Gott im Gehirn? Ich - eine Illusion?: Neurobiologie, religiöses Erleben und Menschenbild aus christlicher Sicht
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Gott im Gehirn? Ich - eine Illusion? - Ulrich Eibach
1. Einführung: Ein fiktives Gespräch
Einige deutsche Neurowissenschaftler haben unser Jahrzehnt als »Jahrzehnt der Hirnforschung« ausgerufen. Auf der Basis der bisher gewonnenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse prophezeien sie, dass die Neurowissenschaften unser Menschenbild grundsätzlich revolutionieren werden.¹ Sie meinen, dass wir uns auf ein rein naturwissenschaftliches, vor allem ein auf den Erkenntnissen der Neurowissenschaften gründendes Menschenbild einstellen und daher auch von vielen historisch gewachsenen und bisher grundlegenden, naturwissenschaftlich aber nicht beweisbaren und demnächst wahrscheinlich widerlegbaren Vorstellungen vom Menschen verabschieden müssten. Diese Behauptungen betreffen in besonderer Weise die religiös bestimmten Aspekte unseres Menschenbildes und damit unser Verständnis von Religion und auch vom christlichen Glauben. Worum es dabei geht, soll einleitend durch ein fiktives Gespräch veranschaulicht werden, das einen nicht-religiösen Aspekt thematisiert.
Ein junger erfolgreicher Molekularbiologe forscht auf dem Gebiet der Neurophysiologie und der Hormonforschung. Als er spät abends nach Hause kommt, gerade noch rechtzeitig, um seinem zweijährigen Sohn vor dem Einschlafen einen Kuss geben zu können, fragt ihn seine Frau, ob er mit seinen Forschungen vorangekommen sei. Er sagt: »Wir sind nahe daran, zu verstehen, wie die Liebe entsteht.« Seine Frau fragt zurück: »Wie meinst du das?« Er antwortet: »Wir können die Prozesse, die dabei ablaufen, biochemisch und elektrophysiologisch jetzt fast ganz aufklären.« Sie: »Und, was bedeutet das?« Er: »Na ja, wir wissen jetzt, wie Liebe sich biochemisch zusammensetzt, wie die Hormone zusammenspielen müssen und wie sie sich physiologisch und biochemisch darstellt. Wenigstens so ungefähr.« Sie: »Ach, ihr wisst jetzt, woraus die Liebe sich zusammensetzt, und vielleicht auch, was sie ist!« Er: »Ja, wenn auch noch nicht in allen Einzelheiten. Sie ist ein bestimmtes Zusammenspiel von optischen und sonstigen Sinneswahrnehmungen, von elektrophysiologischen Reizen und von dadurch ausgelösten physiologischen Reaktionen im Gehirn und von Ausschüttungen von Hormonen, die im Gehirn Gefühle erzeugen und die wir jetzt durch neue Verfahrungen abbilden können.« – »Ach«, sagt die Frau, »das ist ja schön zu wissen, dann braucht man ja nur eine derartige Hormonkonzentration zu erzeugen und schon stellt sich die Liebe ein! Dann bin ich ja überflüssig und auch unser Andreas. Dann kannst du ja auch nur Hormone nehmen und brauchst uns gar nicht. Und – vor allem – dann kannst du immer im Labor bleiben, immer so arbeiten, wie du willst, brauchst auf keine Frau und kein Kind mehr Rücksicht nehmen, musst nicht immer sehen, dass du Andreas abends ab und an noch vor dem Schlafen siehst. Dann kannst du deine Gefühle auch im Labor erzeugen.« Er: »Was redest du denn für einen Unsinn?! So habe ich das doch nicht gemeint!« Sie: »Ja, du hast aber doch gesagt, du wüsstest, was Liebe ist. Eine bestimmte Zusammensetzung von elektrischen Reizen, Hormonen usw. Oder hast du das nicht so gemeint?« Er: »Na ja, also so ist das ja auch nicht ganz. Deshalb bist du und Andreas ja noch nicht überflüssig!