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Das Attentat des Herrn Hauber
Das Attentat des Herrn Hauber
Das Attentat des Herrn Hauber
Ebook376 pages5 hours

Das Attentat des Herrn Hauber

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About this ebook

1938, Reichsparteitag in Nürnberg: Adolf Hitler und die Führungsriege der NSDAP inszenieren ihre Herrschaft.
Was Millionen begeistert, soll für einen deutschen Exilanten der Schlusspunkt seines tollkühnen Plans werden: den Diktator töten, mit einem Flugzeug, mitten auf der Rednertribüne zum Absturz gebracht. Doch er wird verraten und muss um sein Leben fürchten ...
Nach einer wahren Begebenheit erzählen Viktor Glass und Heinz Keller einen berührenden Roman um den unbekannten Attentäter Martin Hauber, der erst gezwungen ist, Deutschland zu verlassen, in der Schweiz zum Nazi-Gegner wird und schließlich als Kamikazepilot die Welt vom Irrsinn seiner Zeit erlösen will.
LanguageDeutsch
Release dateJul 2, 2013
ISBN9783867895781
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    Das Attentat des Herrn Hauber - Heinz Keller

    erkannt.

      ERSTER TEIL  

      1  

    Sanft, fast lautlos gleitet das riesige Schiff durch die Dünung der Nordsee. Das Geräusch der Motoren ist für die Passagiere, die sich auf dem Hauptdeck der Bremen, des Flaggschiffs des Norddeutschen Lloyd, drängen, kaum zu hören. Das Geräusch der leichten Brise, die um die Aufbauten streicht, wird vom Lärm der Möwen übertönt, die sich mit habgierigem Kreischen um diejenigen scharen, die nach Futter aussehen – die wohlgenährte Engländerin zum Beispiel, ein bescheidenes Abbild der Queen Victoria. Die Dame hat ein französisches Stangenbrot vom Frühstücksbüfett stibitzt, um es an ihre Lieblinge zu verfüttern: Sie hält es Bröckchen für Bröckchen mit der einen Hand hoch, zuckt zusammen, wenn die Möwen im Sturzflug auf sie zu jagen, und lacht, wenn einer der großen Vögel das Brot geschickt schnappt, ohne ihre Hand auch nur zu berühren. Dann das nächste Stück und das nächste. Die Vögel versuchen, sich gegenseitig die Beute abzujagen. Zum Fressen müssen sie sich damit auf den Planken des Decks niederlassen, und das ist die Gelegenheit für die Zukurzgekommenen. Sie zanken sich zuerst alle um den größten Brocken, dann um den nächstkleineren – immer nur um einen, ganz systematisch, selbst unter der Gefahr, dass dann das restliche Brot in den Schnäbeln der Artgenossen verschwunden ist.

    Es ist voll an Deck. Seit einer Stunde kommen immer mehr Leute aus ihren Kabinen. Alle haben gepackt, und einige ganz Ungeduldige haben bereits ihre Koffer nach oben verbracht, obwohl es noch mindestens vier Stunden bis zum Ziel sind.

    Ein junger Mann, der an der Wand eines der Aufbauten lehnt, um der Menschenansammlung an Deck aus dem Weg zu gehen, beobachtet die Szene. Er ist Mitte oder Ende zwanzig, vielleicht auch jünger, so genau kann man ihm das Alter nicht ansehen. Schlank, sportlich trainiert, hochgewachsen, blond, mit ordentlich getrimmtem Haar und blauen Augen, stellt er das Idealbild eines Germanen dar, wie man ihn sich in diesen Zeiten vorstellt.

    Ihn hat es auch nicht mehr in seiner Kabine gehalten, aber er ist immerhin so klug gewesen, zunächst sein Gepäck zurückzulassen. Er stößt sich von der weiß gestrichenen Wand ab und schiebt sich zwischen den Menschen hindurch an die Reling. Aus den Bordlautsprechern kommt die Ansage, dass sie sich gerade nördlich der Insel Spiekeroog befinden, die aber am Horizont nicht auszumachen ist, die Fahrrinne ist zu weit entfernt. In wenigen Minuten wird das Leuchtfeuer Roter Sand in Sicht kommen, das erste Gebäude auf offener See und zugleich der berühmteste Leuchtturm der Welt.

