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Von den Maden zum Mörder: Die vielfältigen Ermittlungsmethoden der Rechtsmedizin
Von den Maden zum Mörder: Die vielfältigen Ermittlungsmethoden der Rechtsmedizin
Von den Maden zum Mörder: Die vielfältigen Ermittlungsmethoden der Rechtsmedizin
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Von den Maden zum Mörder: Die vielfältigen Ermittlungsmethoden der Rechtsmedizin

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Die wahren Ermittlungsmethoden der Rechtsmediziner
Selbstmord oder Mord? Was können Insekten über Tote verraten? Gibt es das perfekte Verbrechen?
Der renommierte Rechtsmediziner und Chef des Institutes der Universität Bonn Burkhard Madea hat seine Kollegen in ganz Deutschland gebeten jeweils für ihr Fachgebiet spannende Begebenheiten auszuwählen. Auch er selbst erinnert sich - immer unter der Maßgabe: Wann haben forensische Methoden zur wirklichen Aufklärung eines Verbrechens beigetragen?
Anhand authentischer Fälle gehen die Autoren spannenden Fragen nach und erläutern am Beispiel ihre vielfältigen Ermittlungsmethoden. Dabei geht es keinesfalls nur um den Umgang mit Toten, die Forensiker nehmen sich auch lebender geschädigter Personen an. In den vorliegenden Geschichten erlauben sie dem Leser einen wirklichen Einblick in ihre tägliche Arbeit, jenseits einschlägiger True-Crime-Fernsehserien.
Alle Geschichten leben einerseits von einem professionellem Blick auf das Fach und seine Methoden, andererseits aber auch von der menschlichen Sicht auf jedes Schicksal, hin und wieder mit einem Augenzwinkern erzählt. Als Anwälte der Lebenden und der Toten machen sich die Autoren auch zu Sprechern für die Rechtsmedizin und fokussieren die Missstände - bleiben doch jährlich schätzungsweise 1500 Tötungsdelikte in Deutschland unaufgeklärt!
LanguageDeutsch
Release dateJul 19, 2011
ISBN9783861897934
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    Book preview

    Von den Maden zum Mörder - Militzke Verlag

    Selbstmord oder Mord?

    Was können Insekten über Tote verraten?

    Gibt es das perfekte Verbrechen?

    Diesen und ähnlichen Fragen gehen renommierte Rechtsmediziner aus ganz Deutschland unter der Federführung Prof. Burkhard Madeas, Chef des Bonner Institutes für Rechtsmedizin, nach. Anhand von authentischen Fällen aus der beruflichen Praxis wird gezeigt, wie die vielfältigen forensischen Methoden zur wirklichen Aufklärung eines Verbrechens beitragen können.

    Ohne das menschliche Schicksal zu vernachlässigen, geben die Autoren einen spannenden Einblick und erzählen keinesfalls nur von dem Umgang mit Toten – die Forensiker nehmen sich auch lebender geschädigter Personen an.

    Als Anwälte der Lebenden und der Toten machen sich Madea und Kollegen auch zu Sprechern für das Fach Rechtsmedizin und fokussieren die Missstände – bleiben doch jährlich schätzungsweise 1500 Tötungsdelikte in Deutschland unaufgeklärt!

    Prof. Dr. med. Burkhard Madea (Hg.)

    Nach dem Studium der Medizin in Bochum und Aachen und der Weiterbildung zum Arzt für Rechtsmedizin erfolgte 1989 die Habilitation für das Fach Rechtsmedizin und 1991 die Ernennung zum Universitätsprofessor für Rechts medizin.

    Seit 1996 ist er außerdem Direktor des Institutes für Rechtsmedizin der Universität Bonn. Er ist Autor und Herausgeberzahl reicher Monographien und Verfasser von mehr als 400 wissenschaftlichen Beiträgen.

    Burkhard Madea (Hg.)

    Von den Maden zum Mörder

    Die vielfältigen

    Ermittlungsmethoden

    der Rechtsmedizin

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    © Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2010

    Lektorat: Jenny Retke, Franziska Jacob, Julia Lössl

    Umschlaggestaltung: Ralf Thielicke

    Umschlagfoto: © panthermedia.net/Phil Morley

    Layout und Satz: Thomas Butsch

    eBook Datenkonvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN 978-3-86189-793-4

    Vorwort

    Rechtsmedizin ist derzeit populär: Darstellungen von und über Rechtsmediziner finden sich in allen Medien. Die Fernsehprogramme kommen nahezu keinen Abend ohne Leiche und den zugehörigen Rechtsmediziner aus, der den »Fall« löst. Mit der täglichen Arbeit eines Rechtsmediziners hat dies allerdings nur wenig zu tun.

