Transit 43. Europäische Revue: Demkoratie und Krise / Balkan: Laboratorium der Moderne
By Ivan Krastev, Boris Mezhuev and Diana Mishkova
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Book preview
Transit 43. Europäische Revue - Ivan Krastev
(pdf)
Transit 43 (Winter 2012/2013)
Editorial
Demokratie und Krise
Ivan Krastev
Die Logik des Zerfalls
Demokratie und die Krise der Europäischen Union
Jacques Rupnik
Mitteleuropäische Lehren aus der Eurokrise
Janos M. Kovacs
Tradition, Nachahmung, Erfindung
Neue Kapitalismen in Osteuropa
Boris Mezhuev
Perestroika 2.0
Dilemmas der politischen Transformation in Russland
Der Balkan als Laboratorium der Moderne
Diana Mishkova
Transfer der Moderne
Liberalismus und Tradition auf dem Balkan des 19. Jahrhunderts
Dessislava Lilova
Die Konstruktion des Balkans als Heimat
Constantin Iordachi
Unerwünschte Bürger
Die »Judenfrage« in Rumänien und Serbien zwischen 1831 und 1919
Julia Hartwig
Gedichte
Martin Krenn
City Views (2003- 2008)
Photographien
David Martin
Religion und Gewalt
Eine Kritik des »Neuen Atheismus«
Webb Keane
Secularism as a Moral Narrative of Modernity
Slawomir Sierakowski
Verlieren für die Menschen
Czesław Miłoszs Science-Fiction-Roman »Die Berge des Parnass«
Zu den Autorinnen und Autoren
Editorial
Gegenwärtig erlebt die Europäische Union die Erosion der Fundamente, auf denen sie errichtet wurde: Die gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist verblasst, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die geopolitische Dimension an Bedeutung verloren, der Wohlfahrtsstaat steht unter Beschuss, und der Wohlstand, Kernstück der politischen Legitimität des europäischen Projekts, schwindet. »Wenn heute allenthalben das Risiko eines Zerfalls der Europäischen Union beschworen wird«, schreibt Ivan Krastev in seinem einleitenden Beitrag, »ist das nicht nur Rhetorik, nicht nur ein Schreckgespenst, das alarmierte Politiker hervorholen, um den unglücklichen Wählern Sparmaßnahmen aufzuzwingen. Der Zerfall der Union ist eine reale, gegenwärtige Gefahr. Die Schicksale der Habsburgermonarchie, der Sowjetunion und Jugoslawiens führen vor Augen, dass die enormen wirtschaftlichen Kosten ihres Auseinanderbrechens kein Hinderungsgrund für ihren Untergang waren. Schlicht anzunehmen, dass die Union gar nicht zerfallen könne, weil das die Beteiligten teuer zu stehen käme, ist folglich nur ein schwaches Argument für ihre Stabilität.«
Ein wenig Hoffnung geben die Beiträge von Jacques Rupnik und Janos Matyas Kovacs. Rupnik zeigt, dass die Länder Mitteleuropas der Krise – entgegen weitverbreiteten Annahmen – besser widerstanden haben als der Rest der Europäischen Union. Und Kovacs führt uns durch die osteuropäischen neuen Kapitalismen, die vielleicht keine blühenden Landschaften darstellen, deren Vielfalt jedoch eine gewisse Resistenz gegen die Malaisen der westlichen Varianten bietet.
In Fortsetzung der Diskussion über Russland im letzten Heft attestiert Boris Mezhuev dem Land eine schwere Neurose, welche die längst fällige ökonomische und politische Transformation blockiert.
Die Artikel des zweiten Teils sind aus einem Projekt im Rahmen des von dem Historiker Timothy Snyder am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) geleiteten Forschungsschwerpunkts Vereintes Europa – geteilte Geschichte hervorgegangen, das die Rolle des Balkans, seiner Kultur(en) und seiner politisch-gesellschaftlichen Strukturen im Kontext der Entwicklung Gesamteuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht.
