Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Georg Luther: Eine Salzunger Geschichte
Georg Luther: Eine Salzunger Geschichte
Georg Luther: Eine Salzunger Geschichte
Ebook632 pages8 hours

Georg Luther: Eine Salzunger Geschichte

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Karl Döbling hat sich auf Spurensuche begeben.

Der studierte Germanist und Historiker hat in den Tiefen der Geschichte des kleinen Städtchens Bad Salzungen und der des riesigen Amerika gegraben und einen biografisch-historischen wie literarischen Schatz geborgen.

Der 1838 in Salzungen geborene Georg Luther macht sich als später Nachfolger der 1848er Revolutionäre wie so viele andere Deutsche nach Amerika auf. Er verspricht sich davon in erster Linie eines: Freiheit. Der bedrückenden Enge des thüringischen Kleinstädtchens entflohen, der Verfolgung durch die Behörden entkommen, betritt er in New York den Boden der Neuen Welt. Voller Unrast, immer auf der Suche nach einem freien Leben, durchzieht er die USA, spinnt Träume und begräbt sie wieder.

Schließlich steht er mitten im Bürgerkrieg
LanguageDeutsch
Release dateJan 28, 2015
ISBN9783945408216
Georg Luther: Eine Salzunger Geschichte

Related to Georg Luther

Related ebooks

European History For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Georg Luther

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Georg Luther - Karl Döbling

    2011

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    Erster Teil –

    Kinheit und Jugend in Salzungen (1837–1858)

    1 Die Christmette (1844)

    2 Sagen und Märchen (1845)

    3 In der Saline (vor Ostern 1846)

    4 Glück und Unglück (Sommer bis Herbst 1846)

    5 Wassergefahren (1846/47)

    6 Böse Überraschung (1847)

    7 Besuch in Liebenstein (1847)

    8 Revolution in Salzungen (1848)

    8b Erste Unruhen

    8c 13. & 14. März 1848

    8d Katzenjammer

    9 Tod des Bruders (1848)

    10 Eine Flucht (1848/49)

    11 Vogelschiessen (1850)

    12 Ausflug zum Hautsee (1851)

    13 Wucke (1851/52)

    14 Prügel in der Kirche (1853)

    15 Nachrichten aus Amerika (1854)

    16 Der Lehrbrief (1854–56)

    17 Besuch auf dem Altenstein (1857)

    18 Abschied von Salzungen (1858)

    19 Eine Reisebekanntschaft (1858)

    20 Adieu Deutschland (1858)

    21 Von Bremen nach Southampton (1858)

    Zweiter Teil

    Die Jahre in Amerika (1858–1863)

    22 Von Southampton nach New York (1858)

    23 Überraschung in New York (1858)

    24 Bei Martin Seiffert in Taycheedah (1858/59)

    25 Bei Adam Klinzing in Blue Mounds (1859)

    26 Auf Beaumont’s Plantage (1859)

    27 Das gelbe Fieber (1859/60)

    28 Zurück nach Wisconsin (1859/60)

    29 Auf dem Mississippi (1860)

    30 Fuhrmann im Wilden Nordwesten (1860/61)

    31 Georg kauft eine Farm (1861)

    32 I am going to fight mit Sigel (1861)

    33 An der Indianerfront (1862)

    34 Die Belagerung von Fort Abercrombie (1862)

    35 Nach Vicksburg (1863)

    36 Im Lazarett von Chickasaw Springs (1863)

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen National­bibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig.

    Cover: »North Star, steam yacht built for Cornelius Vanderbilt in 1852«, Urheber: James Bard (1815–1897), Datei: North Star (steam yacht 1852) by Bard.jpg, Wikimedia Commons, Quelle: The Athenaeum.org.©

    © by Verlag Neue Literatur

    www.verlag-neue-literatur.com

    Gesamtherstellung: Satzart Plauen

    ISBN 978-3-945408-21-6

    Erster Teil

    Kindheit und Jugend in Salzungen (1838–1858)

    1 Die Christmette (1844)

    »Sti uff, Jörg, sti uff!¹«, rief die Mutter und versuchte den sechsjährigen Georg wachzurütteln. Der fand nur mühsam aus einem Traum heraus.

    »Wörds bald, ich wärt nött!«, tönte es jetzt aus dem Treppenhaus.

    Der Vater! Schlagartig war Georg wach. Es war kalt im Zimmer. Beim Ausatmen bildeten sich kleine, weiße Wölkchen, Eisblumen bedeckten das Fenster, das Wasser im Waschbecken hatte eine dünne Eisschicht. Dann hörte er die ersten Schläge der Glocke der Stadtkirche, schließlich fiel die kleinere Rathausglocke mit ein.

    »Viertel vor sechs«, sagte die Mutter, »wir müssen uns beeilen!« Sie half Georg in die kalten Kleider. Der konnte das Zähneklappern nicht unterdrücken. »In einer Viertelstunde fängt die Christmette an, du willst doch auch die Christkinderchen sehen.«

    Natürlich wollte Georg das! Seit Tagen wartete er darauf.

    »Werden sie auch ganz bestimmt kommen?«

    Bruder Heinrich, drei Jahre älter, hatte sich schon allein angezogen:

    »Das sind doch nur die Chorschüler, als Engel verkleidet«, mischte er sich altklug ein. »Ich habe es von Vitter² Wehner gehört.«

    »Was weiß denn der Vetter davon?«, sagte die Mutter ärgerlich. »Ohne Brille kann er nicht mal eine Kuh von einem Pferd unterscheiden.«

    Vor dem Haus lag der Schnee mehr als einen halben Fuß hoch. In der Nacht hatte es Neuschnee gegeben, der weiße Teppich war noch unberührt. Georg rannte hinaus, um ihn als Erster zu betreten. Die schneidende Kälte nahm er nicht mehr wahr. Dann blieb er stehen. Im Schnee sah er sein Schattenbild. Es war viel größer als er, bewegte sich, wenn er sich bewegte, und stand still, wenn er sich nicht rührte. Dass man auch nachts sein Schattenbild sehen konnte, war ihm neu. Vielleicht wurde man immer von seinem Schattenbild begleitet und nur die Sonne zwang den heimlichen Begleiter, sich zu zeigen. Nein, das stimmte nicht. Auch der Schein einer Kerze genügte. Erst vor ein paar Tagen hatte die Großmutter mit ihren Händen fantastische Tiere und Pflanzen an die Zimmerwand gezaubert. Georg hatte es ihr nachzumachen versucht. Man muss­te die Hand zwischen Kerze und Wand halten, nicht zu weit von der Wand entfernt, wenn ein scharfes Bild erscheinen sollte. Wenn also sein Schatten vor ihm so deutlich auf dem Schnee zu sehen war, musste das Licht vom hinten kommen. Richtig, dort stand der volle Mond schon tief im Westen und tauchte die Stadt in sein fahles Licht. Er sah riesig aus, größer als die Sonne. In sein Licht durfte man gefahrlos schauen. Bei der Sonne ging das nicht, oder höchstens einen Augenblick lang, wenn man nicht blind werden wollte. Jedenfalls wurde davor gewarnt, als vor einigen Monaten vom »Salzunger Tageblatt« eine teilweise Verdunkelung der Sonne, eine Sonnenfinsternis, angekündigt wurde und Georg immer wieder nachschauen wollte, ob es schon so weit sei. Der Bruder hatte ihm dann gezeigt, wie man eine Glasscherbe mit einer Kerze so rußig macht, dass man durch die Scherbe die Sonne nur als blasse Scheibe sieht. So blass wie eben jetzt der Mond.

