wieder war ich hochgeschreckt, hatte Fotos am Computer gelöscht, aus Angst, jemand könnte sie während meiner Abwesenheit herunterladen. Damals hatte ich wirklich nur Aufnahmen von Wolkenkratzern, Straßen, Dächern mitgenommen.

    Während die Ampel auf Grün schaltete, das Taxi langsam an den Schweinen vorbeifuhr, flüsterte Li, dass immer mehr Bauern verrückt würden, ihnen werde alles zugemutet: Umsiedlungen, unmögliche Erntevorgaben, sogar des Wassers würden sie beraubt für die Boomtowns. Sie verließen das Land, aber nicht wie die Wanderarbeiter, um in der Stadt unter den unmenschlichsten Bedingungen zu arbeiten, sondern um den Wahnsinn sichtbar zu machen, den sie sich nicht länger vom Leib halten konnten. Wie um Lis Worte zu bestätigen, saß an der nächsten Kreuzung eine Gruppe von Bauern auf dem Gehsteig und peitschte einen Yak aus, der unbeweglich stand, als würde ihn das nichts angehen.

    Ich bat den Taxifahrer stehen zu bleiben, hörte erst, als ich nahe bei der Gruppe war, das Pfeifen der Peitschen, das Stöhnen der Bauern. Es klang, als würden sie ausgepeitscht werden und die Peitschen wären in fremden Händen, über die sie nicht verfügten.

    Jemand fasste mich am Arm, und während ich noch überlegte, ob ich ein ungeschriebenes Gesetz verletzt haben könnte, hörte ich Li freundlich sagen, keine Angst, die Yaks haben ein dickes Fell, so dick, dass sie nichts spüren. Sieh, wie die Männer die Bewegung abbremsen, kurz bevor die Peitsche trifft.

    Das Lächeln machte aus dem strengen Gesicht ein komödiantisches, das mir gefiel, vor dem ich mich nicht länger fürchtete. Li hatte sich verändert, die Überzeugungen waren brüchig geworden. Das Leben in Shanghai hatte offensichtlich Tag für Tag einige Kratzer in der roten Festung hinterlassen.

    Ich war im selben Hotel wie immer untergebracht. Kaum war ich in meinem Zimmer, konnte ich es nicht mehr von anderen ähnlichen unterscheiden. Ich schaltete den Fernseher ein, die Gesichter auf dem Bildschirm wirkten vertraut, ich bemerkte erst wieder, dass ich in Asien war, als ich kein Wort verstand, obwohl mir das mit einer eigenartigen Verzögerung auffiel, während der ich mir einbildete, den Nachrichten zuzuhören. Ich fiel angezogen aufs Bett und schlief sofort ein. Im Traum schlich ich durch Nebel, der immer wieder plötzlich aufriss und mir die schönsten Motive bot, doch ich war zu müde, um schnell genug nach der Kamera zu greifen.

    Als ich zwanzig war, schenkte mir mein Vater die Fotoausrüstung seines Vaters. Wahrscheinlich war sie ihm im Keller oder in einem Abstellraum in die Hände gefallen, sonst gab es keine Erklärung dafür, warum ich sie nicht spätestens zur Matura bekommen hatte. Sie war wie ein Geschenk des Himmels für mich, ich war sofort besessen von der Möglichkeit, all das Schöne auf dieser herrlichen Erde festhalten zu können und wusste in dem Moment, in dem ich die Kameras in die Hand nahm, dass ich Fotografin werden wollte. Alle Unsicherheit verschwand, es war kein Problem mehr, mich für eine Tätigkeit zu entscheiden, was ich bis dahin als schreckliche Zumutung empfunden hatte, fast als Todesurteil, dem ich mit allen Tricks und Ausreden, vorgetäuschten Interessen und Krankheiten zu entkommen versuchte. Ich hatte noch nie eine eigene Wohnung, lebe lieber in Hotels und reise mit leichtem Gepäck. Seitdem ich die schweren Kameras meines Großvaters, der außer seinen Fischen nichts mit ihnen fotografiert hat, weder seine Frau noch seinen Sohn, nie den Traunsee oder Gmunden, gegen Digitalkameras getauscht habe, wiegt auch mein drittes Auge nicht mehr so schwer.

