Scherben vor Gericht: Albtraum eines Premierministers
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Am Tag darauf findet sich dieser unerwartet vor Gericht: Aus allen Epochen sind Ankläger erschienen, einige in antike Tuniken gehüllt, andere tragen Stock und Gehrock und wieder andere sind in Uniformen gekleidet. Was zuerst wie eine Karnevalsveranstaltung aussieht entpuppt sich als ein längst fälliger Prozess, den sich auch Berühmtheiten wie Zenon, Perikles, Brecht, Keynes, Macchiavelli, und sogar Kaiser Augustus nicht entgehen lassen. Der Premierminister und seine Regierungsmitglieder sitzen auf der Anklagebank. Ihnen wird der Spiegel ihrer Taten vorgehalten: Das gesamtes Land liegt in Scherben! Wie konnte das passieren? Welche Argumente werden die Angeklagten Minister gegen ihre vorgeworfene Wirkungsweise setzen? Zu welchem Urteil werden die Verfechter von Freiheit und Demokratie aus zwei Jahrtausenden kommen?
Edit Engelmann, die seit Jahren in Athen lebt und von der europäischen Politik inspiriert worden ist, erzählt in dieser Volkssatire den Traum eines jeden Bürgers Traum: Politiker die durch Gier und Unverstand regieren zu bestrafen. Ihre Novelle ist ein kritischer Erinnerungsakt an die menschlichen Errungenschaften wie Demokratie, Solidarität, Souveränität, Nationalbewusstsein, soziale Integrität und Menschenrechte - Worte, die in jeder Schule gelehrt werden; Werte, die weltweit propagiert werden, und eine Praxis, der es immer wieder in ihrer Ausübung mangelt.
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Scherben vor Gericht - Edit Engelmann
BIOGRAPHISCHES
VORSPIEL
Es war am späten Nachmittag, kurz nach Büroschluss am Vorabend des Nationalfeiertages, als es mehrmals hintereinander an die teakfarbene Tür klopfte.
»Herein!«, rief der Premierminister in der Annahme, seine Sekretärin wolle ihm einen Kaffee und die Unterschriftenmappe bringen.
Er schaute erst auf, als das Klacken auf dem teuren Parkettboden nicht die trippelnden Stöckelschuhe aus dem Vorzimmer verriet, sondern deutlich schwerere Schritte auf die hölzernen Bohlen knallten.
Verblüfft blickte er den Eindringling an, der im Stechschritt auf ihn zu marschierte. Zwischen den stampfenden Schritten schliffen die Schuhe über den Boden. Kurzfristig verschluckte der kostbare Perserteppich vor seinem Schreibtisch die Geräusche des Paradierenden. Der Besucher trug eine Art Uniform. Nichts Modernes. Mehr so etwas aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Goldlitzen prangten überall, ein Schwert baumelte am Bein herunter, und ein Raupenhelm mit rotem Büschel thronte über dem ernsten Gesicht.
»Wie sind Sie hier hereingekommen?«, herrschte der Premierminister den Gardeoffizier an. Insgeheim wunderte er sich. Was war das für ein Soldat? Wieso kam der zu ihm? Wieso konnte der überhaupt bis zu ihm vordringen? Und wo war seine Sekretärin? Wo das Sicherheitspersonal? Sie hätten niemals jemanden ohne Ankündigung und Überprüfung vorlassen dürfen.
Der Soldat sagte kein Wort, sondern näherte sich mit langsamen, fast mathematisch präzise anmutenden Paradeschritten dem Schreibtisch.
Mit einem doppelt knallenden Hab-Acht-Schritt blieb er stehen und hielt dem Premierminister mit ausgestrecktem Arm einen weißen Umschlag entgegen. Noch immer sagte er kein Wort, sondern präsentierte das Kuvert mit ausdruckslosem Gesicht. Sein Blick ging über den Premierminister hinweg und richtete sich auf die Fahne, die direkt hinter dessen Schreibtischstuhl angab, welchem Staat dieser vorstand. Genauer gesagt, er musste wohl Premierminister von zwei Staaten sein, denn zwischen den deckenhohen dunklen Regalen mit den teuren ledergebundenen Büchern standen zwei unterschiedliche Fahnen.