    »Bås wörds, Jörg, ich mecht nett länger då d’rfreer!« Die Mutter stand vor der Haustür und blickte sich nach ihm um. Jetzt traten auch die anderen Familienmitglieder aus dem Haus und formierten sich für den kurzen Weg zur Kirche: vorneweg der Stiefvater, Kurschmied Krah, dann die Mutter mit der kleinen Schwester im Arm, die wieder eingeschlafen war. Zum Schluss Bruder Heinrich. Georg beeilte sich, seinen Platz neben Heinrich einzunehmen. Die Eltern, im Sonntagsstaat, grüßten links und rechts Bekannte und Verwandte – von denen es viele gab. Zur Kirche hin wurde der Menschenstrom dichter, der Lärm immer größer. Aus der Menge drangen Kindergeschrei, einzelne Rufe, Gelächter. Hin und wieder tauchte eine Schnapsflasche auf, aus der jemand einen guten Schluck nahm, bevor er sie weiterreichte. Einige vor allem der Jüngeren schienen des Guten schon zu viel genossen zu haben.

    Salzungen um 1860

    * Die Stadterweiterung wurde unter anderem dadurch behindert, dass den Pfännern noch bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Wohnsitz innerhalb der Stadtmauern vorgeschrieben war. Schon deshalb wurde innerhalb des Mauerrings durch Um- und Anbauten an Vorhandenes erheblich mehr Wohnraum geschaffen.

    Bildquelle: Postkarte von 1914 aus dem Besitz des Autors.

    »Die Mette sollte abgeschafft werden«, meinte der Vater zu Nachbar Büchner. »Sie ist doch heutzutage nur noch Anlass für Unordnung und Ausschweifungen.«

    Büchner nickte heftig:

    »Die Obrigkeit hätte sie schon längst verbieten sollen!«

    »Wer das heilige Fest feiern will, kann auch die Frühpredigt besuchen.« Der Vater blickte verächtlich auf eine Gruppe, deren dürftige Kleidung von der Nacht kaum verhüllt wurde. »Für Schnaps reicht es bei denen immer.«

    Georg hatte inzwischen darüber nachgedacht, wie er echte von nachgemachten Engeln unterscheiden könnte. Engel können fliegen, das wusste jeder, als Engel verkleidete Chorschüler sicher nicht. Er würde genau aufpassen.

    Die Kirche war innen festlich erleuchtet und schon gut gefüllt, doch immer noch drängten sich Menschen hinein. Die jungen Männer besetzten die Emporen. Von dort kamen anzügliche Bemerkungen, die den unten Sitzenden, vor allem den jungen Mädchen galten, die bei ihren Eltern saßen und nicht aufzublicken wagten. Besonders freche Spöttereien wurden von Gelächter begleitet.

    Stadtkirche

    Bildquelle: Postkarte von 1914 aus dem Besitz des Autors.

    »Joumpfer Dortgen, bås wår dås gästern fir e går årg Kwötscherei³. Se öß noch Joumpfer, Dortgen?« – »Frau Ståårn, ei sett schlächt uiß, me maint, ei hätt e gårschtig Måån!« – »Ammerie, dou guckst ju hitt gewaltig suur! S’öß wåhr dou håst bi’s Taanze kei Borsche kröcht?«

    Nur mit Mühe zwängte sich die Familie durch die Menge. Georg als der Kleinste hatte es besonders schwer, wurde abgedrängt und verlor für einen Augenblick den Anschluss. Die zornige Stimme des Vaters ließ aber keinen Zweifel daran aufkommen, in welche Richtung es ging. Er stritt mit einer Frau, die sich – unrechtmäßig, wie er schimpfte – in der Erbbank der Krahs niedergelassen hatte. Die Umstehenden schauten dem Disput belustigt zu. Einige versuchten, die Parteien aufzustacheln, schließlich räumte die Frau den Platz. Mit Schmied Krah war nicht gut Kirschen essen. Zufrieden über seinen Sieg setzte sich der Vater, die Mutter rückte neben ihn, Georg quetschte sich an den Rand der Bank, aber es war einfach zu eng. Auch auf dem Schoß der Mutter war kein Platz, den nahm schon die kleine Karoline ein. Mit einem missgünstigen Blick auf die Schwester stellte er sich neben Heinrich. »Es sind keine richtigen Engel«, flüsterte der, schwieg dann aber, als ihn ein böser Blick des Vaters traf.

    Der Gottesdienst begann. Die Orgel setzte brausend mit dem Vorspiel ein, der mächti­ge Klang füllte den Raum und brachte auch die Vorlautesten zum Schweigen. Dann intonierte der Organist, Lehrer Müller, das erste Lied, und die Gemeinde fiel ein: »Nun singet und seid froh!« Auch Georg sang mit. Danach trug Diakon Hopf das Festevangelium vor. Georg versuchte vergeblich, den Prediger zu erspähen. Die Umstehenden verstellten ihm die Sicht. Sie waren einfach zu groß und standen zu dicht. Er blickte nach oben, wo die Christkinder erscheinen mussten, folgte mit den Augen der umlaufenden Deckeninschrift, die trotz der vielen brennenden Kerzen kaum zu erkennen war. Mutter hatte sie ihm einmal vorgelesen, aber er hatte nichts verstanden. »Ich bin der Anfang und das Ende. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Georg hatte den Text nicht genau im Kopf. Welcher Vater war gemeint? Diese Worte hat Jesus Christus gesagt, hatte die Mutter ihm erklärt. Vorne, wo der Altar vom Kerzenschein hell erleuchtet war, hing er an einem hölzernen Kreuz. Er sah nicht so aus, als würde er viel helfen können, eher so, als brauche er selbst Hilfe. Aber nicht einmal der eigene Vater hatte ihm geholfen! Doch so etwas sagte man besser nicht. Letztes Jahr hatte Georg für allgemeine Heiterkeit gesorgt, als er laut in den Gottesdienst hineingefragt hatte: »Eh, Motter, bär is denn d’r nackige Måån⁴ dort?« Die Mutter hatte ihn, peinlich berührt, angefahren, er solle den Gottesdienst nicht stören. Danach hatte sie versucht, ihm einige Grundlagen der christlichen Lehre zu vermitteln, war aber nicht weit gekommen. Zu jedem Punkt hatte Georg Fragen und jede Erklärung führte zu neuen Fragen, sodass sie schließlich die Geduld verlor und auf das bewährte Verfahren aller Glaubensapostel und Kirchengründer zurückgriff: die Glaubenssätze als verbindlich und nicht weiter hinterfragbar zu erklären.