Wie Diana Mishkova schreibt, ist es gerade die eigentümliche, manchmal paradoxe Kombination normativ unvereinbarer Positionen und ideo-logischer Hybride, die die Originalität und Kreativität des Balkans im Prozess des Transfers der Moderne, im Guten wie im Schlechten, sichtbar werden lässt und auf diese Weise etwas über das Wesen der Moderne selbst lehrt. Das Bild des Balkans als rückständige Peripherie des »Westens« ist längst obsolet. Zwei Beispiele – die Konstruktion des Balkans als »Heimat« und die Schaffung gesetzlicher Instrumente zum Ausschluss von Juden aus der serbischen bzw. rumänischen Gesellschaft – zeigen, wie früh und intensiv die Entwicklungen in der Region mit jenen in Westeuropa korrespondierte.
Wir freuen uns, unseren Lesern eine Auswahl von Gedichten der 1921 geborenen, in Warschau lebenden Lyrikerin, Übersetzerin und Essayistin Julia Hartwig vorzulegen.
Die Arbeit »City Views« des in Wien und Belfast lebenden Künstlers Martin Krenn führt durch verschiedene europäische Städte. Die zusammen mit StadtbewohnerInnen mit Migrations-Hintergrund gemachten Photographien und begleitenden Kommentare thematisieren alltägliche soziale und kulturelle Probleme, mit denen die Protagonisten konfrontiert sind.
Die beiden Beiträge des Religionssoziologen David Martin und des Ethnologen Webb Keane sind aus dem von Charles Taylor geleiteten IWM-Forschungsprojekt Religion und Säkularismus hervorgegangen und untersuchen die undurchschauten normativen Voraussetzungen der Säkularisierung.
In den Augen Martins ist es ein Paradox, dass sich die Kreuzritter des »Neuen Atheismus (…) als Vertreter einer unzweideutigen Wahrheit präsentieren, wie sie den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaft eigen ist, unter Ausschluss anderer Arten der Wahrheit. Auch sie ergötzen sich an der Erhebung ausschließlicher Wahrheitsansprüche und an einem Selbstbild als Krieger, Helden und Märtyrer um der Sache der Wahrheit willen.« Ihrem Kampf gegen die Religion als Quelle der Gewalt liegt eine säkulare Meistererzählung zugrunde, »die der Idee des Fortschritts verpflichtet ist und Umstände und Entwicklungen übergeht, die ihr widersprechen.« Niemand bestreitet die emanzipatorische Leistung der Aufklärung, aber gern sehen wir ihr, so Martin, ihren Beitrag zur Gewalt nach – »ihre Beihilfe zu Rassismus, Autokratie und Expansionismus ebenso wie ihre Forderung nach Unterwerfung unter ihre Normen«.
Keane spricht von einem »moralischen Narrativ der Moderne«: Es erzählt die Geschichte als Befreiung von falschem Glauben und Fetischismus. Der Säkularismus ist ein Aspekt dieses Narrativs. Aus der ethnologischen Perspektive lässt sich allerdings zeigen, dass er von der Furcht vor seinem Anderen und vor seiner Unvollendbarkeit heimgesucht wird: »Secularism’s triumphalism is undercut with anxiety«. Zu den Paradoxen des Säkularismus gehört, dass sich die Forderung nach Emanzipation von den Götzenbildern nicht mit einer anderen Forderung derselben aufklärerischen Tradition vereinbaren lässt, nämlich dass der Andere in seiner Andersheit Anspruch auf unsere Anerkennung hat. »It is this paradox that helps make the debates of Islam in Europe so fraught: they are not merely between left and right, but produce divisions and contradictions within the traditional political positions.«
Der abschließende Beitrag von Slawomir Sierakowski setzt sich mit einem bisher unpublizierten, als Science Fiction-Roman verkleideten moralischen Traktat von Czesław Miłosz auseinander.
