Einleben: Roman
By Ludwig Laher
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Das Einleben beider, des etwas anderen Kindes in diese Welt und seiner Mutter in den Alltag mit Steffi samt allen Konsequenzen, die sich daran knüpfen, formt Ludwig Laher zu einem vielschichtigen Roman, einem Geflecht aus eindringlichen Momentaufnahmen, tastenden Reflexionen, unerwarteten Bezügen und überraschenden Wendungen.
Ohne moralische Besserwisserei und sentimentale Ungenauigkeiten lädt Laher die Leserschaft ein, ihn auf seiner abenteuerlichen Gratwanderung zu allerlei Wägbarkeiten zu begleiten. Mit der ihm eigenen "mitreißenden Diskretion" - so ein Kritiker über Ludwig Lahers letzten Roman Und nehmen was kommt - nähert sich der Autor so einer der großen Herausforderungen, mit denen uns die modernen Wissenschaften konfrontieren.
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Einleben - Ludwig Laher
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Steffi wirkt ein wenig müde heute. Nur langsam trottet sie hinter Johanna aus dem Gruppenraum in die Garderobe. Dort helfen schon einige Frauen Kindern in die Schuhe, die Jacken, setzen ihnen Hauben auf, erkundigen sich, wie der Vormittag verlaufen sei.
Johanna nimmt Steffis Parka vom Haken und dreht sich nach ihrer Tochter um. Wo ist sie denn so plötzlich hingekommen? Ihr Blick schweift durch den Raum und fängt diese Szene ein: Schräg gegenüber am anderen Ende sitzt Alexanders Großmutter auf der schmalen Holzlattenbank. Sie müht sich, ihrem zappeligen Enkel die Pelzstiefelchen anzuziehen. Steffi ist lautlos hinzugetreten, vorsichtig streckt sie einen Arm aus und fängt an, das rechte Knie von Alexanders Oma zu streicheln. Die hält mitten in der Bewegung inne, auch Alex hat mit einem Mal aufgehört, auf ihrem Schoß herumzurutschen. Steffi schaut Frau Hochleitner tief in die Augen, sanft gleitet ihre kleine Polsterhand weiter über die Kniescheibe unter der Jeanshose.
Nicht daß die beiden einander näher kennen würden, einmal in der Woche bloß, jeden Donnerstag, holt die Oma Alex ab. Steffi scheint die Mittvierzigerin bis heute auch kaum ernstlich wahrgenommen zu haben. Im Moment jedoch gibt es niemand anderen auf der Welt für sie. Frau Hochleitners Kopf löst sich endlich aus seiner Erstarrung und wendet sich Steffis Mutter zu. Überrascht, gerührt, etwas verlegen vielleicht, der Ansatz eines Lächelns auf den Lippen, so kommt ihr Mienenspiel an bei Johanna.
Geht es Ihnen heute besonders gut, besonders schlecht? würde Johanna sie am liebsten jetzt fragen, oder: Woran haben Sie gerade gedacht, als Steffi diesen Raum betrat? Nicht aus Neugierde, sondern weil sie überzeugt ist, nein, weil sie weiß, daß ihr Kind seinen guten Grund haben muß für diese unerwartete Zuwendung, diese Zärtlichkeit. Und weil sie ihn besser begreifen lernen möchte, Steffis Weg in eine Welt, die auch die ihre ist, die aber anders war vorher, weiter und doch weniger weit, absehbarer, nüchterner, geschwinder vor allem.
Auf ein Kind hatte Johanna es nicht angelegt. Sie ist noch jung, war aber schon einmal jünger, sagt sie sich, die Jahre vergehen. Keine außergewöhnliche Geschichte jedenfalls. Da war, so lange sie denken kann, die Lust am Gestalten, an der Form, am Schönen, besonders dort, wo es sich reibt mit der Funktion, der Zweckmäßigkeit. Da war der Ehrgeiz, es allen zu zeigen, nicht zuletzt sich selbst. Da war das eine Studium, weil die Eltern es so wollten, und dann das andere, selbstgewählte, beide brav abgeschlossen, da waren die Praktika während der letzten Semester und dann gleich die Chance einzusteigen.
Natürlich gab es Männer, mehr als genug, die etwas wollten von ihr, der attraktiven, schlanken, großgewachsenen Frau mit dem klaren Blick für Strukturen, fürs Wesentliche, es gab die eine oder andere Beziehung, angelegt auf den Moment, dessen Länge offen bleiben sollte. Familie? Die eigene von früher, Vater, Mutter, Schwester, Bruder, sie lagen ihr immer noch auf der Brust, die Beklemmung hatte nachgelassen, fort war sie nicht. Ein Mann fürs Leben, ein gemeinsames Dach, die Vorstellung allein sorgte bei Johanna zuverlässig für Kopfweh wie der Föhn in dieser von Gebirgszügen umschlossenen Stadt, wo sie nicht aus Neigung lebte, sondern weil es sich so ergeben hatte.