    Georg sah hin und wieder die großen Wachskerzen am Altar durch die Menge hindurchscheinen. Sie verbreiteten ein ruhiges Licht, ganz anders als die flackernden Unschlittkerzen⁵ zu Hause. Die Gemeinde sang inzwischen »Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich«. Bald würden die Christkinder kommen. Georgs Nacken begann zu schmerzen. Er musste den Kopf senken. Er besah den steinernen Fußboden, verfolgte die Bewegungen der zahllosen Beine und Füße, hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Schließlich sprach der Pfarrer den Segen und stimmte »In dulci jubilo« an. Die Gemeinde fiel wieder ein.

    Marktplatz mit Stadtkirche und Rathaus

    Bildquelle: Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens. Heft 35: Kreis Meiningen. Amtsgerichtsbezirk Salzungen, hg. v. G. Voss, Jena: Gustav Fischer 1909, S. 11.

    Georg musste einen Moment eingeschlafen sein. Im Stehen! Er wurde wach, als jemand neben ihm rief: »De Chriskengerche⁶, de Chriskengerche kumen. Bås fer scheen Engel!« Wie er sich auch reckte, nichts war zu sehen. Der Gottesdienst war zu Ende und Georg zutiefst enttäuscht. Eine gut gekleidete Dame trat auf die Mutter zu, begrüßte dann die Brüder und drückte ihnen Süßigkeiten in die Hand. Es war Heinrichs Patin Melzheimer. Ihr schönes, von dunklen Locken umrahmtes Frauengesicht machte einen tiefen Eindruck auf Georg. Noch viele Jahre später würde er es lebhaft vor Augen haben.

    Nach dem Gottesdienst löste sich die Menge schnell auf, jeder wollte zurück in sein warmes Heim. Der Vater richtete noch ein paar Worte an den Pfarrer, der ihn aber eilig abfertigte, weil einige Honoratioren des Städtchens, voran der Erste Bürgermeister, herantraten. Georg hatte nun einen freien Blick nach vorn, aber die Engel waren weg. Sie müssen fortgeflogen sein, sagte er sich. Die Mutter hatte sie fliegen sehen. Ganz in Weiß seien sie gekleidet gewesen, weiß auch die Flügel, das lange Haar golden. Also waren es doch keine nachgemachten Engel gewesen! Er war zwar ein wenig enttäuscht, dass sie sich ihm nicht gezeigt hatten, hatte aber immer noch das schöne und liebenswürdige Gesicht der Patentante vor Augen, wie sie sich über ihn beugte und ihn anlächelte. So etwa mussten die Engel ausgesehen haben. Den Bruder mochte er nicht fragen, erst recht nicht den Vater. Der Vater würde sicher zornig werden, wenn er hörte, dass Georg beim Gottesdienst eingeschlafen war. Von ihm hörte er ja bei jeder Kleinigkeit: »Us dem Jörg wörd nie äppes Räächts!« Und erst gestern hieß es: »Vom Hirscheklaas håste nur Busche ze hoffe.⁷«

    Das war zwar nicht der Fall, aber die Geschenke, die der Klaas im Auftrag des Christkindes für Georg abgegeben hatte, waren etwas enttäuschend. Jedenfalls entsprachen Zahl und Größe der Päckchen seinen Erwartungen nicht im Geringsten. Bevor man sich die Geschenke ansehen durfte, galt es, den Tannenbaum zu bewundern. Der war auch wirklich wunderschön! Der Vater hatte Kerzenhalter in den Stamm gebohrt, kleine Kerzen in die spiralförmigen Enden gesteckt und mit einem Fidibus angezündet. Jetzt verbreiteten sie ein warmes Licht und zugleich einen angenehm süßlichen Duft. Der Vater hatte zur Feier des Tages echte Wachskerzen aufgesteckt! Die Mutter hatte Strohsterne, vergoldete Nüsse und ein paar Glaskugeln an die Zweige gehängt. Ehe es endlich ans Auspacken gehen konnte, mussten noch Weihnachtslieder gesungen werden.

    Das Christkind hatte sich – im Sinne der Eltern – für »praktische« Geschenke entschieden. Für Georg gab es eine lange Hose mit passender Jacke, was keine Überraschung war, da Schneider Morscheffski sie ihm vorher angemessen hatte. Georg hatte sich zwar kurze Kniehosen gewünscht, aber sein Wunsch war einfach nicht erhört worden. Er hatte sich sogar nach dem ersten Anmessen noch einmal zu Morscheffski geschlichen und ausgerichtet, dass die Hosen bis zu den Knien und nicht bis zu den Knöcheln reichen sollten. Der Schneider hatte ihn feindselig angeblickt und »wird gemacht« geknurrt. Da war Georg schon klar, dass es Weihnachten eine lange »Stoffelshose« geben würde. Die Enttäuschung saß tief. Lustlos musterte er die anderen Geschenke: ein Paar wollene Strümpfe, ein Paar Socken, ein Tütchen mit Pfefferscheiben, zwei Äpfel, mit Zucker überzogen. Er hätte gern in einen gebissen, aber das ging jetzt nicht. Von der Patentante Weibrecht kam ein Kästchen mit hölzernen Bauklötzen. Nachher würde er damit spielen. Wenn er seine alten Klötze dazutat, würde er eine ordentliche Burg bauen können. Auf einem steilen Berg müsste sie stehen! Wie die Kraynburg, deren Ruine von Salzungen aus gut zu sehen war. Nicht so wie das, was man in Salzungen die »Burg« nannte. Das war keine richtige Burg, da gab es weder Wall noch Graben noch Zugbrücke. Jeder konnte ein- und ausgehen, sogar die Schule befand sich dort oben, der Kirche gegenüber. In einem Jahr würde er auch in die Schule gehen. Die Geschichten über die strengen Lehrer, die Heinrich gelegentlich erzählte, waren sicher übertrieben. Der Bruder machte sich manchmal einen Spaß mit ihm, wie heute Morgen mit den Christkindern. Natürlich gab es die, nur schade, dass er sie nicht gesehen hatte. Warum musste er auch einschlafen? Jetzt hieß es ein Jahr warten.


    1 Sti uff, Jörg, sti uff: Steh auf! (Passagen im Salzunger Dialekt werden im Folgenden nur dann »übersetzt«, wenn es zum Verständnis notwendig erscheint.)