    Rechtsmedizinische Routinetätigkeit erschöpft sich gerade nicht in der praktischen Bearbeitung von Fällen, sondern als universitäres Fach stehen Aufgaben in Lehre und Forschung im Vordergrund. Systematische wissenschaftliche Vorarbeiten – ausgelöst durch praktische Begutachtungsprobleme – erlauben oft erst die erfolgreiche Bearbeitung und Lösung künftiger Fälle. Im Folgenden sollen daher – unter anderem – aus der eigenen wissenschaftlichen Vorarbeit und praktischen Routine Sachverhalte dargestellt werden, in denen die rechtsmedizinische Expertise und Begutachtung überhaupt erst zur Lösung des Falles beigetragen und neueste wissenschaftliche Entwicklungen die Klärung eines Falles ermöglicht haben. Dies ist eines unserer Anliegen.

    In der Rechtsmedizin, die sich ja mit vielen Schattenseiten des menschlichen Lebens zu befassen hat, spiegelt sich der gesellschaftliche Panoramawandel häufig früher und deutlicher wieder, als allgemein in der Gesellschaft wahrgenommen.

    Die Medizinhistorikerin Fischer-Homberger hat die Gerichtsmedizin schon vor Jahren folgendermaßen charakterisiert: »Mit dieser Situation des gerichtlichen Mediziners als Teil eines größeren Ganzen hängt es auch zusammen, dass sich in der gerichtlichen Medizin in der frühen Neuzeit manches früher zeigt, als in der übrigen Medizin. Denn der gerichtliche Mediziner steht mit seinen Aussagen unter Druck: Er muss in der Diskussion und vollends im kontroversen Rechtsverfahren ständig mit Widerspruch, auch aus eigenen Reihen, rechnen und solchen zu parieren bereit sein.«

    Während noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Neugeborenenobduktionen – etwa bei Verdacht auf Kindstötung – circa 20 Prozent des Obduktionsaufkommens eines rechtsmedizinischen Institutes ausmachten, sind Fälle von Kindstötung heute zwar eine Rarität, kommen aber mit erschütternden Fallbeispielen leider immer wieder vor. Demgegenüber kommt Todesfällen durch Sucht und Abhängigkeit in einer auf Spaß und Freizeit getrimmten Wohlstandsgesellschaft immer mehr Bedeutung zu, aber auch aus der Überalterung der Bevölkerung mit zunehmender Pflegebedürftigkeit resultierende Fälle massiver Pflegeschäden oder gar Patiententötungen in der ambulanten und stationären Altenpflege begegnen uns.

    Ein weiterer Panoramawandel rechtsmedizinischer Tätigkeit als Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen zeigt sich darin, dass sich sowohl die praktische als auch die wissenschaftliche Arbeit immer mehr aus dem Sektionssaal in das Labor sowie vom Verstorbenen zum Lebenden verlagert hat. So etwa die Zuordnung einer biologischen Spur (Blut, Sperma, Haare etc.) zu einem Tatverdächtigen, die Untersuchung einer Blutprobe auf Drogen und Medikamente zur Beurteilung der Fahrsicherheit und Schuldfähigkeit, die Untersuchung von Haarproben auf Drogenkonsum beziehungsweise Konsumfreiheit, die Begutachtung von Nachtrunkbehauptungen et cetera.

    Aber auch die Lehren, die wir aus der Analyse von Obduktionsfällen ziehen können, kommen unmittelbar den Lebenden zugute, so z. B. bei Behandlungsfehlern.

    Auch dieser Panoramawandel rechtsmedizinischer Sachverständigentätigkeit mit heute in Forschung und Routine vorherrschenden Fragestellungen soll im Folgenden dargestellt werden. Gerade das Engagement – einiger – rechtsmedizinischer Institute in der Forschung sichert die Qualität der Dienstleistungen und trägt damit zur Erhöhung der Rechtssicherheit bei. Verbesserte medizinisch-naturwissenschaftliche Aussagemöglichkeiten bedingen andererseits immer neue Anfragen und Anforderungen aus verschiedenen Rechtsgebieten an die Rechtsmedizin, die sich längst von einer „Hilfswissenschaft" der Ermittlungsbehörden und Justiz zu einem eigenständigen Forschungsgebiet gewandelt hat, das ansonsten in der Medizin kaum beachtete Fragestellungen systematisch bearbeitet.

    Die Rechtsmedizin ist derzeit allerdings nur in den Medien populär, an ihrer Heimstätte – den Universitäten – weitaus weniger. Teilweise ist eine gezielte und gesteuerte Verdrängung der Rechtsmedizin von den Universitäten zu beobachten, auf Kosten des Steuerzahlers, da auf aktuellem Forschungsniveau basierende rechtsmedizinische Dienstleistungen für das effiziente Funktionieren eines Rechtsstaates unverzichtbar sind und entweder Parallelstrukturen aufgebaut oder Versorgungsleistungen an andere Standorte mit höheren Kosten verlagert werden müssen.

    Auch dieser Aspekt, auf den vor vielen Jahren bereits die Journalistin Sabine Rückert mit ihrem Buch »Tote haben keine Lobby« hingewiesen hat, soll in diesem Buch angesprochen werden.