    Der Wecker läutete, am liebsten hätte ich mich umgedreht und weitergeschlafen. Ich konnte mich nicht erinnern, wie sich mein Körper ausgeschlafen anfühlte, dieser erfreuliche Zustand musste Jahre her sein. Ich brauche Urlaub, Schlafurlaub, warum nicht in diesem Hotel, gleich jetzt, doch Li rief an und bestand darauf, dass der Empfang wichtig sei, es dort Informationen für mich geben würde, die ich nirgendwo sonst bekommen könnte.

    Welche Informationen, wollte ich wissen und konnte mir keine einzige vorstellen, die wichtiger als mein Schlaf wäre.

    Über die Entwicklung von Shanghai, meinte Li vage, und ich hörte ein Zittern in seiner Stimme. Lachte er oder hatte er Angst?

    Es ist eine offizielle Einladung, wenn du keine Schwierigkeiten bekommen willst, solltest du sie annehmen.

    Das Zittern der Stimme hatte sich verstärkt, und ich konnte seine Angst spüren.

    Dress up, dress up, wiederholte Li. Ich stellte mich unter die Dusche, die mich halbwegs wach machte, zog mein einziges, dafür unzerknitterbares langes Kleid an, schlüpfte in mein einziges Paar Stöckelschuhe, legte mir meinen einzigen Seidenschal um und schminkte mir die Lippen. Meine Haare waren noch feucht, aber zum Föhnen blieb keine Zeit. Erst im Lift dämmerte mir, dass es bei diesem offiziellen Empfang sicher Fisch und Schalentiere zu essen geben würde, nichts als Fisch und Schalentiere sogar, denn die reichen Chinesen lieben Fisch und Schalentiere. Fisch in schwarzem Tee gekocht, der aussieht, als wäre er in einem Schlammbad erstickt. Die Vorstellung verursachte mir Gänsehaut. Dabei habe ich so gerne Fisch gegessen, jammerte ich im Taxi, aber seitdem ich vor vier Jahren in Berlin an einer Massenfischvergiftung teilgenommen habe, kann ich Fisch nicht einmal mehr riechen, ohne dass mir übel wird. Außerdem ist Fisch nicht, wie alle behaupten, gesund, triumphierte ich jetzt, die großen, langlebigen Fische sind sogar ausgesprochen ungesund, verseucht von den Schwermetallen, die wir so freundlich sind im Meer abzulagern, und von Flussfischen hier in China möchte ich nie, nie träumen. Li nickte, hörte geduldig zu, meinte freundlich, ich weiß, ich weiß, dieses Problem hast du, seitdem ich dich kenne. Umso unverschämter, mich zu einem Fischempfang einzuladen, presste ich hervor. Von all meinem Fischgerede war mir bereits schlecht geworden. Li versuchte mich abzulenken. Mein Englisch sei nicht ganz korrekt, nicht die Fische würden empfangen, sondern Architekten und Bauherren, und ich hätte sicher nicht an einer Massenfischvergiftung teilgenommen, sondern einfach giftigen Fisch gegessen. Sein Lächeln fand ich immer netter und den Singsang der Worte ebenso. Früher wäre mir eine harsche Zurechtweisung sicher gewesen, doch jetzt, welch eine Veränderung. Ich beobachtete unauffällig Lis Gesicht und fand es zum ersten Mal schön.