    2 Vitter: Vetter (jeder entferntere männliche Verwandte)

    3 Geknutsche

    4 Mann

    5 Talgkerzen

    6 Christkinderchen

    7 Vom Nikolaus hast du nur Prügel zu erwarten.

    2 Sagen und Märchen (1845)

    »Und als beim großen Erdbeben in Lissabon, das ist die Hauptstadt des Königreichs Portugal, der Erdboden unter den Füßen der erschrockenen Einwohner wankte, dass Häuser, Kirchen und Paläste einstürzten und viele Menschen unter sich begruben, verheerende Brände wüteten, und als das Meer hohe Wellen ans Land warf, obwohl kein Lüftchen sich regte, da geriet der Salzunger See …«

    »Erzählt den Kindern nicht so tolles Zeug«, grummelte der Vater, »die sind schon närrisch genug.«

    Aber Großmutter Krell ließ sich nicht einschüchtern.

    »Wenn es aber doch wahr ist!«, protestierte sie. »Ich habe es von meinen Großeltern gehört, und die haben es selbst gesehen. Der Salzunger See geriet zu derselben Stunde, wo das Erdbeben stattfand, in Wallung, wie Wasser im Topf, wenn es zu sieden beginnt. Dann fing das Wasser an zu kreisen, und in der Mitte bildete sich ein großer Wirbel, dorthin flutete das Wasser und wurde in die Tiefe gerissen. Sogar die Felsen dort unten hat man kurze Zeit sehen können!«

    »Und war das ganze Wasser dann weg?«, fragte Georg.

    »Nein, mit donnergleichem Brausen schoss es wieder hervor und schwoll über den Uferrand, bis sich die Oberfläche nach einiger Zeit schließlich glättete und der See wieder zur Ruhe kam. Und so etwas kann immer wieder passieren, wenn sich große Dinge auf der Welt ereignen.«

    »Aber wie ist das möglich?«, fragte Heinrich, der nicht mehr in dem Alter war, in dem man alles glaubt, was Erwachsene erzählen.

    »Ich weiß es auch nicht«, gestand die Großmutter, »aber die Leute sagen, dass eine geheimnisvolle unterirdische Verbindung zwischen dem Ozean und unserem See besteht. Und das ist gut möglich, denn der See ist so tief, dass die Leinen keinen Grund fanden, als man die Tiefe messen wollte. Und der See erstreckt sich bis weit unter die Felsen der Burg und unter die Stadt«, fuhr die Großmutter fort und erzählte von dem Taucher, der einmal den Grund des Sees finden wollte, von heftigen Strömungen in der Tiefe erfasst wurde und der berichtete, er habe das Hämmern der Marktschmiede ganz deutlich über sich gehört. »Vielleicht ist alles Wasser dieser Welt durch unterirdische Höhlen miteinander verbunden, und was wir für festen Boden halten, ist nur die feste Kruste über weichem Teig.«

    Georg wurde ganz unruhig bei dem Gedanken, dass unter ihm sich ein riesiger See ausbreiten könnte. Was würde geschehen, wenn die Erde einbrach? Besser, man dachte nicht darüber nach. Und die geheimnisvolle Verbindung zum Ozean, der so unendlich groß war, dass man monatelang unterwegs war, ohne Land zu sichten? Den Ozean würde er gern einmal sehen. Aber Salzungen war weit vom Meer entfernt. Er musste eben warten. Später würde er jedenfalls den Ozean und die Länder auf der anderen Seite bereisen. Er lauschte wieder der Großmutter:

    »… und die Wasserfrauen kamen durch die Seespforte und gingen zum Tanz in den ›Haunischen Hof‹. Sie mussten immer vor Mitternacht in den See zurück. Einmal kamen sie zu spät. Als sie sich in den See stürzten, färbte der sich blutrot. Seitdem hat man sie nicht wieder gesehen, aber sicher gibt es sie noch.«

    »Und die Grube hinter dem See?«, fragte Georg. »Gibt es da auch Wasserfrauen?«

    »Und ob! Eigentlich heißt sie ›Teufelskutte‹. Sie ist noch tiefer als der See – wer da hineinstürzt, der ist verloren. Ein Drache soll einmal da gehaust haben. Auf jeden Fall sind dort auch Wasserfrauen mit grünen Augen und langem Schilfhaar, ganz nackt und mit Fischschwänzen, gesehen worden, die Vorübergehende in die Tiefe zu locken versuchten.«

    »Nun ist es genug!« Jetzt griff die Mutter ein, spätestens bei dem Wörtchen »nackt« war sie aufmerksam geworden. Du machst die Kinder wirklich noch närrisch. Erzähl lieber die alten Sagen von der Wartburg oder von Ludwig dem Springer.«

    Das war Georg auch recht und er rückte nahe an die Großmutter heran, um sich kein Wort entgehen zu lassen, als sie vom Sängerkrieg auf der Wartburg, vom Schmied zu Ruhla und von der mildtätigen Landgräfin Elisabeth berichtete. Der Schmied von Ruhla war ein ganzer Kerl. Ganz anders als der Stiefvater. So musste Georgs richtiger, früh verstorbener Vater gewesen sein! Der Schmied Luther, von dem die Mutter manchmal erzählte, wenn ihr Mann nicht dabei war. In Georgs Fantasie nahm Elisabeths hartherziger Ehemann die Züge des Stiefvaters an. Ein Wunder hatte sie vor seinem Zorn gerettet. Ein Wunder könnte auch er manchmal gebrauchen, wenn Krah übler Laune war.

    Am liebsten aber hörte Georg die Kyffhäusersagen, etwa die über den jungen Hirten, der die Sackpfeife bläst und von einem alten Mann befragt, wem sein Stück gegolten habe, »dem Kaiser Friedrich« antwortet und daraufhin von dem alten Mann in den Berg geführt wird, wo er die wunderbarsten Dinge sieht: Gold und Edelsteine, auch altertümliche Waffen. Damit werde der Kaiser Rotbart, wenn die Zeit erfüllt sei, wiederkehren und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit errichten, erklärt der Alte dem Hirten. Dann bricht er von einem großen Gefäß den Fuß ab, gibt ihn dem Hirten und bringt ihn zu seiner Herde zurück. Der abgebrochene Fuß aber ist von purem Gold.

    Die Großmutter veränderte gelegentlich die Sage, vielleicht waren es auch verschiedene, einander ähnliche Sagen. Am besten gefiel ihm die Fassung, nach der der junge Hirt eine blaue Blume findet, sie an sein Hütchen steckt und so in das Berginnere gelangt, von einem Zwerg geleitet. Dort sieht er merkwürdige Dinge, darunter bunte Kiesel, von denen er einige in seine Tasche steckt. Als er von dem Zwerg wieder aus dem Berg gebracht wird, hat er die Blume verloren. »Vergiss das Beste nicht«, wird er zwar von dem Zwerg gewarnt, aber er hört nicht auf ihn. Die Kiesel erweisen sich als Edelsteine. Aber den Weg in den Berg findet der Hirt nie wieder.

    Seltsam war, dass die Großmutter fast die gleiche Sage auch von der Kraynburg erzählte. Statt des Zwergs führt eine schöne, aber blasse Jungfrau einen Schäfer ins Berginnere. Die blaue Blume ist hier eine Tulipane, der Schäfer füllt seinen Hut mit Gold. Allerdings nimmt diese Geschichte ein böses Ende, die eiserne Tür zum Kellergewölbe schlägt hinter ihm zu und das Gold verschwindet. Der Schäfer aber ist so erschrocken, dass er krank wird und nach drei Tagen stirbt.

