Vergängliche Gefühle
By Ute Frevert
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Ute Frevert
Ute Frevert ist seit 2008 Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo sie den Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ leitet. Die Historikerin lehrte von 2003 bis 2007 an der Universität Yale. Zuvor hatte sie Lehrstühle an den Universitäten Bielefeld und Konstanz inne sowie an der Freien Universität Berlin, der sie seit 2008 als Honorarprofessorin erneut angehört. Ihre Publikationen zur Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte, zur Emotions- und zur Geschlechtergeschichte wurden in zahlreichen Sprachen veröffentlicht. 2020 erhielt sie dafür den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Sie ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy. Die DFG zeichnete sie 1998 mit dem renommierten Leibniz-Preis aus. In Anerkennung ihrer Arbeit, mit der sie »in herausgehobener Weise und im europäischen und internationalen Kontext« über die Wissenschaft hinaus wirkt, wurde ihr 2016 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen.
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Book preview
Vergängliche Gefühle - Ute Frevert
HISTORISCHE GEISTESWISSENSCHAFTEN FRANKFURTER VORTRÄGE
Herausgegeben von
Bernhard Jussen und Susanne Scholz
Band 4
Ute Frevert
Vergängliche Gefühle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Lithographie: SchwabScantechnik GmbH, Göttingen
Druck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN (Print) 978-3-8353-1160-2
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2352-0
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2430-5
Inhalt
I. Was vergeht
Endlichkeit – Lebensspanne – Historizität: Thesen und Einwände – Die Sprache der Gefühle: Ausdruck und Eindruck – Soziale Praktiken und Institutionen
II. Scham und Ehre
Herzenssachen – (Vor-)Moderne Gefühlsökonomien – Weibliche Tugenden: Schamhaftigkeit – Meynung und Gewohnheit – Definitionswandel – Obsessionen und Widersprüche – Natur und Evolution – Die Welt von heute: schamlos? – Sexuelle Scham im 20. Jahrhundert – Soziale Scham und innere Ehre – Beschämungen – Würde statt Ehre – Ehre zwischen Militär- und Zivilcourage
III. Mitleid und Empathie
Moralische Empfindungen – Vom Mitgefühl zum Mitleid – Erziehung des Mitleidens: Theater und Romane – Läppisches versus männliches Mitleid – Brüderlichkeit – Solidarität: Tat statt Phrase – Sozialreform und nationale Solidarität – Mitleid und Ekel – Mitgefühl als Distinktion – Zwischen Natur und Kultur – Reines Mitleid – Fernsten-Liebe? – Menschenrechte – Humanitarismus in der Diskussion
IV. Was bleibt
Anmerkungen
I. Was vergeht
Vergängliche Gefühle: Darunter mag man sich dreierlei vorstellen.
Endlichkeit
Erstens: Gefühle sind flüchtig und instabil, sie haben eine zeitliche Struktur und dauern gemeinhin nicht ewig. Wut steigt auf, bricht los und ebbt ab. Tut sie das nicht und entwickelt sich stattdessen zu einer anhaltenden Raserei, wird sie pathologisch. Gleiches gilt für Freude, Angst, Trauer. Wer sich stets freut, fällt ebenso aus dem Rahmen wie jemand, der von immerwährenden Ängsten geplagt wird. Darüber, wie lange man um einen geliebten Menschen trauern soll und darf, haben sich Gesellschaften seit jeher Gedanken gemacht und unterschiedliche Antworten gefunden.
Die vorerst letzte, aus den USA kommend, hat viel Staub aufgewirbelt und scharfe Kontroversen ausgelöst. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung, die seit 1952 ein Diagnostisches und Statistisches Handbuch psychischer Störungen (DSM) herausgibt, erwägt, Menschen, die auf einen Trauerfall mit Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Energieverlust, Konzentrationsschwierigkeiten und Niedergeschlagenheit reagieren, umstandslos als depressiv einzustufen. Hatte die dritte, 1980 erschienene Auflage des DSM Psychiatern noch empfohlen, ein Jahr abzuwarten, bis sie eine entsprechende Diagnose stellten, war die als ›normal‹ bewertete Trauerphase 1994 bereits auf zwei Monate verkürzt worden. Die fünfte, derzeit diskutierte Auflage will sie auf null herunterschrauben, im wohlverstandenen Interesse der Trauernden, wie es heißt, die auf diese Weise rasch professionelle Hilfe bekommen könnten. Dass die Pharmaindustrie dieses Interesse teilt, versteht sich von selber.¹
Aber auch diejenigen, die gegen die Medikalisierung und Pathologisierung des Trauerns Einwände erheben, stimmen darin überein, dass Trauer eine begrenzte Dauer hat. Sie mag nach Temperament und Lebensumständen variieren. Selbst der größte Verlustschmerz jedoch wird mit zunehmendem Zeitabstand geringer, ebenso wie die Art und Intensität seines Ausdrucks sich verändern. Zudem gibt es kulturell-religiöse Vorgaben und Rahmungen, in die sich individuelles Trauern einpasst und die ihm eine gesellschaftlich akzeptable Form verleihen. Trauerrituale und Trauerpraktiken, die festlegen, wer was zu welchem Zeitpunkt und wie lange tun oder nicht tun darf, sind ebenso endlich wie das Trauerempfinden selber.