    Manche der in diesem Buch geschilderten Fälle konnten sich so nur vor dem Hintergrund des Leichenschau- und Todesursachenermittlungssystems in der Bundesrepublik Deutschland ereignen, das im Vergleich zu einigen Nachbarstaaten zahlreiche Schwachstellen aufweist. So lange die Defizite dieses Todesursachenermittlungssystems nicht beseitigt werden, werden sich derartige Fälle immer wieder ereignen. Leider erweist sich auch hier die Politik oft als beratungsresistent. Die in diesem Buch dargestellten Fälle entstammen überwiegend der eigenen praktischen und wissenschaftlichen Arbeit des letzten Vierteljahrhunderts. Herr Erpenbach steuerte einen Beitrag zur operativen Fallanalyse bei, Professor Lignitz Erfahrungen aus seiner rechtsmedizinischen Tätigkeit in Deutschland Ost und West.

    Allen jetzigen und früheren Mitarbeitern des Bonner Institutes für Rechtsmedizin bin ich für ihre Kooperation sehr dankbar.

    Bonn, im Frühjahr 2010

    Burkhard Madea

    Die lebende Tote und

    andere Fehlleistungen bei

    der ärztlichen Leichenschau

    Prof. Dr. med. Burkhard Madea, Prof. Dr. med. Eberhard Lignitz

    Jährlich sterben in Deutschland circa 820.000 Menschen. Bei jedem Verstorbenen muss zunächst durch einen Arzt der Tod festgestellt werden. Aber mit der Leichenschau sind noch andere Aufgaben verbunden, nämlich die Feststellung der Todesursache und Todeszeit, die Qualifikation der Todesart sowie die Angabe, ob übertragbare Erkrankungen gemäß Infektionsschutzgesetz vorliegen. Die Aufgabenkomplexe bei der Ärztlichen Leichenschau gehen dabei auf Gesetze aus dem 19. Jahrhundert zurück. So heißt es z. B. in der Königlich-Bayrischen Instruktion für die Leichenbeschauer vom 6. August 1839 prägnant:

    »Zweck der Leichenschau ist, die Beerdigung Scheintoter, dann die Verheimlichung gewaltsamer Todesarten und medizinischer Pfuschereien zu hindern, sowie zur Ausmittlung kontagiöser [ansteckender] und epidemischer [seuchenartiger] Krankheiten, dann zur Herstellung genauer Sterbelisten geeignet mitzuwirken.« In Preußen wurden sogar an die Ärzteschaft delegierte Aufgaben nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten den Pfarrern übertragen. So heißt es dort etwa:

    »§ 474 Der Pfarrer muss sich nach der Todesart erkundigen und dem Totengräber aufgeben, bei der Einlegung der Leiche in den Sarg und bei dessen Zuschlagung gegenwärtig zu sein. […]

    § 475 Solange es noch im Geringsten zweifelhaft ist, ob die angebliche Leiche wirklich todt sei, muss das Zuschlagen des Sarges nicht gestattet werden. […]

    § 477 Alle gewaltsamen Todesarten sowie die aus Besichtigung der Leiche sich ergebenden Vermuthungen muss der Pfarrer der Ordentlichen Obrigkeit schleunigst anzeigen und vor erfolgter Untersuchung weder das Begräbnis noch die Abfuhr gestatten. […]

    § 492 Bei Todesfällen muss der Name, der Stand und das Alter des Verstorbenen, der Tag des Todes, Krankheit oder sonstige Todesart nach der dem Pfarrer geschehenen Anzeige eingeschrieben werden.

    § 493 Hat der Pfarrer den Verstorbenen nicht persönlich gekannt, so muss er sich die Aussagen glaubwürdiger Personen so viel als möglich versichern, dass derselbe wirklich derjenige gewesen sei, für den er ihm angegeben worden.

    § 494 Wie er zu dieser Versicherung gelangt sei, muss in dem Kirchenbuche mit angegeben werden.«

    Daran hat sich auch heute nicht viel geändert und im Wesentlichen sind diese Aufgaben immer noch die gleichen wie vor beinahe 200 Jahren. Und auch damals wie heute ist die Leichen schau selbst nicht bundeseinheitlich, sondern landesgesetzlich geregelt. Das bedeutet, dass alle 16 Bundesländer eigene Leichenschaugesetze und –verordnungen haben. In Deutschland können demnach 16 unterschiedliche Leichenschauscheine ausgestellt werden. Alle Bundesländer arbeiten jedoch mit demselben unscharfen Begriff »Leichenschau«, der vielfach dazu verführt, nur zu »schauen« statt zu untersuchen. Im eigentlichen Sinne ist die Leichenschau natürlich eine genaue Untersuchung des Leichnams, die letzte ärztliche Untersuchung überhaupt, die ohne Auskleiden, Umwenden und Betasten des leblosen Körpers, Bewegen der Gliedmaßen, Öffnen der Augenlider und Einsicht in die Körperöffnungen nicht auskommt. Natürlich könnte man die Leichenschau auch bundeseinheitlich regeln, aber die Bundesländer werden kaum auf ihre diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz verzichten. Dabei gibt es durchaus gravierende Abweichungen in den Bestattungsgesetzen der jeweiligen Bundesländer, so etwa zum Begriff der Leiche, zum Zeitpunkt der Leichenschau, zum Sorgfaltsmaßstab und zu Ordnungswidrigkeiten bei unsorgfältiger Vornahme der Leichenschau. In Bremen können z. B. bei unsachgerechter Ausführung einer Leichenschau Bußgelder von bis zu 25.000 Euro verhängt werden (was allerdings noch nie vorgekommen sei).