Den Premierminister durchfuhr ein Schauer. Er hatte das Gefühl, es wäre kälter geworden, seit der Soldat hereingekommen war. Er wollte aufspringen, um ihn für seine Unverfrorenheit zurechtzuweisen. Aber er konnte es nicht. Die stumme Gegenwart des anderen hielt ihn auf seinem Sessel fest. Wortlos nahm er das Kuvert entgegen und hörte seine eigene Stimme einen Dank murmeln, den er im nächsten Moment schon als höchst überflüssig empfand.
Mit ruckhaften Bewegungen und Schritten drehte sich der Soldat um. Er verließ genauso rhythmisch-langsam den Raum, wie er ihn betreten hatte.
Erst als sich die Tür hinter dem merkwürdigen Boten geschlossen hatte, konnte der Premier wieder Atem holen. Was er mit einem ziemlich tiefen Zug tat, um dann erleichtert seufzend die Luft auszustoßen.
Mit einem Satz sprang er auf. In Windeseile zog er seine schusssichere Bleiweste an. Seit er Premierminister geworden war, trug er sie als wichtigstes Kleidungsrequisit fast ständig am Leib. Seine Frau lachte zwar darüber, aber jemand in seiner Position hatte so etwas nötig. Noch schnell das Sakko darüber, damit niemand seiner Vorsichtsmaßnahme gewahr werden konnte; dann rauschte er ins Vorzimmer, wo ihn eine Dame im klassisch schwarzen, knieumspielenden Rock mit hellblauer Bluse, Hochsteckfrisur und den typischen Büro-Fünfzentimeter-Absatz-Schuhen entnervt anblickte. Mit einem Ruck schlug sie den Aktenordner zu. Was wollte er denn jetzt schon wieder?
»Wieso haben Sie ihn unangekündigt hereingelassen? Wo kam der Gardist überhaupt her?«, rüffelte er sie an.
Unbeherrscht bis zur Unfreundlichkeit, ging es ihr durch den Kopf. So war er. Die freundliche, verbindlich-diplomatische Art und das immer wohlwollende Lächeln hob er sich für die besonderen Gelegenheiten auf; beispielsweise wenn er andere Staatsoberhäupter begrüßte oder irgendetwas auf ihn gerichtet war, das nach einem Mikrofon oder einer Kamera aussah. Ansonsten war er das, was man einen Radfahrer nannte: nach oben buckeln, nach unten treten. Eben ein typischer Opportunist - denn wie man das Beste aus jeder Situation für sich selbst herausschlagen konnte, wusste er genau, egal, ob das Beste in münzklingender Form war oder andere Annehmlichkeiten beinhaltete. Sie seufzte innerlich. Leider konnte man sich seinen Chef nicht immer aussuchen; schon gar nicht in den Vorzimmern von Premierministern, die neuerdings so schnell wechselten, dass sie ihre eigenen Sekretärinnen gar nicht nachholen konnten.
»Wen bitte hereingelassen?«, fragte sie in aller Ruhe. Professionell vom Scheitel bis zur Sohle nahm sie ihre schwarze, großrandige Brille von der Nase und legte sie sorgsam auf ihrem Busen ab, wo sie an einem Band hängen blieb. »Ich habe niemanden hereingelassen.«
»Wo kam der Gardist denn sonst her?«, versetzte er übellaunig. »Jeder, der zu mir hereinkommt, muss doch an Ihnen vorbei.«
»An mir ist niemand vorbei gekommen«, antwortete die Dame indigniert. »An mir kommt auch nicht jemand so einfach vorbei. Und hier ist in der letzten Stunde niemand vorbeigekommen, erst recht nicht jemand, der wie ein Gardist aussah.«
»Ach, lassen Sie«, winkte er barsch ab, wandte sich um und preschte mit hastigen Schritten hinaus auf den Gang, wo zwei Wachen rechts und links der Tür Haltung annahmen.
»Wer