    Georg stellte sich vor, was er gemacht hätte. Er hätte die wunderbare Blume natürlich nicht liegen gelassen! Sie war ja der Schlüssel zum Inneren des Berges mit seinen Wundern und Schätzen. Mit ihr konnte man immer wieder in den Berg finden und sich das Nötige von dem dort angesammelten Reichtum nehmen. Am Sonntag Trinitatis und am Johannistag, so hieß es, blühen die Glücksblumen und stehen die verzauberten Schatzhöhlen offen. Aber nur für Sonnntagskinder, fiel Georg ein. Das war er nicht. Vielleicht ging es auch ohne die Blume. Man müsste einmal den Kraynberg besteigen und in der Ruine nach einem Kellerzugang suchen. Vielleicht hatte er Glück. Was würde er mit dem Reichtum anstellen? Einen Palast brauchte er nicht, aber ein schönes Haus könnte er bauen lassen, wie das vor dem Neuentor, das seinem Großonkel Krell gehörte. Dort könnte seine Mutter mit der kleinen Schwester wohnen. Er würde sich ein Zimmer einrichten, das voller Bücher wäre, denn natürlich könnte er dann lesen und würde alles wissen, was in den Büchern steht. Seine Freunde könnten ihn besuchen, vielleicht auch Barchen⁸ – des Kattunschuster Ortmanns Tochter.

    An dieses Mädchen musste Georg neuerdings öfter denken. Sie war ein gutes Jahr älter als er, zierlich, geschickt bei Ballspielen und schwer zu fangen. Aus welchem Grund der Flickschuster Ortmann von den Leuten »Kattunschuster« genannt wurde, wusste Georg zwar nicht genau, aber er begriff so viel, dass es kein Lob war.

    Ortmann war ein freundlicher und, obwohl erst Mitte dreißig, gebückt gehender Mann. Georg hatte erst gestern in seiner Werkstatt in dem kleinen Häuschen am Niederborn gestanden, um reparaturbedürftige Schuhe abzugeben. Wände und Fußboden des kleinen Raums waren über und über bedeckt mit Schuhen, Stiefeln, Werkzeugen und Lederstücken. Über allem hing ein scharfer, aber nicht unangenehmer Geruch nach frischem Leder, Lederfett und verschiedenen Flüssigkeiten, die auf einem Wandbord standen und vielleicht zum Einfärben von Leder dienten. Am meisten faszinierte Georg aber die große, mit Wasser gefüllte Glaskugel, die von der niedrigen Decke herabhing und hinter der eine Kerze brannte. Die Kugel, erklärte ihm Ortmann, sammle die Strahlen der Kerze und konzentriere sie auf einen Punkt. So könne er leichter erkennen, wie etwa eine Naht zu verlaufen habe. Georg verstand das nicht richtig, aber Ortmann zeigte ihm den hellen Fleck, den er mithilfe der Kugel projizieren konnte und der weiterwanderte, wenn er die Kugel oder die Kerze bewegte.

    Ortmanns Tochter Barbara hatte auf einem Hocker in der Ecke gesessen und ihrem Vater bei der Arbeit zugesehen. Als Georg gehen wollte, sagte Ortmann zu ihr:

    »Barbara, du sitzt zu lange in der Werkstatt, du brauchst auch mal frische Luft. Vielleicht kannst du ein Stück mit Georg gehen.« Und zu Georg gewandt: »Auf die Dauer ist der Geruch hier Gift für einen. Aber meine Tochter geht nicht gern hinaus unter die Leute.« Und wieder zu Barbara: »Was ist, Georg will gehen!«

    Barbara stand gehorsam auf und folgte Georg nach draußen. Beide waren etwas verlegen. Georg fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Schließlich fragte er sie, warum ihr Vater der »Kattunschuster« genannt werde. Barbara sagte etwas, konnte dann aber nicht weitersprechen. Georg war ganz überrascht, als er sie mit den Tränen kämpfen sah. Noch bevor er reagieren konnte, hatte sie sich umgedreht und war ins Haus zurückgerannt. Georg grübelte darüber nach, was Barchen verletzt haben könnte, war sich aber keiner Schuld bewusst.


    8 Diminutivform von Barbara

    3 In der Saline (vor Ostern 1846)

    »Jörch, heee Jörch«, tönte es von der Straße. Der achtjährige Georg ordnete gerade den Inhalt einer kleinen Schachtel, in der er seine Schätze aufbewahrte: einige kleine Münzen, Muschelschalen und bunte Kiesel aus der Werra, glasierte Scherben, die er auf dem Schlenker⁹ an der Silge gefunden hatte, ein Stück von einem Hufeisen, ein toter Hirschkäfer, ein goldener Knopf, wohl von einer Uniform. Ob das Gold echt war? Die Soldaten, die er gesehen hatte, sahen nicht so aus, als ob sie sich goldene Knöpfe leisten konnten.

    Gold. Schon das Wort klang geheimnisvoll. Er hatte es oft gehört, wenn Erwachsene sich unterhielten. Sie sprachen es beinahe ehrfürchtig aus. Und dann fiel meist noch ein anderes Wort: Amerika. Er wusste natürlich, dass das ein Land war, weit weg. Im Westen, dort, wo die Sonne untergeht. Die Himmelsrichtungen kannte er nämlich. Die Großmutter hatte ihn ein Merksprüchlein gelehrt: »Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Tageslauf, im Westen will sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.« Er hatte dann wiederholt die Himmelsrichtungen bestimmt: Im Osten war der Frankenstein, im Süden die Schanze und dahinter der Pleß, im Westen die Kraynburg, im Norden der Mühlberg. Die Werra floss ebenfalls nach Westen. Wenn man ihr flussabwärts folgte, käme man an das Meer. Dort sei ein großer Hafen, von wo die Schiffe auf weite Fahrt gingen. In Amerika lebten die Indianer, ein wildes Volk in einem wilden Land. Aber es musste dort auch viele Deutsche geben, denn immer wieder hörte man davon sprechen, dass der eine oder andere Salzunger nach Amerika gegangen und reich geworden sei. Kein Wunder auch, wenn es dort Flüsse gab, in denen man zwischen Sand und Kieseln echtes Gold fand!

    Ein Klirren unterbrach seine Träumereien. Eine Handvoll Steinchen hatte das Fenster getroffen. Und dann hörte er auch die Stimmen: »Jörch, kumm ronner, Jörch!« Die Freunde waren gekommen, um ihn abzuholen. Eilig verstaute er seine Schätze hinterm Ofen und wollte zum Fenster laufen, als ihn eine grobe Hand am Kragen fasste. Es war der Stiefvater, Schmied Krah. Mit der einen Hand zog er ihn zum Fenster, mit der anderen riss er es auf: »Wert nur, glich kumm ich ronner un dån gitts den Bockel voll.« Von der Straße her hörte Georg Gelächter, einer rief: »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?« Und mehrere gaben die bekannte Antwort: »Niemand!« Wieder Lachen. Georg sah, wie die Jungen weiterzogen. Es waren Martin Ortmann, sein neuer Freund, und zwei, drei andere.