    Die Ablösung der landesgesetzlich geregelten Leichenschau durch eine einheitliche Bundesgesetzgebung wäre ein Fortschritt und wegen der Vereinfachung bürokratischer Vorgänge (z. B. einheitliches Totenscheinformular) noch dazu ökonomisch. Doch diese Sache wird nicht nachhaltig verfolgt. Man nimmt es hin, dass die Öffentlichkeit immer wieder durch unsorgfältige Leichenschauen mit »Todesfeststellung« bei noch Lebenden bzw. Bescheinigung eines natürlichen Todes bei Tötungsdelikten alarmiert wird.

    Ein großes Journal titelte vor einigen Jahren: »Durch ärztliche Schlamperei bei der Leichenschau bleiben die meisten Tötungsdelikte unentdeckt«.

    Es ist allgemein bekannt, dass es eine Dunkelziffer von durch Leichenschau nicht erkannten Tötungsdelikten gibt. Schätzungen gehen davon aus, dass circa 1.200 bis 2.000 Tötungsdelikte pro Jahr in Deutschland bei der Leichenschau nicht erkannt werden. Damit würden mehr Tötungsdelikte nicht erkannt, als polizeilich bekannt werden. Vor diesem Hintergrund ist auch der Satz einer meiner Vorgänger auf dem Bonner Lehrstuhl für Rechtsmedizin, Victor Müller-Hess, zu sehen: »Wenn auf jedem Grab eines Ermordeten eine Kerze brennen würde, wären unsere Friedhöfe Lichtermeere.«

    Die irrtümliche Feststellung des Todes noch lebender Menschen ist kein schauderhaftes Kuriosum vergangener Zeiten, auch heute kommt dies leider immer noch vor, wobei allen Statistiken zufolge Frauen häufiger betroffen zu sein scheinen als Männer. Ein Paradebeispiel für eine fälschliche Toterklärung einer Lebenden ist der bereits 1919 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift publizierte Fall der Krankenschwester Minna Braun aus Berlin. Auf die Darstellung dieses »Todesfalles« verzichtet für gewöhnlich keine rechtsmedizinische Vorlesung, die die Leichenschau und Todesfeststellung zum Gegenstand hat. Auch heute folgen praktisch sämtliche Fälle falscher Todesfeststellungen bei noch Lebenden dem gleichen Muster. Entsprechende Fallberichte stammen überwiegend aus Süddeutschland.

    Minna Braun, eine 23-jährige Krankenpflegerin, erwarb am 27. Oktober in einer Apotheke Morphium und Veronal, begab sich bei nasskalter Witterung in den Grunewald und nahm mit der Absicht, Selbstmord zu begehen, beide Medikamente ein. Am 28. Oktober wird Minna Braun mit »geringen Lebenszeichen« aufgefunden, stirbt scheinbar auf dem Transport ins Krankenhaus und wird in eine Leichenhalle gebracht, wo der Gemeindephysikus Starre, Leichenblässe, völlige Reflexlosigkeit, Fehlen des Pulses, der Atmung und der Herztöne feststellte. Aufgeträufelter Siegellack ergab keine Hautreaktion.

    Hier ergibt sich die erste Frage: Wer hat auf dem Transport – doch wohl Richtung Krankenhaus – auf »gestorben« entschieden und die Kursänderung Richtung Friedhof veranlasst? Offenbar kein Arzt, denn der Gemeindephysikus wird erst in der Leichenhalle herbeigerufen. Dieser stellt außer »unsicheren Todeszeichen« eine »negativ ausgefallene Lebensprobe« (Siegellackprobe) fest.

    Derartige Lebensproben sind z. B. das Halten eines Spiegels oder einer Flaumfeder vor die Atemöffnungen Mund und Nase zur Prüfung der Atmung (Bewegung der Flaumfeder, Beschlagen des Spiegels). Die Siegellackprobe prüft, ob es bei thermischer Schädigung der Haut (Verbrennung) zu einer reaktiven Hyperämie (Hautrötung oder Blasenbildung) kommt. Sind allerdings nur noch die lebenswichtigen Organe durchblutet (durch eine sogenannte Zentralisation des Kreislaufes), kann die Siegellackprobe natürlich auch zu Lebzeiten negativ ausfallen. Invasive – also gewebeverletzende – Lebensproben sind z. B. eine Arteriotomie (Hautschnitt mit Durchtrennung von Gefäßen) zur Prüfung, ob noch Zirkulation vorliegt.