    Hasso von Nicolasee, der große Blonde, spürt eine gewisse Ergriffenheit, selbst wenn er sich nach außen gelassen zeigt. Die Ankunft in seiner neuen Heimat steht unmittelbar bevor. Rund zwei Stunden sind es jetzt noch von hier bis Bremerhaven, dem Ziel der Bremen auf dem Weg von New York. Immer öfter kommen ihnen nun andere Schiffe entgegen, die Fahrrinne verengt sich, wendet sich nach Süden. Jedes entgegenkommende Schiff wird mit einem Hornsignal begrüßt, der Gruß erwidert. Das erste Stück Land, das man erkennen kann, ist nur ein schmaler Streifen am Horizont: die Insel Wangerooge.

    Auf die Reling gestützt, denkt Hasso von Nicolasee an das, was ihn in der neuen Heimat erwartet. Er hat vor, sich der Bewegung der Nationalsozialisten anzuschließen, die in aller Munde ist. Vielleicht macht er ein wenig Karriere, doch allzu viel verspricht er sich nicht davon. Ihm ist es in erster Linie wichtig, dem, was hinter ihm liegt, heil entkommen zu sein.

    Er ist Argentinier, als Sohn deutscher Einwanderer dort geboren und aufgewachsen. Seine Jugend hat er nicht weit von Rosario auf einer Estanzia zugebracht, dem Landgut seines Vaters, war dann in die Hauptstadt gezogen, um dort eine Ausbildung zum Polizeioffizier zu machen. Sein gesellschaftlicher Status hätte ihm eine glänzende Zukunft geboten: Bei den Kontakten, die sein Vater hatte, wäre er rasch in die höchsten Führungskreise befördert worden. Bei einem Einsatz gegen einen Mädchenhändlerring in La Boca, dem Tango- und Vergnügungsviertel von Buenos Aires, hatte er Berufliches und Privates nicht voneinander trennen können und den Boss der Organisation getötet. Es war Rache, und es hatte wie eine Hinrichtung ausgesehen. Das konnte sich selbst in einer Diktatur, wie sie in Argentinien herrschte, ein Polizeioffizier nicht leisten. Ihm war nur die Flucht geblieben, bevor man ihn verhaftete.

    Sein erster Weg führte zu den Eltern – er brauchte Geld und Empfehlungen. Ein Glück war es gewesen, dass gerade der deutsche Militärattaché von Mirlbach anwesend war. Dieser hatte ihm mit leuchtenden Augen vom Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung erzählt, von der glänzenden Zukunft, die Deutschland bevorstand, und jedem, der diese Chancen zu nutzen wusste.

    Hasso hatte nicht lange überlegen müssen. Da von Mirlbach vorhatte, selbst nach Deutschland zurückzukehren und sich am Umbau der Zukunft Deutschlands zu beteiligen, hatte er sich ihm angeschlossen – in einer abenteuerlichen Reise: Mit dem Zeppelin war er über Brasilien bis nach New York gekommen, dort war er dann mit der Bremen in Richtung Deutschland abgereist. Er würde nicht ganz auf sich allein gestellt sein: Es war arrangiert worden, dass er zunächst bei Verwandten unterkam, seiner Tante Beate Lahusen und ihrem Mann. Sie würden ihn in Bremerhaven in Empfang nehmen. Er kennt die beiden bisher nicht.

    Eine Hand legt sich auf seine Schulter. Louise ist neben ihn getreten, die französische Sängerin, die hier an Bord zur Unterhaltung der Passagiere arbeitet. Sie haben sich am ersten Abend an Bord kennengelernt, und die junge Frau, die für den großen Blonden schwärmt, hat gleich die erste Nacht in seiner Kabine verbracht. Sie hat ihn vom ersten Moment an spüren lassen, dass etwas Besonderes, etwas Anziehendes von ihm ausgeht. Jetzt beobachtet sie mit ihm zusammen das Herannahen des Ziels, das schwierige, aber präzise Anlegemanöver, die wimmelnden Menschenmassen am Kai. Nobelkarossen schieben sich durch das Gedränge, die ersten Passagiere gehen vom Schiff.