    Die Jungen hatten eine Art Bande gegründet und nannten sich die »Niederbornbande«, denn ihr bevorzugtes Quartier waren der Niederborn, der Kott und die Reste der Stadtmauer am Bürgerturm. Georg war stolz darauf, dass er als Mitglied aufgenommen worden war. Martin und seine Begleiter waren ein, zwei Jahre älter und hätten um diese Zeit eigentlich in der Schule sein müssen, aber heute, am Sonnabend, hatte der Lehrer wohl früher geschlossen oder die Jungen schwänzten mal wieder. Vermutlich wollte der Trupp zur Werra, auf die Mühleninsel, von deren flachem Kiesufer man gut ins Wasser konnte, ins »kall Båd¹⁰« oder »Zäbebåd«, wie die Salzunger sagten. Und dort konnte man Muscheln finden, Krebse oder kleine Fische fangen. Georg hatte den Kies schon oft nach Gold abgesucht und manches Mal gehofft, dass der goldgelbe Stein, den er gefunden hatte, nicht wieder gelblich verfärbter Flint war. Aber er hatte nie Glück, die Werra war einfach der falsche Fluss.

    Der Vater hatte inzwischen wütend das Fenster geschlossen und drehte sich um. Georg begriff, dass er nun das Donnerwetter abbekommen würde. Er versuchte noch sich loszureißen, aber da war kein Entkommen: »Hiergeblieben!« Und schon hatte Georg die erste Ohrfeige weg. »Dou bliest im Hus, mit dene wörd nött gegange.«

    Die Mutter war aus der Küche herbeigekommen. Immerhin veranlasste ihr Erscheinen den Vater dazu, von Georg abzulassen. »Dås is kai Omgang für den Jörch«, sprach er in Richtung seiner Frau. »Kattunschusters Märt¹¹!« Das war wohl als Erklärung oder Entschuldigung gemeint, aber die Mutter sagte nichts. Der Vater sah sie an, dann senkte er den Blick und verließ zögernd das Zimmer. Georg hörte ihn noch murren: »Ich bin Kurschmiedemeister und kein Flickschuster.« Dann schwere Schritte auf der Treppe, bald darauf Poltern in der Schmiede. Der Vater hatte wieder seine Arbeit aufgenommen.

    »Bremm¹², Modder, derf ich denn nött mit d’n Jonge spielen?«

    Die Mutter setzte zu einer Antwort an, schien sich aber dann zu bedenken und sprach schließlich ruhig:

    »Dein Vater hat es doch gesagt, das ist kein Umgang für unsereinen. Wir sind Innungsmeister und Pfänner und haben Gott sei Dank unser Auskommen. Du wirst einmal deinem Vater in der Schmiede nachfolgen und in die Pfännerschaft¹³ aufgenommen werden. Das heißt, du erhältst meine Anteile an der Saline und Anspruch auf die Interessen, so nennt man das. Damit ist gemeint, dass du jedes Jahr einen Anteil vom Gewinn aus der Saline ausgezahlt bekommst. Und vielleicht kommst du einmal in den Stadtrat wie dein Großvater, das ist ein angesehener Mann. Deine neuen Freunde sind Habenichtse und werden es immer bleiben. Außerdem sind es freche Jungen, aber wie man sagt: Wie der Herr, so ’s Gescherr. Der Flickschuster Ortmann wird es nie zu etwas bringen, und seine Frau hat ein loses Mundwerk.«

    »Martin hat aber gesagt, er wird nach Amerika rübermachen, da könne auch jemand reich werden, der vorher nichts hatte. Er sagt, dort gebe es Flüsse, in denen man aus dem Kies Gold waschen kann. Und wenn man Glück habe, könne man sogar richtige Goldklumpen finden.«

    »Ach, was da so alles erzählt wird. Ich habe noch nicht gehört, dass einer aus Salzungen dort Schätze gefunden hat. Und dann muss man erst einmal hinkommen, die Fahrt ist teuer, und in Amerika gibt es auch nichts umsonst. Aber selbst wenn einer wie Martin reich wird: He bliet Kattunschusters Märt! Such dir andere Kameraden!«

    »Und Ortmanns Barchen, kann ich mit der nicht spielen? Die ist doch nett.«

    Die Mutter seufzte hörbar.

    Salzbrunnen und Gradierhaus am Haad (1840)

    Bildquelle: Rach, Alfred: Geschichte der Salzunger Saline von ihren Anfängen bis 1934, 16 Tafeln, Bad Salzungen: Scheermessers Hofbuchhandlung 1935, Tafel S. 9.

    »Die Barr ist ein liebes Kind, aber sie gehört nun einmal nicht zu uns. Ich habe dir doch den Unterschied erklärt. Barbara ist arm wie eine Kirchenmaus und wird einmal als Magd arbeiten müssen. Von den Eltern kommt ja nichts, da findet sich auch kein Ehemann, jedenfalls keiner, der es ehrlich meint.« Und dabei sah sie Georg prüfend an. Georg verstand, dass das ein Thema war, das man besser nicht weiterverfolgte. Stattdessen fragte er, warum eine Kirchenmaus arm dran sei. Aber die Mutter war noch nicht fertig. »Lehrers Guste ist auch ein nettes Mädchen. Ich schicke dich nach dem Mittagessen zu Türks mit einem Topf Kompott, da kannst du mit ihr ein bisschen spielen. Aber vorher gehst du noch in der Saline vorbei und hängst ein Netz Kartoffeln in die Sole.«

    Wenn ich nach Amerika gehe und viel Geld verdiene, reicht das für Barchen und mich, dachte Georg. Wir könnten dann heiraten. Aber er hütete sich, seine Mutter von dieser Idee etwas hören zu lassen. Er nahm das Netz mit den Kartoffeln, das die Mutter aus der Küche gebracht hatte, und machte sich auf den kurzen Weg zur Saline. Er ging gern dorthin, da gab es immer etwas zu sehen.

    Zu Tante Türk ging er nicht gern. Sie war zwar die Schwester seiner Mutter, aber seit sie den Lehrer Türk geheiratet hatte, hielt sie sich für etwas Besseres und ließ das ihre Schwester spüren. Türk war ein gefürchteter Lehrer, und Georg machte sich Gedanken, wie es sein würde, wenn er zu ihm in die Schule müsste. Guste tat auch schon vornehm. Was würden das für Spiele sein? Jedenfalls nicht Verstecken, Räuber und Gendarm oder Schwarzer Mann. Während Georg die Michaelisstraße hinunter zur Saline ging, grübelte er, wie er um den Besuch herumkommen könnte. Ihm wollte nichts einfallen.