    Neben negativ ausgefallenen Lebensproben will der Gemeindephysikus im vorliegenden Fall auch Starre festgestellt haben, die im Mittel erst drei bis vier Stunden nach dem Tod auftritt. Zu diesem Zeitpunkt, das heißt wenn Totenstarre bereits vorhanden ist, hätten mit Sicherheit als weitere frühe Leichenerscheinungen Totenflecke vorgelegen, die bereits wesentlich früher, nämlich 20 bis 30 Minuten post mortem auftreten. Über Totenflecke wird jedoch nichts gesagt. Der Gemeindephysikus stellt aber nicht nur den Tod fest, sondern auch die Todesursache, »wahrscheinlich an Morphiumvergiftung«. Aufgrund welcher Befunde er zu dieser Todesursache kommt, bleibt völlig unklar. Bei der akuten Opiatvergiftung kommt es zur typischen klinischen Trias von Koma (tiefe Bewusstlosigkeit), Atemdepression und Miosis (stecknadelkopfgroße Pupillen). Solange die Pupillen eng sind, ist der Mensch noch nicht verstorben. Erst nach Eintritt einer zerebralen Hypoxie (Sauerstoffmangel des Gehirns) aufgrund der Atemdepression und des sich ausbildenden Lungenödems (Ansammlung von Wasser in der Lunge) kommt es zu einer Pupillenerweiterung. Lägen nun infolge eines Sauerstoffmangels Schädigungen im Gehirn vor, so würde der Arzt auch weite Pupillen vorfinden, kann dann jedoch aufgrund der Befunde keine Morphiumvergiftung mehr diagnostizieren.

    Minna Braun wird dennoch eingesargt, 14 Stunden später stellt ein Kriminalbeamter bei der Identifizierung des Leichnams nach Öffnung des Sarges fest, dass die Verstorbene bläulich gefärbte Wangen aufweist, ferner nimmt er leichte Kehlkopfbewegungen wahr. Der erneut hinzugezogene Gemeindephysikus stellt wiederum ein Fehlen der Atmung und des Pulses fest, hört jedoch einige dumpfe Herztöne. Minna Braun wird ins Krankenhaus eingewiesen. Im Krankenhaus ist die Patientin leichenblass, starr, bewusstlos, völlig reaktionslos, hat enge Pupillen, Atmung und Puls fehlen völlig. Im Verlauf der Behandlung lässt die Steifigkeit der Glieder und des Nackens nach. Minna Braun verlässt das Krankenhaus schließlich »geheilt«.

    Im Fall von Minna Braun lagen zwei typische Ursachen für einen Scheintod bzw. eine tiefe Bewusstlosigkeit vor: eine Vergiftung mit zentralwirksamen Medikamenten (Morphium und Veronal) mit Atemdepression und eine vitale allgemeine Unterkühlung. Bei der Starre handelte es sich um eine typische Kältestarre, ihre Abgrenzung gegenüber der Totenstarre wäre eindeutig möglich gewesen, hätte der Arzt sein Augenmerk auch den fehlenden Totenflecken zugewandt.

    Die Kombination von Medikamentenvergiftung mit allgemeiner Unterkühlung ist die häufigste Ursache für eine Vita minima und Vita reducta (tiefe Bewusstlosigkeit mit nicht wahrnehmbaren Lebensäußerungen).

    Leider kommen auch heute derartige Fälle vereinzelt vor, wobei eindeutig und klar zu sagen ist, dass die fälschliche Todesfeststellung bei einem Lebenden immer eine ärztliche Fehlleistung ist, die bei sorgfältiger Untersuchung vermeidbar wäre. Auch bei Minna Braun hatte der Arzt nur »unsichere« Zeichen des Todes geprüft, nicht die sicheren. So gilt bei Verdacht auf Vergiftung mit zentral wirksamen Medikamenten in Kombination mit Unterkühlung bei der Feststellung des Todes seit langem als Lehrsatz, dass auf das Vorliegen sicherer Todeszeichen (Totenstarre, Totenflecke) zu achten ist, oder eine Todesfeststellung erst in der Klinik unter Zuhilfenahme apparativer Zusatzuntersuchungen erfolgen darf. Als notfallmedizinischer Grundsatz wurde formuliert: »No one is dead until he is warm and dead«.