    »Du hast die Ruhe weg«, sagt Louise. »Willst du nicht von Bord? Deine Verwandten warten sicher schon.«

    »Ich weiß ja nicht einmal, wie sie aussehen«, erwidert er. »Wie soll ich sie da zwischen all den Leuten finden? Nein, ich warte, bis die Menge sich größtenteils verzogen hat.« Er umarmt sie. »Aber ich muss wohl in meine Kabine, das Gepäck holen.«

    »Du bist so wunderbar lässig«, sagt sie, »ganz anders als die anderen Deutschen mit ihrer Arroganz und ihrer ständigen Eile. Alles muss klappen wie am Schnürchen, aber du …«

    »Ich bin auf dem Lande aufgewachsen«, sagt er. »Die Estanzias haben ihre eigene Zeitrechnung. Da ist man näher an der Natur, da atmet das Leben selbst.«

    »Ich wünschte, du könntest mich einmal dahin mitnehmen.«

    »Vielleicht«, sagt er sanft. »Eines Tages. Wir sehen uns wieder. Ich habe deine Adresse, und du weißt, wie du mich erreichen kannst. Wir bleiben in Verbindung, ja?«

    »Ja.« Ihre Stimme klingt bedrückt. Sie weiß, dass jetzt der Abschied kommt. »Ich hoffe, du kommst hier in Deutschland zurecht. Es wird alles ganz anders sein für dich.«

    Er nickt, drückt sie noch einmal fest an sich. »Ich muss los, Louise. Es war schön mit dir. Unvergesslich. Ich meine damit nicht nur die heißen Nächte. Ich besuche dich ab und zu auf der Bremen, oder ich hole dich ab, und du verbringst ein paar Tage bei mir.« Hasso küsst sie auf die Stirn, schon ein wenig auf Distanz, und wendet sich abrupt ab.

    Er holt sein Gepäck, dann geht er zur Passkontrolle, um sich seinen Einreisestempel zu holen. Das Gedränge dort ist schon wesentlich geringer als vorhin. Als er kurz darauf die Gangway betritt, sieht er Louise noch an der Reling stehen, mit verheultem Gesicht. Sie winkt ihm zaghaft zu, er grüßt knapp zurück, fast militärisch, dann geht er als einer der Letzten gemächlich die Gangway hinunter. Ein wenig seltsam ist ihm schon zumute, als er zum ersten Mal den Boden des Landes betritt, das seine neue Heimat sein wird. Das Land seiner Vorfahren.

    Eine elegante Frau kommt auf ihn zu. Das muss seine Tante Beate Lahusen sein, die ihn offenbar sofort an der Größe erkannt hat. »Da bist du ja, mein Junge«, begrüßt sie ihn. »Wir dachten schon, du bist gar nicht an Bord. Hattest du eine gute Reise?« Er hat sie sich älter vorgestellt. Sie sieht nicht aus wie Anfang sechzig.

    Neben ihr, das muss ihr Mann Wolfgang sein. Er wirkt eher ruhig und zurückhaltend. Kühl reichen sie sich die Hand – das Händeschütteln ist eine Landessitte, an die Hasso sich erst gewöhnen muss. Wolfgang wünscht Hasso eine angenehme Zeit in Deutschland. Er scheint zu den Menschen zu gehören, die eine Weile brauchen, um mit jemandem warm zu werden.

    Hasso hat den Eindruck, dass zwischen den beiden alles nach dem Willen seiner Tante läuft. Gut zu wissen.

    Das Gepäck wird in ein Taxi geladen. Auf der Fahrt nach Hamburg schweigt Wolfgang die meiste Zeit, während seine Frau fortwährend redet. Sie erklärt Hasso Land und Leute und kommentiert vieles, was draußen zu sehen ist. Die Strecke nach Hamburg ist nicht lang – nach dreieinhalb Stunden fahren sie durch die Straßen der großen Stadt. Selbst in den Außenbezirken sind zahlreiche Uniformierte zu sehen, fällt Hasso auf. Überall, an Litfaßsäulen und Gartenzäunen, hängen Wahlplakate mit reißerischen Parolen. Hin und wieder fällt ihm ein fratzenhaftes Gesicht auf, schnauzbärtig und mit entschlossenem Blick. Darunter steht nur: »Hitler«. Ein Name auf schwarzem Feld. Mehr scheint nicht nötig, kein Kommentar, kein Leitspruch wie bei den anderen Parteien, die überzeugt zu sein scheinen, dass sie die Wahrheit auf ihrer Seite haben. Hier steht nur: »Hitler«. Jeder scheint den Mann zu kennen, und allein schon sein Name scheint der Garant für eine gute Wahl zu sein.

    Dann ein anderes Plakat: »Wir haben euch kennengelernt. Jetzt lernt ihr uns kennen. SA – NSDAP«. Sie durchführen jetzt den Stadtteil Wandsbek, erklärt Tante Beate.