    Offensichtlich bin ich dabei, mich zu verlieben, sagte ich nachts zu Bob am Telefon, und mein Bruder stöhnte, bitte nicht, tu mir das nicht an, Alice, erinnere dich an deine letzte Verliebtheit, es war schrecklich, um die ganze Welt seid ihr euch ständig nachgereist, nur um euch immer um einige Stunden zu verpassen, das war ein unendlicher Horrortrip, ihr zwei habt gereicht, um den Globus zu vernichten! Ich hätte Bob an seine Exfrauen und die von ihm veranstalteten Exzesse erinnern können, aber ich war zu beschwingt von dem Wein, dem kribbelnden Gefühl in meinem Körper, der Pekingente, die Li für mich bringen ließ, ist das nicht nett von Li, fragte ich Bob, ohne seine Antwort abzuwarten, alle anderen haben Fisch und Schalentiere gegessen, sogar Hummer, nein, vor allem Hummer, dabei glauben die Chinesen an die Wiedergeburt, sogar an eine als Tier, und wer bitte möchte schon lebendig gekocht werden, doch Bob wurde ungeduldig, wollte nichts hören von der köstlichen Pekingente und den armen Hummern, sondern wissen, wann ich endlich wieder nach Chikago käme, unser Freund Fred hätte eine sensationell erfolgreiche Ausstellung, von der die internationale Kunstwelt schwärme, beinlose Pferde, überall falle man über diese beinlosen Kreaturen, schauerlich! Aber ich bitte dich, Bob, wegen einer schauerlichen Ausstellung soll ich nach Chikago kommen, du bist ja schon genauso verrückt wie Fred. Das hätte ich besser nicht gesagt, denn nun begann Bob über die Vorteile der Verrücktheit zu monologisieren, alle Normalen seien einfach unerträglich langweilig, jede Minute mit ihnen Zeitverschwendung, und lieber wäre er noch viel verrückter als Fred, sollte das der Preis sein, um schreiben zu können, wenn auch nicht über beinlose Pferde, nein, so ein Schwachsinn interessiere ihn nicht einmal in den schrecklichsten Stunden seiner abgründigen Gedankenstille, aber wahrscheinlich sei genau das sein Problem, dass ihn beinlose Pferde nicht inspirierten, ja, nicht einmal interessierten. Dieses mangelnde Interesse sei ein eindeutiger Beweis für die Überreste des Kleinbürgertums in ihm. Es sei doch kein Zufall, dass er sich immer am wohlsten fühle, wenn er an einem Manuskript die kleinen Unstimmigkeiten ausbessere, das seien seine wahren Glücksmomente, Fehler zu entdecken und zu korrigieren, eigentlich sei er ein zum Volksschullehrer geborener Mensch, und vielleicht sollte er diese Bestimmung endlich annehmen, oder müsse es heißen, sie erfüllen? Egal, als Volksschullehrer wüsste er wenigstens, dass er innerhalb eines Jahres sterben würde, und vielleicht sei so ein Ablaufdatum die wahre Herausforderung?

    Bob, wir kommen aus einem großbürgerlichen Haus, warf ich ein, doch mein Bruder lachte mich aus. Unser Elternhaus sei zwar groß, meinte er, aber darin erschöpfe sich bereits alle Größe, ja, das riesige Haus hätte jegliche Größe für sich beansprucht, sodass nichts, absolut nichts davon für uns übrig blieb. Ein Wirtschaftsanwalt, der den Ausverkauf Österreichs an das deutsche Großkapital rechtlich ermöglichte, sei kein Großbürger, auch kein Weltbürger, wie ich sicher in ewiger Verteidigung unseres Vaters einwenden wollte, sondern ein Kleinbürger, der nur an sein eigenes Geld denke. Und eine Mutter, die zwar Schürzen verabscheue, aber dafür tagsüber im Abendkleid herumrenne, sei… Nein, Bob, ich habe heute nicht die geringste Lust, mir das anzuhören, unterbrach ausnahmsweise ich meinen Bruder. Verliebte sind Egomanen, stöhnte er, aber du hast recht, ich bin zu alt dafür, ich sollte endlich erwachsen werden, warum hast du mich nicht mitgenommen in dein Zelt, dann wäre ich dem Haus entkommen, aber nein, du wolltest schon als Kind lieber allein sein. Das stimmt doch nicht, Bob, du hast das Zelt gemieden, ich hätte mich sogar über Kürzestbesuche von dir gefreut. Doch Bob interessierte sich nicht mehr für mein Zeltleben, sondern stöhnte: Wenn ich nur schreiben könnte, das kommt alles nur daher, weil ich so eine verfluchte Fantasieblockade durchlebe, und das ausgerechnet jetzt und ausgerechnet in Chikago: Die Welt um mich vibriert, das Stipendium ist großzügig, die Bibliothek ist Tag und Nacht offen, alle Spezialisten warten nur darauf, dass ich sie mit meinen Fragen bedränge, aber ich habe keine Fragen, keine einzige, obwohl, vielleicht habe ich heute endlich eine neue Hauptfigur gefunden, Bernays, ein Neffe von Sigmund Freud, unglaublich, er hat Freuds Entdeckung des Unbewussten für den Kapitalismus nutzbar gemacht: Wecken wir Bedürfnisse, von denen die Menschen nicht einmal ahnen, dass es sie gibt. Dieses verrückte Land sieht selbst im Unbewussten nur eine Quelle für Profit. Bernays wurde nicht nur steinreich, sondern auch steinalt. Hast du ihn nicht einmal fotografiert?

    Ich bin müde, es war ein langer Tag, und wie immer konnte ich im Flugzeug nicht schlafen.