    In den Siedehäusern brannten helle Feuer unter den großen Solebehältern. Dicke Dampfschwaden stiegen auf. Georg spürte das Salz im Mund und in der Nase. Arbeiter waren damit beschäftigt, die Feuer zu unterhalten oder das Salz aus den Bottichen zu schaben. Georg versuchte, sich zu orientieren, als ein Arbeiter auf ihn zutrat.

    »Du bist doch Luthers Jörg, willst wohl die Kartoffeln da kochen?«

    Noch ehe Georg antworten konnte, hatte der Mann das Netz genommen und ging zu einem der Bottiche, wo er es in das brodelnde Wasser hielt und an einem Haken befestigte. Es war der Siedeknecht Jörg Eckardt, der gelegentlich bei der Mutter vorsprach, in »Pfännerangelegenheiten«, wie sie es nannte.

    »Sieh dich ruhig in der Saline um, aber komm den Bottichen nicht zu nahe.«

    Während sich Eckardt wieder seiner Arbeit widmete, wanderte Georg durch das Siedehaus und versuchte zu verstehen, was die Männer taten. Beinahe hätte er seine Kartoffeln vergessen, wenn Eckardt ihm nicht das Netz mit den gekochten Kartoffeln in die Hand gedrückt hätte. Ein Glück! Was hätte der Vater gesagt, wenn die Kartoffeln zu Mus gekocht worden wären? Erleichtert machte Georg sich auf den Heimweg.

    Als er zu Hause ankam, war der Tisch gedeckt und die Mutter rief zum Mittagessen. Jörg setzte sich auf seinen Platz und versuchte, sich in dem blankgeputzten Zinnteller zu spiegeln. Ein böser Blick des Vaters ließ ihn den Teller rasch absetzen. Zu den Salzkartoffeln gab es eingelegte Heringe und Sauerkraut. Der Vater erhielt zuerst seine Portion, zu den Kartoffeln einen ganzen Hering, ebenso der Schmiedegeselle, der neben dem Meister saß. Die Mutter teilte sich einen Hering mit dem Lehrling, die Kinder erhielten lediglich eine Kelle der Salzlake, in die die Heringe eingelegt worden waren. Heringe kosteten nicht viel, beim Kaufmann Lakum stand ein ganzes Fass davon. Lakum schöpfte die Fische heraus und hatte es nicht gern, wenn die Mutter noch einen Extralöffel von der Lake verlangte. »Armeleutessen«, knurrte er dann vor sich hin, wagte aber keinen Einwand. Mit dem Schmied Krah hatte man besser keinen Streit. Und ebenso wenig mit seiner Frau.

    Nach dem Essen machte sich Georg unsichtbar, um nicht zu Türks gehen zu müssen. In einem unbeobachteten Moment schlüpfte er zum Hinterausgang hinaus und eilte zur Werra. Wie er vermutet hatte, fand er seine Freunde auf der Mühleninsel. Ortmann klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Nach dem Auftritt des Vaters hatte man gar nicht mehr mit ihm gerechnet. Georg war glücklich über diese Anerkennung. Dafür war er sogar bereit, das Gewitter über sich ergehen zu lassen, das ihn bei seiner Rückkehr unweigerlich erwartete.


    9 Abfallgrube

    10 das kalte Bad (im Gegensatz zu dem warmen Solebad im Badehaus), Zehenbad (weil man im flachen Wasser vor einer Kiesbank waten kann, ohne viel mehr als die Zehen nass zu machen)

    11 Martin

    12 warum

    13 Pfänner sind Anteilseigner an der Salzunger Saline. Die Pfännerschaft bildete so etwas wie die städtische Elite. Sie bezeichneten sich gern als die »schönen Bürger«, ihre Kritiker nannten sie die »Mejs« (von mej = wir) wegen ihres selbstbewussten Auftretens.

    4 Glück und Unglück (Sommer bis Herbst 1846)

    Seit jenem Besuch bei Schuster Ortmann hatte Georg den Eindruck, dass Barchen ihm auswich. Inzwischen hatte er begriffen, was mit »Kattunschuster« gemeint war. Die Mutter hatte es ihm erklärt und Georg eine Ahnung davon vermittelt, wie viel schwerer es jemand hatte, dessen Familie überall auf Missachtung stieß. Ein Unfall führte im Sommer des Jahres 1846 schließlich dazu, dass die beiden sich wieder näher kamen.

    Georg war im Vorjahr eingeschult worden und besuchte jetzt die dritte Elementarklasse, Barchen war in der zweiten, also eine Klasse über ihm. An einem Sonntagnachmittag war Georg mit seinem Bruder Heinrich und dessen Freunden, Heinrich Krell, Nikolaus Schwerdt, Johannes Bing und noch ein paar anderen, zur Werra gezogen. Oberhalb der Haadbrücke hatten sie Schilfrohr geschnitten, dann Holunderzweige abgebrochen und sie in daumenlange Stücke zerteilt. Das Holundermark wurde auf einer Seite entfernt und die Stücke dann auf das Schilfrohr gesteckt. Auf der anderen Seite wurde das Schilfrohr kurz hinter einem Knoten abgeschnitten und an dieser Stelle eine Einkerbung für die feste Schnur gemacht, die als Bogensehne diente. Zusätzlich wurden an diesem Ende kleine Federn, dünne Holzscheibchen oder Pappestücke befestigt, wodurch – wie Heinrich erklärte – der Pfeil besser fliegen würde.

    Dann schossen die Jungen mit ihren Flitzebogen probehalber auf ein Ziel, legten die für gut befundenen Pfeile zur Seite und besserten die anderen aus, indem sie das Gewicht der Holunderspitze verringerten, die Elemente hinten anders steckten oder neue anbrachten. Georg konnte nur zusehen, denn anders als die Größeren besaß er kein Messer oder »Knief«, wie die Jungen dazu sagten. Heinrich hatte seins sogar selbst gemacht, hatte heimlich einen Eisenstab aus Vaters Werkstatt gekürzt und daraus die Klinge geschmiedet, als der Vater aus dem Haus war. Als Griff diente ein Stück Holz, das er zurechtgeschnitzt und gespalten hatte. Die Klinge war dann in den Spalt geschoben, das Ganze verleimt und mit Bindfaden zusätzlich umwickelt worden. Die Freunde bewunderten Heinrichs Messer, aber ihre Bitten, ihnen auch ein solches Prachtstück anzufertigen, hatte er stets abgelehnt. Vielleicht fürchtete er, dass dem Vater etwas zu Ohren kommen könnte. Jedenfalls hielt er das Messer immer gut versteckt und verriet nicht einmal Georg, wo sich das Versteck befand, versprach aber: »Wenn ich später etwas Geld zusammenhabe, kaufe ich mir einen richtigen Hirschfänger. Dann kannst du es haben.« Das hatte er seinem kleinen Bruder versprochen.