    Als Wolfgang Lahusen Hassos Interesse an den Plakaten bemerkt, kommt Leben in ihn. »Der Nationalsozialismus ist im Kommen«, sagt er. »Wir rechnen mit dreißig bis vierzig Prozent aller Stimmen in Deutschland. Hitler wird siegen, denn es steht nicht gut in Deutschland, und die Leute setzen auf ihn. Manche sagen, er wird eine Diktatur errichten, wenn er erst einmal an der Macht ist. Die Demokratie ausschalten.« Die eigentlich weiche Stimme Wolfgangs gewinnt an Schärfe: »Darauf antworten wir von der SA: ›Ihr habt bisher schlecht regiert, und jetzt sind wir dran. Nur Männer wie Hitler und unser SA-Führer Röhm können Deutschland wieder nach oben bringen.‹«

    Der Taxifahrer, der sich anfangs am Gespräch beteiligt hat, sagt jetzt nichts mehr. Sein Blick ist starr, erkennt Hasso im Spiegel. Er scheint nicht einverstanden zu sein mit dem, was er hört, hält sich aber mit dem zurück, das ihm offensichtlich auf der Zunge brennt. Hasso hütet sich, ihn darauf anzusprechen. Er kennt sich mit den politischen Befindlichkeiten unter den Leuten hier noch nicht aus.

    Anders Tante Beate. Sie scheint die Worte ihres Mannes schon bis zum Überdruss gehört zu haben. »Du musst unseren Gast nicht gleich mit deiner unsinnigen Politik überfallen«, weist sie ihn zurecht.

    Jetzt ist das Taxi in einer Straße, die von Kastanien gesäumt ist, und hält vor einem kleinen, reetgedeckten Fachwerkhaus, das kaum zu den größeren Nachbarhäusern passt. Es steht inmitten eines Gartens, ist zum Teil mit Holz verkleidet, in die mit bunten Blumen bemalten Fensterläden sind Herzchen eingeschnitzt. »Die hat Wolfgang ganz allein gemacht«, sagt Beate stolz, doch ihrem Mann scheint diese Tatsache eher peinlich zu sein. Schon ein paar Schritte vorausgeeilt, ruft sie: »Hinein in die gute Stube!«

    Drinnen schlägt ihnen Kühle entgegen. Wolfgang muss in den Keller, Briketts holen. Während er den Ofen mit Holzspänen und Scheiten anheizt, zeigt Beate Hasso das Zimmer, das er bewohnen wird. Es ist klein und kühl, die wenigen Möbel ein Sammelsurium. Als sie ins Wohnzimmer zurückkommen, beginnt es langsam warm zu werden. Tante Beate bringt aus der Küche für jeden eine Tasse Grog, ein süßes Heißgetränk, das nach Rum schmeckt und eine Hitzewelle durch den Körper jagt. Sie erklärt Hasso die Zusammensetzung: »Ich weiche ein wenig vom Rezept ab, denn ich füge noch etwas Zimt hinzu. Schmeckt besser, finde ich.«

    Sie zögert, bevor sie fortfährt. Seit der Taxifahrt liegt ihr etwas auf der Zunge. »Hasso, du musst wissen, Wolfgang ist Nationalsozialist. Meine Überzeugung ist das nicht. Diese Leute werden nie und nimmer meine Stimme kriegen.« Sie zieht die Nase kraus. »Zu allem Überfluss ist mein Mann auch noch bei der SA. Eine Schande! Du solltest mal sehen, was da für schräge Gestalten herumlaufen.«

    Wolfgang ist empört. »Wie redest du denn! Was erzählst du unserem Gast da!«, ruft er aus.

    Beate zeigt sich von seinem Ausbruch ungerührt. »Dieser Jansen zum Beispiel, der im Haus neben der Apotheke wohnt. Der ist an sich schon ein ziemlicher Saukerl, aber in Uniform sieht er noch wüster aus. Mit dem möchte ich nichts zu tun bekommen, wenn der mal etwas zu sagen hat.« Sie deutet mit dem Kopf auf ihren Mann. »Du solltest mal sehen, Hasso, wie Wolfgang auftritt, wenn er seine braune Uniform trägt und sich damit auf die Straße begibt. Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Er strotzt vor Selbstbewusstsein, wie alle seine Kameraden von der SA.«

    »SA heißt Sturmabteilung«, erklärt Wolfgang und zeigt zum ersten Mal einen Anflug von Stolz.