Wien, im Januar 2013
Ivan Krastev
DIE LOGIK DES ZERFALLS
Demokratie und und die Krise der Europäischen Union
Europa steckt in der Klemme. Wenn heute allenthalben das Risiko eines Zerfalls der Europäischen Union beschworen wird, ist das nicht nur Rhetorik, nicht nur ein Schreckgespenst, das alarmierte Politiker hervorholen, um den unglücklichen Wählern Sparmaßnahmen aufzuzwingen. Der Zerfall der Union ist eine reale, gegenwärtige Gefahr. Die Schicksale der Habsburgermonarchie, der Sowjetunion und Jugoslawiens führen vor Augen, dass die enormen wirtschaftlichen Kosten ihres Auseinanderbrechens kein Hinderungsgrund für ihren Untergang waren. Schlicht anzunehmen, dass die Union gar nicht zerfallen könne, weil das die Beteiligten teuer zu stehen käme, ist folglich nur ein schwaches Argument für ihre Stabilität. Ihr Auseinanderbrechen muss auch nicht das Resultat eines Siegs antieuropäischer Kräfte sein. Wenn es zum Kollaps kommt, wäre er wohl eher die Folge einer Lähmung der Union, wobei gleichgültig ist, ob diese Lähmung real ist oder vielleicht nur eine Fehlwahrnehmung der Eliten.
Gegenwärtig erlebt die Europäische Union die Erosion der Fundamente, auf denen sie errichtet wurde: Die gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist verblasst;¹ durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ist das geopolitische Motiv der europäischen Einheit weggefallen; der demokratische Wohlfahrtsstaat, Anker des politischen Konsensus der Nachkriegszeit, steht unter Beschuss; und der Wohlstand, Kernstück der politischen Legitimität des europäischen Projekts, ist arg gebeutelt.
Die Finanzkrise hat die Lebenserwartung von Regierungen, ganz gleich welcher Couleur, stark verkürzt und den Weg für populistische und Protestparteien geebnet. Die öffentliche Stimmung lässt sich am besten als eine Kombination aus Pessimismus und Wut beschreiben. Es wird allgemein erwartet, dass die politische und soziale Instabilität infolge der geplanten Budgetkürzungen zunehmen wird.²
Die neue Stimmung der Angst und Ungewissheit spiegelt sich in der aktuellen, von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie Future of Europe vom April 2012.³ Sie zeigt, dass die Mehrheit der Europäer zwar gern in der EU lebt, dass ihr Vertrauen in die Wirtschaftsleistung der Union und ihre weltpolitische Bedeutung jedoch gesunken ist. Über sechs von zehn Europäern glauben, dass es die heutigen Kinder im Leben schwerer haben werden als ihre eigene Generation. Noch besorgniserregender ist, dass fast 90 % der Europäer einen tiefen Graben zwischen der öffentlichen Meinung und den Entscheidungen der politischen Führung erkennen.