    Vor einigen Jahren hatten wir den Fall einer 63 Jahre alten Frau zu bearbeiten, die am Rheinufer leblos aufgefunden wurde. Der sofort alarmierte Notarzt ging nach vermeintlicher Feststellung von Totenstarre aufgrund der Auffindesituation von einem nicht natürlichen Tod aus. Deswegen sah er von einer weiteren Entkleidung des »Leichnams« ab, da die Leichenschauverordnungen bei Hinweisen auf einen nicht natürlichen Tod vorsehen, die Leichenschau abzubrechen und die Polizei zu verständigen, um keine Spuren zu verwischen. Dies kann allerdings erst nach sicherer Feststellung des Todes gelten und hierzu hat der Arzt alle Maßnahmen am »Leichnam« durchzuführen, die einer sicheren Todesfeststellung dienen. Da bei Unterkühlung eine Totenstarre diagnostisch immer gegen Kältestarre abzugrenzen ist, muss auch bei Anhaltspunkten für einen nicht natürlichen Tod zumindest eine Teilentkleidung des Körpers erfolgen. Nur so können die Totenflecke dokumentiert werden. Bei einer Totenstarre liegen immer auch Totenflecke vor, bei der Kältestarre fehlen sie naturgemäß, da der Betroffene noch nicht verstorben ist. Im Fall der 63 Jahre alten Frau bemerkte man bei der kriminalpolizeilichen »Leichenschau« schließlich doch Lebenszeichen, es trat jedoch, ohne dass die Betroffene zu Bewusstsein gekommen war, noch am gleichen Abend der Tod ein. Letztendliche Todesursache war – wie im Fall Minna Braun – eine Vergiftung mit verschiedenen Psychopharmaka in Kombination mit Unterkühlung. In derartigen Fällen fälschlicher Todesfeststellung bei noch Lebenden leitet die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung gegen die entsprechenden Ärzte ein.

    Vor wenigen Jahrzehnten war es in (Ost-)Berlin üblich, dass Opfer tödlicher Straßenverkehrsunfälle von einer Fahrbereitschaft des Institutes für Gerichtliche Medizin übernommen wurden, natürlich erst nachdem der Todeseintritt ärztlich festgestellt und durch Ausfüllung eines Totenscheins auch urkundlich verbrieft war. So sollte die »Leiche« einer bei einem Verkehrsunfall schwer verletzten Frau übernommen werden. Als die Sektionsgehilfen eintrafen, der Arzt hatte die Szene schon wieder verlassen, stellten diese noch eine bestehende Atmung fest. Daraufhin wurde die Patientin in einem Krankenwagen in eine Unfallklinik gebracht, wo sie erst nach einigen Tagen tatsächlich an den Unfallfolgen verstarb. Der Arzt wurde immerhin disziplinarisch belangt und entlassen – allerdings später in einem anderen Krankenhaus als Oberarzt wieder eingestellt. Er hatte die Leiche, statt sie zu untersuchen, tatsächlich nur »angeschaut« und konnte demzufolge auch keine sicheren Todeszeichen feststellen. Die Feststellung des Todes war ein Analogieschluss aus dem Verletzungsbild, aber kein Ergebnis einer Untersuchung, somit lag ein Verstoß gegen die Leichenschauverordnung vor. Auf eine Leichenuntersuchung kann man nur verzichten, wenn auf den ersten Blick ein Verletzungsbild vorliegt, das mit einem Überleben nicht zu vereinbaren ist, beispielsweise die Abtrennung des Kopfes vom Rumpf.

    Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gravierend ist natürlich auch die Fehleinschätzung oder sogenannte »Fehlqualifikation« der Todesart, insbesondere wenn bei Hinweisen für einen gewaltsamen Tod ein natürlicher Tod bescheinigt wird. Die Begriffe Todesursache und Todesart müssen streng differenziert werden. Die Feststellung der Todesursache ist eine medizinischen Zwecken (Mortalitätsstatistik) dienende Aufgabe. Im Leichenschauschein sollen das zum Tode führende Grundleiden und die letztendliche Todesursache angegeben werden. Die Qualifikation der Todesart dient rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Bei nicht natürlichem Tod, insbesondere bei Hinweisen auf Fremdverschulden, müssen zeitnah zum Todeseintritt die Ermittlungsbehörden eingeschaltet werden, um den Todesfall weiter aufzuklären. Natürlich ist ein Tod aus innerer krankhafter Ursache, an einer bestimmt zu bezeichnenden Erkrankung, deretwegen der Verstorbene in ärztlicher Behandlung war und der völlig unabhängig von äußeren, rechtlich bedeutsamen Einflüssen eingetreten ist.

    Nicht natürlich ist demgegenüber ein Todesfall, der auf ein von außen verursachtes, ausgelöstes oder beeinflusstes Geschehen zurückzuführen ist. Nicht natürlich sind demnach Unglücksfälle, unabhängig davon, ob sie selbst- oder fremdverschuldet sind, Suizide, Tötungsdelikte sowie Todesfälle im Zusammenhang mit Behandlungsfehlern.

    Offenbar sind diese Unterschiede selbst den Medizinstudenten schwer zu vermitteln, viele scheinen sich der Tragweite einer Fehlentscheidung nicht bewusst zu sein. Selbst die plakative Formulierung: »Wenn 80 Achsen eines Güterzuges über eine Person fahren und sie durchtrennen, ist die Person natürlich tot, aber es ist kein natürlicher Tod.«, bleibt nicht immer im Gedächtnis.