    Beate deutet erneut auf ihren Mann und spricht über ihn, als wäre er gar nicht zugegen. »Der interessiert sich für diese Art von Politik und bedauert, dass mit mir nicht darüber zu reden ist. Aber mir ist sein Hitler nun mal egal. Obwohl alle von diesem Mann schwärmen, sagt mir mein Gefühl als Frau, dass der Kerl ein Wolf im Schafspelz ist. Wenn Wolfgang ihm am Radio zuhört, höre ich ihn bis in die Küche brüllen, und dann weiß ich, was das für ein Demagoge ist.«

    Hasso fürchtet, die beiden könnten sich in seiner Gegenwart streiten, und schweigt, um sich nicht einzumischen.

    »Du willst ja unbedingt als Offizier zu dieser SS«, wendet die Tante sich jetzt an ihn. »Darüber sollten wir noch reden. Jetzt hat Wolfgang also einen Gesprächspartner.« Es klingt nicht begeistert. »Übrigens«, setzt sie hinzu, »ein gewisser Major Kleber hat dir geschrieben.«

    Wolfgang steht auf, nimmt den Brief aus der Eichenvitrine, die eine ganze Wand des Raumes einnimmt, und öffnet ihn. Hasso sagt nichts dazu, obwohl er den Brief lieber selbst aufgemacht hätte. Nun liest Wolfgang sogar das Schreiben, das doch an Hasso gerichtet ist.

    »Der Major heißt dich in der neuen Heimat willkommen«, teilt er ihm mit. »Er wird nach Weihnachten selbst nach Hamburg kommen, wahrscheinlich in der zweiten Januarwoche, und dann wird er sich mit dir über deinen beruflichen Werdegang unterhalten.« Er reicht Hasso endlich den Brief.

    »Was machst du eigentlich beruflich?«, erkundigt sich Hasso, um seine Verärgerung zu unterdrücken.

    »Ich? Ich arbeite beim Elektrizitätswerk als Sachbearbeiter. Ich bin zuständig für die Abschaltungen. Weißt du, wenn die Leute ihre Rechnungen nicht zahlen, dann klemmen wir ab.« Er zuckt mit den Schultern. »Dann müssen sie die Kerzen rausholen. Ich habe viel zu tun, denn die Not in Deutschland ist groß. Eigentlich tun mir die Leute leid, denn sie finden ja keine Arbeit, selbst wenn sie wollen. Ich habe mir übrigens deinetwegen zwei Tage freigenommen, heute und morgen. Dein Vater hat in seinem Telegramm geschrieben, dass du zur SS willst.« Er sieht Hasso abschätzend an. »Bei deiner Statur werden die dich natürlich sofort nehmen. Ob die SS für dich eine gute Idee ist, ist eine andere Sache. Die Zukunft gehört der SA und nicht der SS.« Er gerät jetzt richtig in Fahrt. »Wir haben über vierhunderttausend Mitglieder, die SS gerade mal dreißigtausend, wenn auch in diesem Jahr mit steigender Tendenz. Die SS ist allerdings von uns abhängig. Wir von der SA haben nun mal das bessere Programm. Wir sind eigentlich Sozialisten, denn uns liegen die einfachen, arbeitenden Bürger am Herzen. Die SS und Hitler werden sich mit dem Kapital verbrüdern und die Menschen noch weiter ausbeuten. Schau dich doch mal um! Die Menschen sind seit dem letzten Krieg und nach der Wirtschaftskrise völlig verarmt, aber die Reichen, die baden in ihrem Geld.«

    »Das klingt ja wirklich nach Kommunismus, was du da sagst«, bemerkt Hasso.

    Wolfgang geht nicht darauf ein. »Wir Braunhemden wählen zwar Hitler, aber unser wirklicher Führer ist Röhm. Die Meinungen über Hitler gehen bei uns auseinander. Ich bin überzeugt, Röhm wird unser Programm bei Hitler durchsetzen und uns wieder einigen. Diese dauernden Streitigkeiten gehen einem wirklich auf den Nerv. Wenn Röhm dem Führer klarmacht, was da an Energie verloren geht, wird man die SS in der SA aufgehen lassen, und dann ist endlich Ruhe.«

    Hasso hat das Gefühl, dass Wolfgang ihm Bälle zuwirft, damit er Zwischenfragen stellt, aber er hütet sich, den Monolog des Mannes noch weiter zu schüren.