Wenn wir die Desintegration der Union für eine denkbare Option halten, ist es wichtig zu begreifen, was ein solcher Kollaps bedeuten würde. Im Fall des Habsburgerreichs, der Sowjetunion und Jugoslawiens bedeutete Zusammenbruch, dass jeweils ein Staatsgebilde von der Landkarte verschwand und eine Reihe neuer Staaten an seine Stelle trat. Aber die EU ist kein Staat, und selbst wenn sie zusammenbricht, würde sich auf den Landkarten nichts ändern (bei Großbritannien, Belgien und Spanien mag eine geringe Wahrscheinlichkeit eines krisenbedingten Auseinanderfallens bestehen). Und eine Auflösung müsste ja nicht heißen, dass die Mitgliedsstaaten aufhörten, Marktdemokratien zu sein, oder ihre Kooperation aufkündigten und ihre gemeinsamen Institutionen abschafften. Was also ist unter der Desintegration der Europäischen Union eigentlich zu verstehen? Würde der Austritt eines Landes aus der Eurozone oder der Union den Beginn des Zerfalls markieren? Wäre mit dem Verlust von großen Errungenschaften der europäischen Integration, wie sie etwa die Freiheit von Grenzkontrollen oder der Europäische Gerichtshof darstellen, der Zerfall besiegelt? Würde der Kollaps des Euro das Ende der EU signalisieren oder einfach die Rückkehr zum früheren Status quo? Es könnte sich erweisen, dass es sich mit der Desintegration wie mit der Pornografie verhält: Sie ist schwer zu definieren, aber man erkennt sie, wenn man sie sieht. Es ist zu früh, um vorherzusagen, welches Ende die Desintegration der Europäischen Union nehmen wird; sicher ist nur, dass die EU derzeit eine Desintegration erlebt: Der Kollaps des Euro ist eine reale Gefahr, und auch wenn es den europäischen Staatschefs gelingt, den Euro zu stützen, lässt sich der gegenwärtige Status quo nicht halten.
Der Untergang der europäischen Imperien im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der Zerstörung (mehr oder weniger intoleranter) undemokratischer Imperien durch die demokratische Mobilisierung der Öffentlichkeit. Der Aufstieg demokratischer Politik war ein Faktor dieser Desintegrationsprozesse, solange die Liberalen auf der Verliererseite standen. Im Habsburgerreich waren 1848 Liberale und Nationalisten in ihrer gemeinsamen Opposition gegen das autoritäre, nicht ethnisch definierte Zentrum vereint. 1918 endeten sie als Feinde. »Am Ende«, so schrieb Ernest Gellner, »wandten sich praktisch alle ›Ethnien‹, sogar oder gerade die deutschsprachigen, gegen das Zentrum, das sich, wie dynastisch oder traditionalistisch auch immer, schließlich nur noch auf die neuen Leute stützen konnte: die Meritokraten aus Handel und Industrie, Universitäten und gehobenen Berufen, die an der Bewahrung eines offenen Marktes für Waren, Menschen und Ideen und an einer universalistischen, offenen Gesellschaft interessiert waren.«⁴ Was die sowjetische und die jugoslawische Föderation betrifft, so fielen sie nicht nur ihrer strukturellen Schwäche zum Opfer, sondern auch dem unbändigen Verlangen ihrer Völker nach Demokratie. Kurz, die Demokratiebegeisterung der Menschen gehörte zu den Hauptgründen für den Zerfall der neueren europäischen Reiche.
Das Außergewöhnliche an der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union besteht darin, dass es sich um die Krise eines »demokratischen Imperiums« handelt, einer freiwilligen Quasi-Föderation demokratischer Staaten, in der die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger garantiert werden und die demokratische Legitimation der Regierung eine notwendige Bedingung für den Beitritt eines Landes darstellt, in der sich aber mittlerweile Enttäuschung über die Demokratie breit gemacht hat. Beide Faktoren – dass die EU-Mitgliedsstaaten Demokratien sind und dass sich ihre Bürger von der Demokratie enttäuscht zeigen – sind von gleichrangiger Bedeutung. Die zitierte Studie zur Zukunft Europas zeigt, dass nur ein Drittel der Europäer das Gefühl hat, dass ihre Stimme auf EU-Ebene zählt; 18 % der Italiener und 15 % der Griechen glauben nicht einmal, dass sie im eigenen Land ins Gewicht fällt.