    Mit der Qualifikation der Todesart als natürlich oder nicht natürlich entscheidet der Arzt darüber, ob ein Todesfall überhaupt zu weiterer behördlicher Kenntnis gelangt und Ermittlungen aufgenommen werden oder der Leichnam bestattet wird. Und der Arzt entscheidet auch, ob Angehörige, die Begünstigte einer entsprechenden Versicherung sind, in den Genuss der vollen Versicherungssumme kommen oder nicht, da diese in der Regel bei natürlichem oder nicht natürlichem Tod verschieden sein können. Das gilt auch dann, wenn mögliche Berufskrankheiten nicht benannt (und durch Obduktion nachgewiesen) werden. Mit anderen Worten kann der Arzt – von keinem bemerkt – einen erheblichen Versorgungsmangel einer ganzen Familie auslösen, wenn der Ernährer einen nicht natürlichen Tod erleidet, der nicht korrekt festgestellt wird. Das ist ein »Behandlungsfehler der ganz speziellen Art«.

    Nur vor einer Feuerbestattung findet eine zweite amtsärztliche Leichenschau statt, da bei der Verbrennung bei nachträglich auftauchenden Verdachtsmomenten sämtliche Beweismittel vernichtet wurden. Die gesetzlichen Regelungen der Feuerbestattung stammen aus dem Jahr 1934. Nicht von ungefähr wurde eine zweite Leichenschau durch ganz bestimmte (befähigte!) Ärzte dem Einäscherungsvorgang vorgeschaltet. Dem Gesetzgeber war längst die Fehlerhaftigkeit der ärztlichen Leichenschau bewusst, und er konnte hemmende Länderdifferenzen auf diese Weise, wenigstens bei Feuerbestattungen, ausgleichen. Die Feuerbestattungsleichenschau wird heute in der Regel von Amtsärzten oder Rechtsmedizinern vorgenommen.

    So wurde eine vollständig bekleidete Leiche einer 86-jährigen Frau zur Einäscherung in einem Berliner Krematorium eingeliefert. Der natürliche Tod durch einen Herzinfarkt war durch ärztliche Leichenschau in der Wohnung der Frau bescheinigt worden. Der Zustand der Bekleidung, darunter die Bedeckung des Halses durch ein hochgeschlossenes Halstuch, war unverändert, was allein auf eine mangelhafte Leichenschau hinwies. Der Leichenschauarzt vermutete einen Herzinfarkt als Todesursache, »weil die Frau im Sitzen gestorben war«. Durch einfaches Entkleiden wurden am Hals Würgemale sichtbar, der Tod war durch Erwürgen eingetreten, wie die Obduktion bewies. Die erst eine Woche später einsetzenden polizeilichen Ermittlungen führten sehr bald zur Aufdeckung eines Raubmords.

    Mit der Qualifikation der Todesart übernimmt der leichenschauende Arzt in unserer Rechtsordnung eine entscheidende Weichenstellung. So wurde ein junger Mann mit einer zirkulär horizontal um den Hals verlaufenden Drosselmarke aufgefunden, die der Leichenbeschauer nicht richtig interpretierte, sondern stattdessen einen natürlichen Tod bescheinigte. Die Tat war hier durch Angehörige begangen worden. Sie entschieden sich für eine Verbrennung, da dadurch sämtliche Beweismittel vernichtet werden sollten. Bei der zweiten Leichenschau fiel dann die Drosselmarke auf. Hätten sich die Angehörigen für eine Erdbestattung entschieden und das Mordopfer mit einem Rollkragenpullover im Sarg aufgebahrt, wäre dieses Tötungsdelikt nie entdeckt worden. In diesem Zusammenhang ist bedenklich, dass sechs Prozent der Klinikärzte regelmäßig – und ausschließlich – einen natürlichen Tod bescheinigen, 30 Prozent der Mediziner kreuzen auch bei Gewalteinwirkung, Vergiftung, Suizid oder ärztlichem Eingriff einen natürlichen Tod an. Fehlerhafte Angaben zur Todesart und Todesursache sind jedoch nicht allein auf diagnostisches Unvermögen des Arztes zurückzuführen, sondern sind auch Folge eines Systemmangels unseres Todesursachenermittlungssystems. Die Leichenschau ist ein relativ grobes Untersuchungsinstrument, mit dem die Todesursache in der Regel nicht zu ermitteln ist, insbesondere wenn der Arzt den Verstorbenen zuvor nicht gekannt hat. Wenn durch die Leichenschau die Todesursache nicht zu klären ist, sollte ein Untersuchungsverfahren mit höherer diagnostischer Aussagekraft eingesetzt werden. Diese Anforderungen erfüllt im Allgemeinen die Obduktion. Deutschland weist jedoch im Vergleich zu seinen Nachbarländern eine außerordentlich niedrige Obduktionsquote auf, die heute deutlich unter fünf Prozent liegen dürfte, davon weniger als drei Prozent klinisch und circa zwei Prozent rechtsmedizinisch. Eine sichere Feststellung der Todesursache setzt jedoch gerade bei unerwarteten Todesfällen eine hinreichend hohe Sektionsquote voraus. In England und Wales wurden 2007 bei 504.300 Todesfällen unabhängig von einer Verdachtslage hinsichtlich Fremdverschuldens 234.500 Todesfälle dem Coroner gemeldet (46 Prozent). Hiervon wurden wiederum 110.400 einer Obduktion zugeführt (47 Prozent), das heißt, circa 20 Prozent der gemeldeten Todesfälle wurden obduziert. Der Coroner ist eine alte englische Rechtsfigur, die sich medizinisch unklarer Todesfälle anzunehmen hat, aber kein Arzt sein muss, sondern häufig ein Jurist ist. In Deutschland werden demgegenüber nur Fälle mit nicht natürlicher oder nicht geklärter Todesart an Polizei und Staatsanwaltschaft gemeldet. Laut Todesursachenstatistik sind im Jahr 2007 unter circa 820.000 Todesfällen jedoch lediglich circa 31.000 als nicht natürlich ausgewiesen worden.