    Doch Wolfgang ist jetzt richtig in Fahrt. »Genau betrachtet, sind diese elitär auftretenden schwarzen SS-Männer unsere Gegner. Sie glauben, sie seien die Elite, die Herrenrasse. Sie tragen diesen abscheulichen Totenkopf an der Mütze und halten das für etwas Großartiges. Soll wohl abschreckend wirken. Wir prügeln uns trotzdem manchmal mit ihnen.«

    »Wolfgang!«, zischt die Tante, die bisher wortlos zugehört hat. »Jetzt ist es aber genug! Wo kommen wir denn da hin, wenn du gegen die SS redest, obwohl du weißt, dass Hasso dort eintreten will.«

    Er winkt ab. »Lass gut sein. Wir verstehen uns schon.« Er lächelt Hasso zu.

    Am nächsten Morgen brennt Wolfgang darauf, dem Gast seine Uniform zu zeigen und diese anzuziehen. Hasso will nicht unhöflich sein. »Nun?«, fragt Wolfgang. »Sehe ich gut aus?« Er sieht Hasso erwartungsvoll an. Aus dem Wohnzimmer ist plötzlich der Badenweiler Marsch zu hören. »Das ist Beate«, sagt Wolfgang. »Sie legt manchmal eine Platte mit Marschmusik auf und dirigiert dazu. Damit will sie mich aufziehen, aber ich ignoriere sie einfach, das ist das Beste. Hier, hilf mir mal, bitte, den Schulterriemen einzuhaken.« Er steht vor Hasso in Reithose, Stiefeln, Braunhemd und Halstuch – ein stolzer SA-Mann. Er zeigt seine Wickelgamaschen. »Die trägt man zur verkürzten Hose, aber ich mag sie nicht und trage sie nur, wenn es den Befehl dazu gibt.«

    »So etwas wird befohlen?«, wundert sich Hasso.

    »Ja, das kommt vor, wenn wir einheitliche Uniform tragen müssen.« Er zieht eine graue Windjacke aus dem Schrank. »Zieh mal über. Ist gut für den Winter. Die leih ich dir mal, wenn du willst. Als Südamerikaner frierst du dir hier ja den Hintern ab.«

    Nebenan erklingt Weihnachtsmusik. Als die beiden Männer an den Frühstückstisch kommen, brennt eine Kerze, es ist der erste Advent.

    »Mit dieser SA-Uniform setzt du dich nicht an den Tisch«, sagt Beate zu ihrem Mann. »Ich will sie bis zum neuen Jahr nicht mehr sehen.« Sie schenkt Kaffee ein, legt jedem ein Stück Gugelhupf auf den Teller. »Weißt du, Hasso«, sagt sie dabei, »Wolfgang und ich verstehen eins nicht. Wieso bist du eigentlich nach Deutschland gekommen? Wegen dieser verrückten Nationalsozialisten? Ehrlich gesagt, das will mir nicht in den Kopf. Schau dir doch an, was hier los ist. Na, in ein paar Wochen wirst du klarer sehen, und dann tut es dir leid. Du hast doch zu Hause sicher eine Menge zurückgelassen …«

    »Ich habe das nie gesagt«, unterbricht Wolfgang sie. »Ich habe nur gesagt, der Junge hätte es in Südamerika doch eigentlich besser. Stimmt doch auch. Dein Vater hat Geld, du hast eine gute Ausbildung, und trotzdem kommst du her, um an unserer Seite zu stehen. Das ist kameradschaftliche Gesinnung. Das ist vorbildliches Deutschtum.«

    Beate ist unbeeindruckt. »Dummes Geschwätz«, sagt sie. »Hasso, ich verstehe deinen Vater nicht. Die Entscheidung, seinen Sohn hierher zu schicken, passt gar nicht zu ihm. Er ist doch eigentlich ein vernünftiger Mann, und nun bringt er dich dazu, die Heimat zu verlassen?« Sie schüttelt den Kopf. »Für den Schwachsinn hier? Du hattest es gut zu Hause, ihr seid wohlhabende Leute. Warum also? Dieser windige Nazi-Militärattaché muss ihm mit Hitlers Nationalsozialismus völlig den Kopf verdreht haben. Bring mir diesen Mann bloß nie ins Haus. Es ist nicht gut, dass ihr ihm begegnet seid. Dieser Hitler ist ein Psychopath.«