Zum ersten Mal seit das europäische Projekt nach dem Ende des Kriegs in Angriff genommen wurde, befinden sich die Ziele, enger zusammenzurücken und zugleich die Demokratie zu vertiefen, im Widerstreit. Solange die Mitgliedsstaaten der Union nicht mehr demokratische Souveränität abgeben, kann eine gemeinsame Fiskalpolitik zur Stützung des Euro nicht funktionieren. Andererseits kann der Zerfall der gemeinsamen Währung zum Auseinanderbrechen der Union führen – mit der Folge, dass in einigen süd- und osteuropäischen Staaten die Demokratie unter die Räder kommt (Ungarn, Rumänien und Griechenland geben einen Vorgeschmack auf Demokratieverachtung und Unregierbarkeit). Vor die Entscheidung gestellt, die Demokratie einzuschränken, um den Euro zu retten, oder in der ungewissen Hoffnung auf eine demokratische Erneuerung einen Kollaps der Währung in Kauf zu nehmen, sehen sich die Europäer gezwungen, das Schlechte gegen das Schlimmere zu verteidigen.
Ich möchte hier die These aufstellen, dass die Europäische Union entgegen den Erwartungen der Demokratietheoretiker nicht aufgrund eines Demokratiemangels der europäischen Institutionen kollabieren wird. Ebenso wenig wird sie durch die demokratische Mobilisierung der Zivilgesellschaft gerettet werden. Paradoxerweise gibt gerade der Demokratieverdruss, der verbreitete Glaube, dass die nationalen Regierungen vor den globalen Märkten machtlos sind, Anlass zu der Hoffnung, dass die neu entstandene Spannung zwischen dem Ziel der Vertiefung der europäischen Integration und dem Ziel des Ausbaus der Demokratie gelöst werden könnte. Allerdings steht die Hoffnung, dass Demokratiemüdigkeit das europäische Projekt retten könne, auf wackligen Beinen. Das Maß der Enttäuschung über die Demokratie unterscheidet sich beträchtlich innerhalb des Kontinents, ebenso wie ihre Auswirkungen an der Peripherie und im Zentrum der Union deutlich variieren. In den Peripherieländern Europas könnte die Enttäuschung über die uneingelösten Versprechen der Politik die Gesellschaften dazu bewegen, mehr Macht an das europäische Zentrum abzugeben, doch zur Verhinderung eines politischen Backlash gegen die Sparpolitik leistet sie nichts. Aufgrund ihres noch verbliebenen Vertrauens in die nationalen demokratischen Institutionen wird es hingegen den nordeuropäischen Wählern wohl schwer fallen, eine politische Union zu akzeptieren. Kurz, ich möchte hier argumentieren, dass Südeuropa nicht nach dem Modell Osteuropas reformiert werden kann und dass es eher die Wählerinnen und Wähler des europäischen Nordens sein werden, nicht jene des Südens, die Deutschlands Idee einer politischen Union zur Stützung der gemeinsamen Währung blockieren.
Warum kann der Süden nicht nach dem Modell des Ostens reformiert werden?
Zu Beginn des postkommunistischen Übergangs postulierte der deutsche Soziologe Claus Offe ein Trilemma der Transformation, das die Politikwissenschaftler aufschreckte. Nach seiner Analyse liegen die drei Ziele Demokratieaufbau, Einführung des Kapitalismus und Staatsbildung im Widerstreit miteinander. Während sich freier Markt und politischer Wettbewerb historisch gegenseitig bestärkt hatten, so dass man fast vermuten konnte, sie seien »Wahlverwandte«, glaubte Offe, dass die politischen und wirtschaftlichen Reformen, die vonnöten waren, um die osteuropäischen Gesellschaften zu transformieren, einander blockieren würden. Wie konnte man den Menschen die Macht geben, sich selbst zu regieren, und gleichzeitig von ihnen erwarten, sich für eine Politik zu entscheiden, die anfänglich zu höheren Preisen, höherer Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit führen würde? Nach Offes Ansicht konnte »eine Marktwirtschaft nur unter vordemokratischen Bedingungen in Gang« kommen.⁵ Kurz, Mitteleuropa war dazu verurteilt, zwischen Marktsozialismus und autoritärem Kapitalismus zu wählen.