    Alice, hast du ihn nun fotografiert oder nicht?

    Ja, vor vielen Jahren, wie du dir ausrechnen kannst. Wahrscheinlich war Thomas verkatert oder krank, sicher bin ich für ihn eingesprungen. An den alten Herrn erinnere ich mich kaum, aber selbst wenn ich mich an jede Geste, jedes Wort von ihm erinnerte, würde dir das nichts nützen, du weißt doch, dass dir erfolgreiche Männer nicht liegen, binnen weniger Wochen endet alles in einem Fiasko.

    Bob hatte aufgelegt. Er ertrug es nicht, an seine gescheiterten Versuche erinnert zu werden. Kaum hatte ich Ruhe, sah ich Lis Augen wieder vor mir, hörte den Singsang der Stimme in mir, spürte erneut seine Aufmerksamkeit, die mich den ganzen Abend umgab. Li hatte eine Mappe meiner Shanghaifotos auf den Empfang mitgebracht und sie mehreren Gesprächspartnern gezeigt, eher geheimnisvoll als aufdringlich. Wie hätte ich ohne Li wissen können, wer an meinen Fotos interessiert war, oder wer die Zukunft noch mit aufbauen durfte oder bereits zu mächtig geworden war und von anderen bald beneidet werden würde, weil er rechtzeitig das Land verlassen hatte? Li schien allwissend, manche Visitkarten verschwanden in der rechten Jackentasche, diejenigen, die ich später bekam, landeten in der linken. Auf jeder war das geplante oder im Entstehen begriffene Bauprojekt vermerkt. Dank Lis Beziehungen könnte ich die nächsten Jahre hier verbringen, all diese Architekten und Bauherrn, die ihr einmaliges Hochhaus, das höchste, beste und innovativste von mir fotografieren lassen wollten, waren bereit, für die Dokumentation ihrer nicht unbedingt neuen Ideen gut zu bezahlen, wie mir Li zuflüsterte, dabei interessierte mich Architektur nicht, nur diese verrückte Stadt und seit heute Abend Li.

    Am nächsten Tag – von Shanghai war noch immer nicht viel zu sehen – flogen Li und ich nach Xining, ins Hochland. Li versicherte mir, wir würden angerufen, sobald sich der Smog zu lichten begänne. Auf dem Weg zum Flughafen tauchte aus dem Nebel eine gebückte Gestalt auf. Eine Frau wusch sich ihre langen, schwarzen Haare auf dem Gehsteig. Ich bat den Taxifahrer, stehen zu bleiben, doch er reagierte nicht, bis Li ihn anschnauzte – wie früher verließen harte Laute seinen Mund. Vor der Frau stand ein Plastikeimer, in der Hand hielt sie einen Becher, mit dem sie das Wasser aus dem Eimer schöpfte, um es sich über das Haar zu gießen. Ich wusste, alle alten Wohneinheiten auf dem Weg zum Flughafen waren längst planiert, und in den neuen Wolkenkratzern waren die Wohnungen mit einem Bad ausgestattet. Dann sah ich das Gesicht der Frau: Sie war viel älter als ihr dunkles Haar und ihre zarte Gestalt mich vermuten ließen. Sie musste eine der Frauen sein, von denen mir Li gestern erzählte: Viele alte Menschen schaffen die Umstellung von den Gemeinschaftshäusern in die Hochhäuser nicht. Manche verließen ihre Zellen nicht, weil sie eine unüberwindbare Angst vor dem Lift und den endlosen Stiegen hatten und verhungerten, andere begingen Selbstmord, aber das wurde als Unfall registriert, alte Leute fallen eben leicht aus Fenstern. Dagegen erschien das Beharren dieser Chinesin auf ihrem alten Lebensstil geradezu rebellisch, sie bestand auf dem Leben in der Öffentlichkeit, verweigerte die Einsamkeit in der bequemen Zelle. Nur war niemand mehr da, der ihr half, die Haare zu waschen: keine Nachbarn, keine Kinder.

    Es gibt den Himmel noch, welch eine Freude! Sonne, Mond und Sterne sind nicht nur abstraktes Wissen, sondern sichtbar. Und die Luft roch nach unbekannten Gewürzen, nicht nach Abgasen. Grüne Berge umrahmten das Hochplateau, stellte ich verblüfft fest. Ich hatte Steinriesen erwartet wie in den Alpen oder braune Bergrücken wie in Montana, braun erst, seitdem der Regen ausblieb, doch hier war alles anders, weitete eine nie gesehene Landschaft den Blick. Es sei eine der ärmsten Provinzen Chinas, meinte Li. Wie er das sagen könne, sie sei überreich an Schönheit.