    »Beate, wie redest du denn!«, fährt Wolfgang dazwischen. »Der Junge bekommt doch den Eindruck, nicht willkommen zu sein! Für solche Äußerungen kannst du eingesperrt werden, wenn wir erst einmal an der Macht sind. Also hüte deine vorlaute Zunge, besonders wenn du auf der Straße bist. Ich kann dich nur warnen. Hier in der Stube kann ich damit leben.«

    Beate sieht Hasso an. »Natürlich bist du uns willkommen, das weißt du. Ich will dir nur über ein paar Sachen die Augen öffnen. Schau dir Deutschland ein wenig an und geh dann zurück. Auch Wolfgang sagt das. Das ist unser Rat.«

    Ihr Mann nickt. »Ja, ich glaube, du hast in Südamerika ein besseres Leben. Wenn du hier erst einmal etwas unterschrieben hast, hast du dich verpflichtet.«

    Hasso gesteht sich ein, dass die beiden recht haben, aber sie ahnen ja nichts von seiner ausweglosen Lage, in die er sich in Buenos Aires gebracht hat. Er muss wieder einmal lügen, wie er es wohl noch oft tun wird. »Meine Beziehung hier ist Oberstleutnant von Mirlbach. Er wird SS-General, sobald Hitler regiert, und das hilft dann auch mir weiter. Er ist eine charismatische Persönlichkeit. Sehr gebildet, sehr klug, sehr menschlich. Ein Vorbild für mich. So möchte ich sein.«

    »Hörst du, wie er über Hitler redet?« Wolfgang strahlt.

    »Er meint doch nicht Hitler, du Dösbattel.« Beate lacht. »Er spricht von seinem Militärfreund.«

    »Stimmt«, bestätigt Hasso. »›Komm zurück in die Urheimat‹, hat er gesagt. Ich bin wirklich nicht hierhergekommen, um gleich wieder zurückzureisen. Aber was ich gestern gehört habe und heute zu hören bekomme, das verwirrt mich zunehmend, muss ich zugeben. Ständig liegt ihr euch in den Haaren. Klar, wenn Mirlbach sich geirrt haben sollte, kehre ich natürlich zurück.«

    Anfang Dezember 1932 ist es am Bodensee ziemlich kalt und windig. Das hindert Martin Hauber nicht daran, seine samstäglichen Morgenspaziergänge zu machen. Er zieht sich warm an und geht seinen gewohnten Weg am Seeufer entlang. Der Wind bläst ihm scharf entgegen und dringt durch seine Kleidung. Nach einer halben Stunde macht Hauber schließlich kehrt und wendet sich doch der Altstadt zu, wo er in den engen Gassen ein wenig geschützter ist. Es sind viele Menschen unterwegs, denn in der Zeit vor Weihnachten hat fast jeder eine Menge Besorgungen zu erledigen.

    Alle Schaufenster sind festlich dekoriert, und Hauber schlendert daran entlang, bleibt gelegentlich stehen, um die Auslagen zu betrachten. Er kommt an eine Schneiderei, die drei Anzüge im Fenster ausgestellt hat – man kann die Modelle aus verschiedenen Stoffen nach Maß schneidern lassen. Er überlegt, ob er sich dieses Jahr einmal selbst beschenken soll. Die blaue Schurwolle mit den eleganten Nadelstreifen gefällt ihm besonders, gerade jetzt, wo alle Welt dazu übergeht, braun zu tragen. Er will es sich überlegen. Der blaue Stoff ist teuer, und dann kommt der Schneiderlohn hinzu. Vielleicht nach Weihnachten, denkt er. Da geht es nicht so hektisch zu.

    Er will weiterlaufen, doch in diesem Moment rempelt ihn jemand an. »Mensch …«, setzt er zu einem Protest an, doch rechtzeitig erkennt er den Mann. »Karl! Lange nicht gesehen!«

    Es ist Karl Mündelein, ein früherer Arbeitskollege von den Zeppelinwerken, der jetzt in einer anderen Abteilung beschäftigt ist. Er ist zugleich SPD-Genosse und hat zu denjenigen gehört, die zu Hauber gehalten haben, als es um seinen Ausschluss aus der Partei ging. Hauber hatte sich beim Schmuggeln von Devisen erwischen lassen, im Bodenseeraum ein alltägliches Vergehen, fast ein Kavaliersdelikt, aber streng geahndet, wenn man ertappt wurde. Hauber stand vor Gericht und bekam eine Gefängnisstrafe. So etwas war schädigend für das Ansehen der Partei, doch dank Karl Mündelein, der das Wort »Kavaliersdelikt« ins Spiel brachte, hat man Hauber nicht ausgeschlossen. Er war aber von seinem Posten als zweiter Vorsitzender zurückgetreten.