    Sachkenner haben keinen Zweifel daran, dass die nicht natürlichen Todesfälle in der Todesursachenstatistik um 33 bis 50 Prozent unterrepräsentiert sind. Die immer wieder zu Tage tretenden Fehler sind – neben individuellem Versagen – überwiegend Systemmängel unseres Todesursachenermittlungssystems. Doch das bundesdeutsche System ist derzeit so angelegt, dass der »Schwarze Peter« bei fehlerhafter Leichenschau immer beim Arzt bleibt.

    Nach langjähriger Beobachtung lassen sich diese Fehler durchaus systematisieren. Bevorzugt ist das Ausfüllen von Totenscheinen ohne Besichtigung und Untersuchung der Leiche.

    So wird eine zur Einäscherung bestimmte weibliche Leiche mit Pulsaderschnitten zunächst in das Gerichtsmedizinische Institut Berlin eingeliefert. Dabei stellt sich heraus, dass ein Strangwerkzeug, eine Hundeleine, sich am Hals befindet und der Schädel eingeschlagen ist, was Arzt und Polizei übersahen. Die Pulsaderschnitte waren zur Verdeckung des Tatgeschehens erst nach dem Tod gesetzt worden.

    Mitunter werden bei korrekter Leichenschau keine oder falsche Schlussfolgerungen gezogen. So wird bei der Leichenschau eines 50-jährigen Mannes ein Gipsverband ab Oberschenkelmitte zwar gesehen, der Todeseintritt ohne weitere Überlegung aber auf einen Herzinfarkt bezogen. Durch eine telefonische Rückfrage klärt sich der Gipsverband als notwendig wegen eines Kniescheibenbruches nach einem Unfall. Der Hinweis, es könne sich um eine tödliche Lungenembolie, und damit um eine Unfallfolge und folgerichtig um einen nicht natürlichen Tod handeln, beantwortet der Leichenschauer lapidar: »Kann auch sein.« Die Sektion ergibt eine Lungenembolie als Folge einer Thrombose, der Tod ist als Unfallfolge nicht natürlich.

    Und schließlich ist auch damit zu rechnen, dass die Leichenschau mit korrektem Ergebnis durchgeführt wird, auf dem Totenschein aber »mit Rücksicht auf die Familie und auf deren Wunsch«, z. B. bei Selbstmorden in kleinen Gemeinden im ländlichen Raum, natürliche Krankheiten als Todesursache eingetragen werden.

    Es ist eine Fehleinschätzung, dass die Leichenschau die gleiche diagnostische Aussagekraft hat wie die übrigen Ebenen der Todesursachenklärung, etwa Obduktion mit nachfolgenden Untersuchungen. Ein Systemfehler unseres Todesursachenermittlungssystems ist eine fehlende Zwischeninstanz, analog dem Coronersystem mit einer obligatorischen Überprüfung von Todesfällen unabhängig von einer Verdachtslage auf Fremdverschulden. Medizinisch unklare Todesfälle sollten im Interesse einer aussagekräftigen Todesursachenstatistik und der Rechtssicherheit einer Obduktion zugeführt werden. Die DDR besaß gegenüber den alten Bundesländern ein in der sicheren Feststellung der Todesursache und richtigen Qualifikation der Todesart überlegenes Leichenschau- und Sektionsrecht (und erreichte eine Sektionsquote von circa 35 Prozent). Dieses an österreichischen Rechtsnormen orientierte Leichenschau- und Sektionsrecht hätte nach der Wiedervereinigung für die alten Bundesländer übernommen werden sollen.

    Derzeit wird diskutiert, ob die Leichenschau, zu der bislang jeder Arzt herangezogen werden kann, nicht eine hoheitliche Aufgabe werden soll, zu der nur noch speziell qualifizierte Leichenschauer zugelassen werden. Dies würde eine Entkopplung der Todesfeststellung, zu der nach wie vor jeder Arzt verpflichtet ist, von der eigentlichen Leichenschau bedeuten. Sicher mag ein professioneller Leichenschauer geübter in der Bewertung einer Auffindungssituation, der Untersuchung eines Leichnams und der Bewertung von Verletzungszeichen sein, nur wird der professionelle Leichenschauer in der Regel dem Verstorbenen die Todesursache ebenfalls nicht ansehen, sondern ist auf Angaben des vorbehandelnden Arztes angewiesen. Diese kann der professionelle Leichenschauer lediglich hinsichtlich ihrer Plausibilität überprüfen. Würden

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