Teilwelten: Geschichten vom Werden
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Melchior Werdenberg gelingt es, in kurzen, knappen Skizzen die Seelenlagen eines Heranwachsenden zu beschreiben: Eingebunden in der ländlichen Lebenswelt und festgehalten durch soziale Zwänge werden für ihn Verlustschmerz und tröstende Lüge, Sehnsucht und Scham, Einbildung und Wirklichkeit, Führung und Missbrauch, Vertrauensverlust und Schuld zum ständigen Begleiter. Aus biographischen Halbwahrheiten lässt Werdenberg einen Zyklus von Bildern zur Sozialisation, von der Kindheit bis zur Adoleszenz, entstehen.
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Teilwelten - Melchior Werdenberg
DIE BERGFEE
Hoch über dem kleinen Dorf Matt, ein paar hundert Meter, auf ein paar Wiesen, die dieses Wort kaum verdienen, weil alles steil und stotzig ist, leben seit Generationen auf einem kleinen Hof, mehr Hütte als Haus, die Werdenbergs. Oreberg heißt ihr Hoschet, das keinen Flecken ebener Erde sein Eigen nennt. Wind und Wetter überfahren es, wie Gott will.
Im strengen Winter 1912, der Schnee im Tal liegt zwei Meter hoch und die Kinder auf dem Oreberg dürfen seit Wochen nicht mehr zur Schule gehen, erkrankt das Kleinste, das Miggeli. Das Fieber hat es gepackt, es wird geschüttelt, glüht vor Hitze und friert doch ganz fürchterlich. Nach drei Tagen hustet das Kleine Blut.
Der Vater bindet sich wortlos die Schneeschuhe um. Er wickelt das Miggeli, klein und leicht wie ein Laib Brot, in eine Wolldecke und setzt es in seinen Rucksack. Ein kurzer Blick zurück in die furchtsamen Kinderaugen der Geschwister, ein verhaltener Wink. Er macht sich auf den Weg. Der Rucksack verschwindet im Schneegestöber. Irgendwann hört er das Miggeli nicht mehr husten. Er stampft weiter, kommt immer wieder ins Rutschen, befreit sich aus den weißen Massen, die ihn zu erdrücken drohen. Kein Weg, nur eine Richtung ist vorgegeben. Nach Stunden im Tal angekommen, den gefrorenen Schweiß am Körper spürt er nicht, geht er am Doktorhaus vorbei zur Kirche.
Anderntags kehrt der Vater zurück zum Oreberg. Mutter und Kinder erwarten ihn hoffnungsfroh. »Ja, das Miggeli, dem geht es gut, die Bergfee hat es zu sich genommen«, berichtet er in kurzen Worten seinen Liebsten, die seine Tränen im schneenassen Gesicht nicht sehen sollen.
DAS EISWÜRFELSCHNITZEN
Damals, als es noch wirkliche Winter gab, mit Schnee und Eis, sorgte im Kleintal, dieser schattenlosen Zahnlücke zuhinterst in der Glarner Bergwelt, alljährlich ein Spiel für Unterhaltung. Es war mehr als nur ein Spiel, es war ein Wettbewerb, mit dem Unmöglichen zum Ziel. Am Samstagabend versammelten sich die Kinder auf dem Dorfplatz, unweit der Kirche, die zweimal im Jahr durch das Martinsloch, eine hausgroße Öffnung im Berg, beschienen wird. Wer den Mut hatte, sich am Spiel zu beteiligen, der erschien mit einem kleinen Rüstmesser aus Mutters Küche. Die älteren Schüler brachten große Eisbrocken, die sie aus der winters trägen, halb zugefrorenen Sernf herausgebrochen hatten. Die Brocken wurden verteilt, und es galt, daraus einen Würfel zu schnitzen. Wem dies gelang, dem stand die noch viel schwerere Aufgabe bevor, die sechs Seiten mit je einer anderen Augenzahl zu versehen.
Die Erinnerung an den Abend, als es Geisser Adams Jüngstem gelungen war, auf der letzten noch zu bearbeitenden Seite nach dem fünften Auge auch noch das sechste auszustechen, ist unter den Beteiligten wohl erhalten. Und wer damals nicht dabei war, dem wurde es so oft erzählt, dass es ihm vorkommen musste, als sei auch er dabei gewesen. Der Sepp hielt seinen Eiswürfel nach vollendeter Tat in den Händen, hoch über dem Kopf, und drehte sich triumphierend im Kreise. Wie strahlte er, es war, als schiene die Sonne gerade durchs Loch auf sein Haupt.
Da tritt ein kleines hutzeliges Männchen, niemand hat es beachtet, niemand weiß, woher es kommt, aus dem Kreis der Schaulustigen hervor.
»Adams Sohn«, schreit es mit krächzender Stimme, »du freust dich über nichts. Du hast ja nur Eis, nur gefrorenes Wasser in den Händen, gleich wird dein Erfolg zerrinnen. Hör auf mich, versuche dein Glück, für jedes geworfene Auge hast du einen Wunsch frei.«
Sepp ist gefangen von den Worten des Unbekannten. Hat er nichts, oder kann er sich zumindest einen, vielleicht aber auch sechs Wünsche erfüllen? Er wirft den Eiswürfel auf den Boden, wo er in viele Stücke zerspringt. Ein Aufschrei geht durch die Menge, aber da ist das Männchen schon verschwunden und wird nie mehr gesehen.
Auch Geisser Adams Jüngster verlässt am anderen Tag das kleine Bergtal und kehrt nie wieder zurück.
DIE BRÜCKE
Vom Vorderdorf zum Hinterdorf führen zwei Wege. Einer zieht sich, etwas erhöht, an den Häusern entlang, der andere, unten in der Talsohle, folgt dem Lauf der Sernf. Und vom Vorderdorf aus gesehen gibt es bis zur Mitte, wo man sich für oben oder unten entscheiden muss, noch einen dritten Weg.
Dieses mittlere Weglein beschritt ich oft, wenn ich, getrieben von der Langeweile, vom Vorderdorf zum Hinterdorf wechselte. Weit weg von zu Hause, abgeschoben, weil noch nicht schulpflichtig, waren die beiden Großmütter in den auseinanderliegenden Dorfteilen meine Pole, je nach Dauer von Plus auf Minus wechselnd und umgekehrt.
Als ich, unangemeldet wie immer, eines Nachmittags im Hinterdorf ankam, schien die Großmutter über mein Kommen weniger erfreut als sonst.
»Welchen Weg hast du genommen?«, wollte sie ungewohnt direkt von mir wissen.
Ich verstand die Frage nicht, aber ich fürchtete, obgleich wissend, dass ich nichts angestellt hatte, jetzt gleich von ihr, von der ich noch nie in meinem Leben ein einziges böses Wort gehört hatte, verdächtigt zu werden, Äpfel von den Bäumen gestohlen zu haben oder dergleichen.
»Den Weg in der Mitte«, antwortete ich, halb bei der Wahrheit und doch nicht daneben.
»Bist du über die Rus gekommen?«
»Gewiss«,