    Jetzt steht dieser Karl direkt vor ihm: »Was machst du?«

    »Dies und das«, antwortet Hauber. »Bin auch noch bei der Firma.«

    »Bestens. Ich wollte gerade einen Frühschoppen nehmen und mich ein wenig aufwärmen. Kommst du mit in die Traube

    »Natürlich«, sagt Hauber. »Mir ist auch gerade danach.«

    Zusammen gehen sie in das nahe gelegene Lokal und sind froh, den vorweihnachtlichen Trubel der Einkaufsstraße hinter sich lassen zu können.

    Aus Freude über das Wiedersehen spendiert Mündelein ein Viertel Gutedel, einen sehr süffigen Wein. Hauber kann sich nicht lumpen lassen und revanchiert sich. Sie unterhalten sich über alte Zeiten und die drohende neue Zeit und stellen in ihren Ansichten eine Menge Gemeinsamkeiten fest. Vor allem sind sie Gegner der Nazis, und es beschäftigt sie der bereits laufende Wahlkampf.

    Es ist schon fortgeschrittener Nachmittag, als die beiden das Gasthaus verlassen. Mündelein wohnt jetzt in Kressbronn und muss zum Zug. Hauber begleitet ihn zum Bahnhof, da es für ihn kein großer Umweg ist.

    Kaum haben sie die Gaststätte verlassen, fällt ihnen der Einkaufstrubel wieder auf. »Hier müsste man ein paar Flugblätter unter die Leute bringen«, sagt Mündelein, »damit alle wissen, wen sie wählen, wenn sie wieder für die Nazis stimmen. Eine Schande war das im Sommer.« Ende Juli waren Reichstagswahlen, und die Nazis haben erstmals die Mehrheit im Parlament bekommen. Seitdem werden sie immer dreister.

    »Ach was«, erwidert Hauber, »was das für einer ist, wissen sie längst. Wir müssen diesen Engelmann an den Pranger stellen, unseren hiesigen NSDAP-Abgeordneten.«

    Mündelein kichert. »Das hat schon jemand getan, im Sommer. Gleich da drüben vor dem kürzlich renovierten Haus, da lagen an einem sehr belebten Tag plötzlich eine Menge Zettel auf der Straße, mit einem flammenden Aufruf, diese Partei nicht zu wählen.«

    »Ich weiß«, sagt Hauber. »Vor dem Haus war ein Baugerüst und die Straße deshalb besonders eng. Im Gedränge konnte sich jeder unauffällig so ein Flugblatt nehmen. Hast du auch eins ergattert?«

    »Ja«, sagt Mündelein. Er bleibt plötzlich stehen und wendet sich Hauber zu. »Sag mal, steckst du etwa dahinter?«

    Hauber grinst nur. »Das denken viele.«

    »Ich auch. Komm, erzähl mir, wie du das angestellt hast, mitten am Tag einen Berg Flugblätter unter die Menschen zu bringen.«

    »Dazu brauche ich Zeit.«

    »Mein Zug geht erst in einer Dreiviertelstunde. Komm, wir gehen noch in den Wartesaal.«

    Um den Weg abzukürzen, überqueren sie am Bahnhofsvorplatz den abgesperrten Bereich einer Baustelle, wo die neue Hauptpost gebaut wird, und suchen im Bahnhof den Wartesaal zweiter Klasse auf. Sie finden eine Ecke, in der sie niemand belauschen kann. Mündelein spendiert noch einen Schoppen, obwohl sie beide eigentlich schon genug haben. »Nun erzähl schon«, drängt er.

    Hauber zögert nur kurz. Er kennt Mündelein schon lange und ist sich sicher, dass der Mann kein Spitzel ist. »Du hast dich richtig erinnert«, sagt er schließlich, »vor dem Haus war ein Baugerüst.«

    »Und da hast du die Flugblätter deponiert, bis der Wind sie irgendwann heruntergeweht hat? Genial. Da konntest du dich in Ruhe aus dem Staub machen.«

    Hauber schüttelt den Kopf. »Die Sache war noch ein bisschen komplizierter«, gibt er zu. »Ein Freund, dessen Namen ich nicht nennen möchte, hat die Flugblätter zum Verteilen bekommen. Er hat mich gebeten, ihm zu

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