    Ich fühlte mich wohl in Lis Gegenwart, doch seitdem ich verliebt war, war ich gleichzeitig so schüchtern, als wäre ich wieder ein Mädchen. Li war aufmerksam, sogar fürsorglich, aber nichts deutete auf mehr als eine neue professionelle Freundlichkeit hin. Wenn ich mich zu erinnern versuchte, wie frühere Liebschaften anfingen, fielen die Bilder in meinem Kopf ineinander wie zwei Körper, die nichts anderes ersehnten als zusammen zu sein, sich aus der Trennung hinauskatapultieren wollten in die Einheit.

    Die dünnere Luft auf zweitausend Metern war angenehmer als die in Shanghai, doch als wir am nächsten Tag zum Qinghai See fuhren, vorbei an tibetischen Bauern, ihren Zelten und Yaks, wir uns an seinem Ufer niederließen, Li das mitgebrachte Essen auspackte, hatte ich das Gefühl, mein Körper verliere seine Festigkeit. Wir sind nur über dreitausend Meter, sagte ich mir, doch diese Information beeindruckte meinen Körper nicht. Er bestand darauf, leicht zu werden, durchlässig, und als ich mich nicht mehr dagegen wehrte, merkte ich, wie angenehm sich diese Auflösung anfühlte. Nur aufstehen würde ich mit diesen weichen Teilen nicht können und manchmal hatte ich den Eindruck umzukippen, aber es geschah nicht. Ich saß nur da und sah auf das grünblaue Salzwasser, das sich irgendwo am Horizont verlor oder in mir oder ich mich in ihm. Alles wurde unwichtig in dieser Auflösung, sogar meine Gefühle für Li. Ohnedies existierte nichts außer dem Wasser und dieser dünnen Luft, die vibrierte und sichtbar war und mich schwerelos machte.

    Irgendwann bemerkte ich Lis besorgten Blick. Ich war erstaunt, dass ich die Wasserflasche halten konnte. Ich sollte trinken, gut, warum nicht. Mehr. Ich trank mehr. Erst beim zweiten Schluck spürte ich meinen Durst. Danach fühlte sich mein Körper wieder vertraut an, der See zog sich aus mir zurück, die Luft wurde beinahe unsichtbar. Vielleicht könnte ich Li bei der Rückfahrt überreden, auf der Passhöhe eine Pause zu machen. Schon sehnte ich mich nach der Leichtigkeit, der Weite meines Körpers, der Verschmelzung mit der Umgebung. Auf viertausend Höhenmetern müsste ein ähnliches Phänomen geschehen, und morgen könnten wir auf einen Berg fahren, der fünftausend Meter hoch war und immer höher und höher hinauf, aber vorher musste ich die Gesichter der Tibeter fotografieren, diese dunklen, schönen Gesichter, mit einer Haut wie gegerbt… Li sagte streng: Alice, iss etwas! Es war wunderbar, wenn er meinen Namen sagte, der See hatte ihn gehört und in die Luft erhob er sich, umtanzte die Berge, aber essen würde ich hier sicher nicht, ein voller Magen würde mich so schwer machen wie zuvor, diese gebliebene Leichtigkeit, die ich noch wahrnahm, wollte ich nicht gegen Essen tauschen.

    Li umarmte mich, flüsterte: Verzeih mir, ich hätte dich nie hierher bringen dürfen, meine Liebe, es ist nur so schön hier, ich wollte dir etwas Schönes von meinem Land zeigen, dich nicht krank machen, bitte, hör mir zu, du bist höhenkrank, ich werde dich zum Auto tragen, keine Angst, Liebste, es wird vorbei sein, sobald wir im Hotel sind, aber wir müssen jetzt aufbrechen, bitte!

    Wie gut mir diese Sätze taten, Li war verliebt wie ich, nur Verliebte reden so! Dieser schmale Körper, zart wie meiner, an den ich mich jetzt schmiegen durfte, in den ich am liebsten hineingesunken wäre. Keine Angst, Li, ich bin nicht höhenkrank, ich kenne die Symptome, viele Kollegen haben in Tibet gearbeitet oder wollten hier arbeiten, stattdessen haben sie ausführlich über Kopfweh

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