Zum Glück funktioniert das, was nach der Theorie zum Scheitern verurteilt ist, zuweilen doch in der Praxis. Mittel- und Osteuropa waren in ihrem gleichzeitigen Übergang zu Markt und Demokratie erfolgreich (auch wenn der Erfolg wohl problematischer war, als gemeinhin angenommen wird). Und es ist die gelungene mitteleuropäische Transformation, die in Deutschland das politische Denken im Blick auf die gegenwärtige europäische Krise wesentlich prägt. Es ist die Erfahrung Polens in den 1990er Jahren, und nicht jene der Weimarer Republik in den 1930ern, die Berlins starken Glauben daran erklärt, dass sich eine Sparpolitik auch dann umsetzen lässt, wenn die Menschen ihre Regierung frei wählen können. Es war der Erfolg der Transformationen in Mittel- und Osteuropa, der die deutschen Politiker davon überzeugt hat, dass man schmerzliche Wirtschaftsreformen durchführen kann, die de facto auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaats hinauslaufen, ohne damit notwendigerweise einen populistischen Rückschlag auszulösen; dass äußere Einmischung in die Innenpolitik souveräner Staaten nicht zur Delegitimierung der nationalen demokratischen Institutionen führen muss, sondern diese stärken kann. »Im Süden vollbringen, was im Osten erfolgreich war«, so lässt sich Deutschlands Reformagenda für Europa zusammenfassen: die Schaffung fiskalpolitisch verantwortungsbewusster Mitgliedsstaaten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Spanien in den 1990er Jahren noch das Demokratisierungsmodell für Polen abgegeben hat, während Polen 2012 zum Transformationsmodell für Spanien und Italien geworden ist.
Aber besitzt die mitteleuropäische Transformationserfahrung tatsächlich universelle Gültigkeit? Meiner Meinung nach gibt es mehrere Faktoren, die eine Transformation des Südens nach dem Modell des Ostens zu einer riskanten Strategie machen. Der intellektuelle, ideologische und psychologische Kontext hat sich seit den 1990er Jahren dramatisch gewandelt. Das Gelingen des osteuropäischen Übergangs (soweit hier von einem nachhaltigen Erfolg die Rede sein kann – Ungarn zeigt, dass er nicht unumkehrbar ist) beruhte auf mehreren Vorbedingungen, die im heutigen Kontext nicht gegeben sind.
Die erste dieser Vorbedingungen war der starke Konsens in der Ablehnung der Vergangenheit und die Existenz eines unstrittigen Modells der guten Gesellschaft, dem die Mitteleuropäer folgen wollten. Die Mehrheit wollte mit dem Kommunismus brechen und war überzeugt, dass Demokratie und Kapitalismus Wohlstand und einen westlichen Lebensstil schaffen würden. Die Lage im Süden ist anders. Während den Griechen, Italienern und Spaniern die Dysfunktionalität ihres politischen Systems bewusst ist, halten sie an ihren Wohlfahrtsstaaten fest, und es gibt kein alternatives Erfolgsmodell, dem sie nacheifern könnten. Während die Mitteleuropäer optimistisch waren, sind die Südeuropäer deprimierend pessimistisch. Den Griechen wird versprochen, dass ihre Wirtschaft im Fall erfolgreicher Reformen binnen eines Jahrzehnts wieder auf dem Niveau vor der Krise liegen wird – in der Tat keine inspirierende Perspektive. Während die mitteleuropäischen Politiker ihre Bürger mit dem Verweis auf das, was sie für die Reformen bekommen würden oder bereits bekamen – Reisefreiheit, ein besseres Leben, EU-Beitritt –, um Geduld bitten konnten, versuchen die südeuropäischen Politiker, ihren Wählern Angst zu machen, indem sie ihnen vor Augen führen, was sie verlieren würden, sollten sie sich der Reformpolitik widersetzen. Es überrascht nicht, dass diese »verängstigten Öffentlichkeiten«