    Georg blieb mit den anderen noch an der Werra, als Heinrich ging. Die großen Jungen spielten jetzt Indianer und Soldaten. Sie gaben sich Indianernamen und schlichen durchs Ufergebüsch auf das Soldatenlager zu. Der Wachtposten – eine an einer Pappel aufgehängte Jacke – wurde ein Opfer der Pfeile. Georg durfte die Pfeile aufsammeln und die Indianer mit neuer »Munition« versorgen. Da aber kein Widerstand aus dem Soldatenlager kam, verlor das Spiel schnell seinen Reiz. Also ein neues Spiel: Zirkus! Zwischen zwei Bäumen wurde ein Seil gespannt, an das sich die Jungen nacheinander hängten, um dann irgendwelche Faxen machten. Dann hängte sich einer mit den Knien an das Seil und begann zu schaukeln, das brachte einen anderen auf eine Idee: Er griff Georg und hielt ihn hoch, der am Seil packte Georgs Füße und schwang ihn hin und her, wie er es wohl bei einer Trapeznummer gesehen hatte. Beim nächsten Schwung konnte er die Last schon nicht mehr halten und ließ los. Georg fiel mit dem Kopf voran aufs Gras. Schwankend, wie betrunken, stand er auf. Die Jungen fanden das komisch und lachten ihn aus. In seinem Kopf drehte sich alles, er wollte nur noch nach Hause, torkelte aber mehr, als dass er ging. Auf der Werrabrücke wurde ihm so schlecht, dass er anhalten und sich am Geländer festhalten musste.

    »Was ist mit dir?« Die Stimme drang durch das Dröhnen in seinem Kopf. Allmählich nahm er seine Umgebung wieder wahr. Barbara Ortmann machte ein besorgtes Gesicht. Er konnte nicht gleich antworten, es hatte ihm buchstäblich die Sprache verschlagen. Barbara half Georg auf die Beine, hakte sich bei ihm ein und führte ihn behutsam zur Stadt. Am Nappentor nahm sie nicht den Weg durch die Michaelisstraße, sondern ging links ab zu den Nappen¹⁴. Es war besser für die beiden, wenn sie nicht von jedermann gesehen wurden. Barchen führte Georg zu einem Stapel Brennholz, auf den sie sich beide setzten. Stockend berichtete er von seinem Unfall und Barchens Anteilnahme tat ihm gut. Er hatte es jetzt nicht mehr so eilig, nach Hause zu kommen. So blieben die beiden noch eine Weile sitzen und sprachen über Belanglosigkeiten.

    Seinen Eltern erzählte Georg nichts. Es würde nur Vorwürfe geben: Was hast du an der Werra zu suchen, wer hat dir erlaubt, mit den großen Jungen zu spielen? Die Kopfschmerzen waren nach einigen Tagen verschwunden.

    Ein beliebtes Spielgelände der Jungen waren neben Flößrasen und Haadwiese der flussabwärts gelegene Turnrasen und die Büchelswiese. Im Herbst 1846 ließen die Kinder dort wie in jedem Jahr ihre Drachen fliegen. Heinrich war geschickt im Drachenbauen. Die Materialien – Holz, Papier, Schnur, Nägel und Mehlkleister – waren nicht immer einfach zu bekommen. Aber Heinrichs Ruf als Drachenbauer brachte es mit sich, dass er den Kindern aus wohlhabenden Familien beim Drachenbau half, und dafür durfte er Materialreste mitnehmen.

    Georg sah dem Bruder gern zu, wenn er sorgfältig die Teile zusammenfügte. Der fertige Drachen bekam ein Gesicht und los ging’s, wenn Wetter und Wind es gestatteten. Manchmal durfte Georg Heinrichs Drachen halten, er hob ihn über den Kopf, wenn der Bruder die Schnur gespannt hatte, und sausend stieg der Drachen in die Höhe. Heinrich verstand es, ihn durch schnelle Bewegungen nach beiden Seiten tanzen oder rasch an Höhe gewinnen zu lassen. Manchmal gelang es ihm, wenn sich die Schnüre seines Drachen mit denen eines fremden Drachen kreuzten, durch rasches Steigenlassen die fremde Schnur zu durchschneiden. Zu diesem Zweck hatte er das letzte Stück seiner eigenen Schnur besonders präpariert. Solche Kunststückchen brachten ihm manchen Ärger ein, aber auch viel Bewunderung. Georg durfte jetzt auch öfter die Schnur übernehmen und war bald fast so geschickt wie der ältere Bruder.

    Georg Luther

    Bildquelle: Familienfoto

    Bei der nächsten Verabredung zum Drachensteigen tat Heinrich geheimnisvoll und ging mit seinen Freunden voraus – Georg solle in einer Viertelstunde nachkommen. Der platzte beinahe vor Neugier, ließ die Viertelstunde aber verstreichen, denn er wollte nichts falsch machen.

    Die Vorausgegangen waren schon eifrig dabei, ihre Drachen steigen zu lassen. Heinrich führte seinen Bruder hinter einen Busch, und da lag er: der schönste und größte Drachen, den Georg je gesehen hatte! Gelbes Papier, darauf ein schwarzer Drache, der rotes Feuer spie, der Schwanz aus goldenen und silbernen Papierschnipseln. Georg konnte das Wunderding gar nicht genug bestaunen!

    Auch die Freunde waren jetzt herangetreten, und Heinrich Krell sagte: »Jeder von uns hat Material gesammelt, und dein Bruder hat daraus diesen Drachen gebaut. Er soll unsere Entschuldigung sein, und wir finden es großartig, dass du keinem von dem Unfall erzählt hast. Der Drachen ist für dich!«

    Georg wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Gesicht zeigte nacheinander Verlegenheit, Stolz und Freude. Vorsichtig hob er das Meisterstück aus dem Gras. Heinrich hatte natürlich die Flugeigenschaften längst erprobt und versicherte, er habe noch nie einen Drachen besser fliegen sehen. Davon konnte sich Georg gleich überzeugen. Obwohl der Wind nur schwach wehte, gewann der Drachen schnell an Höhe. Von unten konnte man den schwarzen Körper des aufgeklebten Drachentiers gut erkennen. Wie musste das sein, hoch in der Luft zu schweben und von dort aus die Erde zu betrachten! Vermutlich sah von oben alles viel schöner aus.

    Ob es möglich wäre, einen so großen Drachen zu bauen, dass ein Mensch mit ihm fliegen konnte? Heinrich hielt das für denkbar. Und dann erzählte er dem fasziniert lauschenden Georg von dem berühmten Amerikaner Franklin, der mithilfe eines Drachens nachgewiesen hatte, dass Blitze etwas mit Elektrizität zu tun haben. So hatte er es jedenfalls in der Schule gehört. Da Georg mit dem Begriff Elektrizität nichts anzufangen wusste, suchte Heinrich nach einer Erklärung: »Du weißt doch, dass der Großvater manchmal zum Elektrisieren geht, weil das gut für die Gesundheit ist.« Einmal hatte Heinrich den Großvater begleiten dürfen. Ein Mann habe

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1