Nadelstreif & Tintenzisch: Ein Bestiarium
By Michael Stavaric and Deborah Sengl
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In kongenialer Zusammenarbeit haben Michael Stavaric und Deborah Sengl ein Bestiarium mehr oder weniger fiktiver Tiere geschaffen, die durchaus auch den Mensch im Tier erkennen lassen - schräg, erhellend, einzigartig!
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Book preview
Nadelstreif & Tintenzisch - Michael Stavaric
Tiere
Übersicht
Der Rote Zar
Das Gesellschaftstier
Der Kleine Hüttengärtner
Die Lebendfalle
Der Wolkenkratzer
Der Gieraffe
Das Honigmaul
Die Randerscheinung
Der Tintenzisch
Das Pazifische Standwiesel
Der Sitzfleischriese
Der Buschmeister
Der Schattenschreck
Der Nadelstreif
Der Gute Heinrich
Der Schlichte Särgling
Der Große Hüttengärtner
Der Achtäugige Schlundegel
Der Küssende Gurami
Der Tuk-Tuk
Die Taf-Taf
Der Sandhechler
Die Kratzbürste
Der Ödlandotter
Das Biest, das dem Begräbnis folgt
Die Kamikatze
Die Piorkowska
Die Neonröhre
Der Moorschlank
Der Berliner Hauer
Die Schrecklich Behaarte Fliege
Das Biest, das Skrupel hat zu töten, wenn man galant nach seiner Mutter fragt (BSM)
Der Glutäugige Schlingel
Der Faserschmeichler
Das Aye-Aye (Fingertier)
Der Bettvorleger
Das Biest, das vor dem Regen herläuft
Der Tagalog
Solche, die das Licht ausmachen und sich nicht umdrehen, wenn die Hunde bellen
Der Vasilisk
Der Gürtelschnalzer
Der Karpatische Stülper
Der Schlitzrüssler
Das Moderlieschen
Der Pigmentlöwe
Der Zierliche Gottfried
Die Drittelmaus
Der Starkstrom
Der Gemeine Wildfang
L’anima spicca (Das Herz einer süßen Frucht, das sich mühelos aus dem Fleisch lösen lässt)
Hüftgold mit Flügeln
|DER ROTE ZAR.
Nonenthratum folioliber
Der Rote Zar war stets ein lebendes Paradoxon: Er liebt (seit jeher) Rotkäppchen über alles, fürchtet allerdings den Erdbeergrouper, Zimtschnecken und Tizians gesammelte Werke. Während des Vietnamkrieges war er ein vorbildlicher Pazifist, spätestens seit dem Golfkrieg macht er sich nichts mehr aus menschlicher Gesellschaft. Das geht so weit, dass er keinem mehr die Hand reicht, er vermeidet jeglichen Augenkontakt und versteckt sich gerne in Tropfsteinhöhlen (oder aufgelassenen Tunnelröhren). Dort leckt er (um sich selbst zu erheitern) den Kalkstein ab, seine Sehkraft lässt dabei allerdings deutlich nach, schon bald fürchtet er sogar den Klang der eigenen Stimme. Urin im Blut wiederum scheint ihm nichts auszumachen. Seine Abendlektüre (Blindenschrift!) besteht aus nachfolgenden Werken: Philosophisch-ökonomische Manuskripte 1844 – die Entfremdungstheorie, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde und Plädoyer für einen zu Unrecht angeklagten Philosophen (allesamt vergriffen).
Zimtschnecke, männlich, in Drohgebärde (schwedische Abart: Kanelbulle)
Der Rote Zar ernährt sich mit Vorliebe von Marsriegeln; sind keine zur Hand, begnügt er sich mit in Buttermilch eingelegten Rinderhälften. Nach einigen (einschlägigen!) Therapiesitzungen gelangte er zu der Einsicht, seine Flugangst sei lediglich ein „entbehrliches Konstrukt, eine (ja doch) „ungewollte Schwangerschaft
, deren Ursprung im Fortbestand der Art begründet liegt – ergo: Rote Zaren paaren sich niemals in Aufzügen, auf Bergketten, in Stockoder Hochbetten. Selbstverständlich kam jeder Rote Zar bei seiner Geburt nur knapp mit dem Leben davon …
Sauerstoff stößt ihm, wie nicht anders zu erwarten, sauer auf, seine Vorliebe für Süßstoff ist hingegen legendär. Er kann nicht über seinen Schatten springen, begeistert sich in seltenen Fällen allerdings für Frösche (bzw. Amphibien aller Art) und das allseits beliebte Tempelhüpfen. In Ermangelung eines Hüftgelenks lehnen Rote Zaren jedwedes Balzverhalten ab, nicht selten bleiben sie ein Leben lang Einzelgänger. Der Rote Zar lässt sich nur von einem schwarzen Ziegenbock ins Bockshorn jagen, Krokodilzähne hingegen scheinen ihm nichts auszumachen. Rote Zaren begeistern sich für die Worte „Verunglimpfung, „Lentilka
und „zuoberst. Sie verabscheuen allerdings „Rotunde
und „Liptauer (bzw. „Litauer
, sofern man das Wort gar zu undeutlich ausspricht).
Roter Zar, nach Pediküre (Hühneraugen!)
|DAS GESELLSCHAFTSTIER
Arrogans brachialis
Das Gesellschaftstier ist als Nostalgiker verschrien, dabei schaut es nur gelegentlich über seine Schultern, das Rückwärtige interessiert es kaum, das Künftige kann ihm gleichfalls gestohlen bleiben, es sei denn, diese (seine) Zukunft ist schaumgedämpft und rosig. Es nimmt vieles zu wörtlich, was daran liegt, dass es in seiner Jugend gerne Bäume bestieg, still den Himmel beobachtete und kategorisch die Sprache als „Geschwätz verweigerte; oft genug manövriert es sich heute (eben dadurch) in kompromittierende Situationen: Etwa wenn es darum geht, „jemandem auf der Tasche zu liegen
oder irgendwo „mit der Tür ins Haus zu fallen, gar einer Person „an den Kragen zu gehen
. Mit gesellschaftskritischen Anmerkungen, man würde anderes vermuten, kann es erstaunlich wenig anfangen – etwa: „Es ist kein Zeichen von Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft angepasst zu sein oder „das gesellschaftliche Recht ist daher ganz und gar kein sittliches Recht, sondern eine bloße Modifikation des tierischen
– Formulierungen solcher Natur sind ihm ein