Ein Kind, das war bis vor kurzem genauso unvorstellbar, doch vierunddreißig ist vierunddreißig, das Zeitfenster beginnt sich irgendwann zu schließen, unwiderruflich, es gab mittlerweile Tage, an denen Johanna sich auf eine solche Überlegung einließ, sie vor dem Einschlafen locker konturierte wie die erste Entwurfskizze zu einem Projekt, nicht ergebnisorientiert, sondern spielerisch, wie die einigermaßen verrückte, aber in Wellen beharrlich wiederkehrende Idee, die Zelte hier ganz abzubrechen und nach Wien zu ziehen, sich beruflich völlig anders zu orientieren und privat auch.
Ernsthaft hat sie diesen Schritt trotzdem nie erwogen, und wirklich ernsthaft hat sie sich auch mit ihrem Kinderwunsch – kann man dieses Driften der Gedanken denn überhaupt schon einen Wunsch nennen? – nie auseinandergesetzt bisher. Doch hat sie die Pille abgesetzt, immerhin ist das Kondom erfunden für die gefährlichen Tage, und dann passiert es eben, gegen alle Wahrscheinlichkeit, denn der Zyklus gibt es eigentlich nicht her. Johanna nimmt ihre Schwangerschaft hin, sie schreckt sich nicht, sie freut sich nicht. Mario will sie erst in zwei oder drei Wochen einweihen, wenn sie sich in die neue Situation eingelebt haben wird. Einleben, was für ein Wort.
Der Länge nach legen sie sich nebeneinander und beginnen mit dem Austausch des Erbgutes. Crossing over heißt das, und wenn man Pech hat, läuft bei der Reduktionsteilung etwas schief, eines der Chromosomenpaare trennt sich nicht und nicht, die beiden Keimzellen vereinigen sich trotzdem, aber irgendwo sitzen jetzt drei statt zwei solche DNA-Stränge. Wenn man Glück hat im Pech, geschieht das auf dem von der Genforschung zugewiesenen Platz einundzwanzig, wo sich programmgemäß das kleinste Chromosom aufhält, wenn man ein zweites Mal Pech hat zum Beispiel auf Platz dreizehn, achtzehn, in ganz extremen Fällen, Triploidie genannt, gar überall. Wie auch immer, das neue Leben nimmt von nun an seinen Lauf, vorläufig zumindest, und es ist, wie es ist.
Am frühen Nachmittag schneit Mario, unerwartet für Steffi, auf einen Sprung herein. In der Mittagspause hat er auf Johannas Bitte per Fahrrad schnell die Kügelchen besorgt, bei seiner Tochter hat sich nämlich ein lästig juckender Hautausschlag bemerkbar gemacht, und Johanna setzt auf Homöopathie. Mario hat zwar die Schuhe abgestreift, nimmt aber nicht einmal die Mütze ab, stellt das Fläschchen auf den Tisch, trinkt hastig einen Schluck Wasser aus der Leitung und muß gleich wieder weg. Bis später, ruft er der Kleinen im Vorbeieilen zu, bückt sich im Vorzimmer und zieht die Reißverschlüsse seiner Stiefeletten zu.
Nein, sagt Steffi da bestimmt, und Mario schaut auf. Wie konnte er! Mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger zeigt sie auf Johanna. Also zieht Mario die Schuhe noch einmal aus, bewegt sich, langsamer als zuvor, auf Johanna zu, küßt sie demonstrativ auf beide Wangen. Jetzt zeigt Steffi auf sich selbst und sagt: Steffi. Mario hebt sie auf, ein Schmatz links, einer rechts, kurz stemmt er die mittlerweile knapp dreizehn Kilo Tochter hoch, sie quietscht vor Freude dabei. Dann läßt er sie zwischen seinen gespreizten Beinen hindurchsausen und stellt sie hinter sich behutsam ab. Steffi klopft ihm zärtlich auf den Hintern, während er, immer noch gebeugt, eine Etage tiefer Grimassen schneidet, bis ihm das Blut in den Kopf schießt und die Mütze auf dem Boden landet. Jetzt darf er gehen.
Daß sie drei sein, also zusammenwohnen werden, ist für Johanna noch lange nicht ausgemacht, als sie Mario reinen Wein einschenkt. Er tut ihr gut, aber verliebt, nein verliebt ist sie nicht mehr in ihn, wenn sie das denn überhaupt je war. Er bedrängt sie nicht in ihrem Leben, schulmeistert sie nicht, das ist viel, sehr viel sogar, wenn sie ihre früheren Beziehungen in Rechnung stellt.