Lebensspanne
Dass Gefühle vergänglich sind, bildet sich zweitens im individuellen Lebensverlauf ab. Jugendliche, haben Psychologen herausgefunden, erleben ihre Gefühle nicht nur als ungeordnet und in Aufruhr, sondern lassen auch deutlich mehr negative Gefühle zu als ältere Menschen. Letztere wirken zufriedener, gelassener, optimistischer.
Das widerspricht zwar dem kulturellen Stereotyp vom verbitterten alten Misanthropen. Tatsächlich war man noch in den 1950er Jahren der Meinung, emotionales Wohlbefinden und biologische Funktionstüchtigkeit gingen Hand in Hand und erreichten ihren Höhepunkt mit Anfang zwanzig, um anschließend kontinuierlich zu sinken. Neuere Untersuchungen beweisen allerdings das Gegenteil: Positive Gefühle sind bei älteren Erwachsenen signifikant häufiger zu finden als bei jüngeren. Dafür gibt es viele Erklärungen: mit dem Alter zunehmende Selbstkontrolle, veränderte Motivationen und Lebensziele, weniger Stress und geringere Stressempfindlichkeit. Auch Langzeitstudien belegen, dass Menschen, je älter sie werden, negativen Gefühlen wie Angst, Enttäuschung, Neid, Verachtung oder Wut weniger Raum geben als positiven.²
Historizität: Thesen und Einwände
Gefühle wandeln sich aber nicht nur in der individuellen Lebensspanne, sondern auch in der geschichtlichen Zeit. Um die Historizität von Gefühlen als dritter Dimension von Vergänglichkeit geht es in diesem Buch. Es stellt die These auf, dass Gefühle historische Konjunkturen, Auf- und Abschwünge kennen. Zu manchen Zeiten und in manchen Gesellschaften sind sie stärker, sichtbarer, kraft- und machtvoller als in anderen. Sie gehen vielleicht nicht völlig verloren und verschwinden gänzlich von der Bildfläche. Aber sie rücken in den Hintergrund, geraten womöglich in Vergessenheit. Dabei verändern sie sich: in ihren Bezügen, ihrer sozialen Wertigkeit, ihrem Ausdruck, ihrer Intensität. Sie fühlen sich anders an.
Aber zeichnen sich Gefühle denn nicht, könnte man einwenden, durch eine untrügliche und unwandelbare Phänomenologie aus? Sind sie nicht Teil biologischer Systeme, gebunden an Hirnstrukturen, Nervenbahnen, Herzmuskeltätigkeit und biochemische Botenstoffe? Und sorgt diese Bedingtheit nicht dafür, dass sie sich in gleichbleibenden körperlichen Symptomen äußern?
Scham, zum Beispiel, wird seit jeher mit Erröten identifiziert. Das lässt sich physiologisch herleiten, und über die schaminduzierte Weitung der Blutgefäße haben Mediziner schon im 19. Jahrhundert gearbeitet. Heute weiß man zudem, dass das körpereigene Immunsystem Hormone aktiviert, die den Organismus schonen. Wer sich schämt, fühlt sich wie gelähmt, senkt den Blick, vermeidet den des anderen, wendet das Gesicht ab oder vergräbt es in den Händen. Mimik und Gestik der Scham haben eine lange Geschichte, die mitnichten auf den westlichen Kulturraum beschränkt ist.³
Schamreaktionen gibt es auch nicht nur bei und unter Menschen. Leguane etwa zeigen ein ähnliches Verhalten: Die Muskulatur erschlafft, der Körper signalisiert Demut. Die Aggressionsspirale wird unterbrochen, der Krieg ausgesetzt. Ebenso wie Furcht scheint sich auch Scham evolutionär tradiert zu haben, weil sie für das Überleben des Einzelnen und der Gattung wichtig waren.
Doch heißt das im gleichen Atemzug, dass Scham gleich Scham ist, dass alle Wirbeltiere einschließlich des Menschen sie gleich empfinden und dass sie als erlebbares Gefühl weder von räumlichen noch von zeitlichen oder sachlichen Kontextbedingungen beeinflusst wird? Empirisch-experimentell kann diese Frage nicht beantwortet werden, zumindest beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht. Die affektive Neurowissenschaft, die den Gefühlen auf der Spur ist, steckt noch in den Kinderschuhen. Da sie ihre Probanden vorzugsweise aus engen westlichen Herkunftsmilieus rekrutiert, liegen sozial- und kulturübergreifende Ergebnisse in weiter Ferne. Phylogenetische Untersuchungen bleiben ihr prinzipiell verschlossen, und für Langzeitstudien ist der Atem bislang zu kurz (und das Geld zu knapp).
Eine Beobachtung jedoch lässt schon jetzt aufmerken: Offenbar ist es eine Sache, Gefühle in bestimmten Gehirnregionen zu lokalisieren und zu messen, und eine andere, dieses Gefühl bewusst zu empfinden. Zum Erlebnis gehören Benennung und Bezeichnung. Erst der kognitive Akt der Zuschreibung hebt das, was physiologisch-neuronal wahrgenommen werden kann, in die subjektive Erfahrung. Gefühle, so die logische Konsequenz, sind immer auch sprachlich verfasst und somit an Kultur