Aber jedes Ding hat zwei Seiten, denn ihr Bedürfnis, sich auszutauschen, sich in tiefen, gern auch kontroversen Gesprächen über dies und jenes mehr Klarheit zu verschaffen, muß sie sich bei ihm abschminken. Johanna ist im Lauf der Zeit zum Schluß gekommen, intensives Reden sei wohl grundsätzlich nicht Marios Sache. Und: Je näher ihm ein Mensch steht, ist sie überzeugt, desto weniger kann er ihm seine Gefühle zeigen. Ihr Insistieren macht ihn nur nervös, ungeduldig, nicht selten sogar richtig aggressiv.
Für ihn dagegen, hat Johanna sich sagen lassen müssen, sind ihre Wortschwälle oft lähmend, die Grenze zwischen Be- und Zerreden bekanntlich fließend und von ihr zuverlässig überschritten. Seither nimmt sie sich zurück, verhält sie sich pragmatisch, wann immer sie ihre Emotionen halbwegs unter Kontrolle hat.
Du wirst Vater, sagt sie knapp und verzieht keine Miene. Dabei schaut nur ihr Kopf aus dem Wasser, denn sie hat sich das gemeinsame Bad am frühen Abend ausgesucht, um ihm die Neuigkeit zu vermitteln. In der Wanne kann er nicht ausweichen, ist ihr Kalkül, und sie kann ihm direkt ins Gesicht sehen.
Am Anfang war ihr manchmal übel, aber das gehört dazu, war sie sich bewußt. Sonst verlief die Schwangerschaft überaus angenehm, praktisch beschwerdefrei. Johanna fühlte sich stark und unternehmungslustig, leicht euphorisiert meistens und vor allem grenzenlos optimistisch. Die Arbeit ging ihr flott von der Hand, reibungsloser sogar als gewöhnlich, bildete sie sich ein, wohl auch, weil sie unerwarteten Schwierigkeiten gelassener begegnete, mit dem Abstand dessen, dem bald eine neue, völlig anders geartete Aufgabe ins Haus steht. Das Kind selbst blieb dabei, so komisch das klingen mag, zumindest die ersten Monate eine Nebensache.
Nur die Besuche beim Frauenarzt führten regelmäßig zu empfindlichen Dellen in ihrem Wohlbefinden. Dr. Wegener, einem erfahrenen, etwas spröden Mediziner um die sechzig, war nämlich sehr darum zu tun, daß sie verläßlich jenen medizinischen Fahrplan abarbeitete, den er vorsorglich für sie, aber nicht mit ihr konzipiert hatte. Immerhin sind Sie ja doch schon eine Spätgebärende, Frau Diplomingenieur.
Johanna schluckte.
Nüchtern belehrte er sie unter anderem über das altersbedingt beträchtlich erhöhte Ausgangsrisiko für Genommutationen, vor allem die Trisomie einundzwanzig. Johanna kam sich vor wie in einem Wettbüro, ihr flogen die Verhältniswerte nur so um die Ohren, eins zu hundertsechsundachtzig, eins zu zweihundertzweiundsiebzig, oder hat er sechshunderteinundachtzig gesagt, siebenhundertzweiundzwanzig? Selbst sie, die mit Zahlen und Maßstäben umzugehen gewohnt war, fühlte sich von all den Daten, diesen hochprozentigen Eventualitäten zugeschüttet und einigermaßen verunsichert. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, sie bat um ein Glas Wasser.
Er schien ihre Gemütslage wahrzunehmen und beeilte sich hinzuzufügen: Mit jedem Untersuchungsschritt wird sich die Wahrscheinlichkeit natürlich beträchtlich reduzieren, wollen wir hoffen. Zuerst, dozierte er nicht unfreundlich, aber bestimmt und routiniert weiter, zuerst machen wir auf alle Fälle einmal in der vierzehnten Woche die Nackentransparenzmessung.
Der Fötus, erklärte Dr. Wegener dann zu diesem Termin das verschwommene Bild auf dem Monitor, lag blöderweise dermaßen nach hinten durchgebogen, daß er seinen Nacken versteckt hielt und es nur mit größter Mühe, wenn überhaupt, möglich war, ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen. Die Laune des Arztes verdüsterte sich erheblich, aber Gott sei Dank nicht wegen des Resultats, sondern nur wegen der lästigen Anstrengungen auf dem Weg dorthin. Könnte ein bißchen geringer sein, war schließlich sein knappes Urteil, aber machen Sie sich derweil am besten keine Gedanken.
Zum sogenannten Ersttrimesterscreening, ein Zungenbrecher war das für Johanna, zum Ersttrimesterscreening also gehörte als nächstes ein spezieller Bluttest, denn es galt, zwei bestimmte Schwangerschaftshormone zu analysieren. Ihre Konzentration im Blut der Mutter