« Sie: »Aber, was ist denn wichtiger für die Liebe und ihre Entstehung, ich und Andreas oder die Hormone? Wir sind doch keine Hormone, die man biochemisch beschreiben kann und die man auch in Form von Tabletten einnehmen kann. Wir sind doch Menschen. Und deine Beziehung zu uns, besteht die aus Hormonen?« Er: »Gut, ich will zugeben, diese naturwissenschaftliche Sicht ist etwas einseitig. Auf jeden Fall meine ich nicht, dass ihr überflüssig seid. Ich liebe euch doch!« Sie: »Also meinst du doch auch, dass die Liebe etwas anderes ist als Sinnesreize, elektrische Potenziale, Hormone usw. Oder meinst du wirklich, dass du weißt, was Liebe ist, wenn du die Hormone und die Hirnfunktionen beschrieben hast?«
Dieser fiktive Dialog macht deutlich, dass ein so genannter »physikalischer Reduktionismus« die Basis wissenschaftlichen Arbeitens und Erklärens des Molekularbiologen ist. Gegenstand seiner Arbeit sind Phänomene, die im alltäglichen Leben von grundlegender Bedeutung sind, in diesem Fall vor allem das Phänomen »Liebe«. Zur Diskussion steht in diesem Dialog die Frage, ob die wissenschaftliche Methodik das Entscheidende am Phänomen »Liebe« zu erfassen vermag oder ob sie vielleicht ganz in den naturwissenschaftlich beschreibbaren Dimensionen aufgeht, sich durch sie hinreichend erklären und auf sie reduzieren lässt. Indem in diesem Dialog nicht ein spezifisch religiöses Erlebnis, sondern ein entscheidendes, ja vielleicht das wichtigste, unser ganzes individuelles wie soziales Leben bestimmende allgemeinmenschliche Phänomen, die Liebe, aufgegriffen wird, soll gleich zu Beginn deutlich werden, dass die Thematik sich nicht auf spezifisch religiöse Erlebnisse einengen lässt, sondern dass diese innerhalb der umfassenderen Perspektive menschlichen Erlebens zu bedenken sind. Insofern führt dieser Dialog mitten in die Sache, um die es in unserem Thema geht, nämlich um grundlegende Fragen menschlichen Lebens und um philosophische Fragen unseres Menschen- und Weltbildes, die auch theologisch sehr bedeutsam sind. Die Fragen sind im Grunde alt; die Antworten auf sie waren schon immer und sind auch heute noch recht unterschiedlich. Sie sollen nunmehr mit neuen biotechnischen Methoden einer »naturwissenschaftlichen« Lösung zugeführt werden, sollen also auf der Ebene des naturwissenschaftlich Erforschbaren hinreichend erklärt und verstanden werden.
2. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Fragestellung und zur Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschungen und Hypothesen für das Menschenbild und das religiöse Erleben
a) Regiert der »Geist« die Materie oder die Materie den »Geist«?
Es geht in der anstehenden Thematik um Fragen, die im Laufe der Kultur- und Geistesgeschichte schon lange Gegenstand ausführlicher Erörterungen sind, z.B. um Fragen wie die, ob die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen und in unserem Gehirn und Bewusstsein abbilden, so ist, wie wir sie wahrnehmen, oder ob sie nicht ganz wesentlich ein Konstrukt des Bewusstseins oder gar nur des Gehirns ist. Anders ausgedrückt: Erzeugt das Gehirn sich im Bewusstsein seine eigene Welt, die mit der realen Welt nur bedingt identisch ist? Diese Frage wurde schon vom Philosophen René Descartes (1596–1650) ausführlich behandelt und in der deutschen idealistischen Philosophie des 18./19. Jahrhunderts und dem »Konstruktivismus« unserer Zeit teils dahingehend beantwortet, dass das Bewusstsein sich seine Welt schafft. Die Frage stellt sich auch schon für die sinnlicher Wahrnehmung zugängliche Welt, insbesondere aber für Bereiche des Lebens, die seelisch-geistiger Natur sind und die naturwissenschaftlicher Methodik nicht direkt zugänglich sind. Dazu gehören nicht zuletzt die religiösen Erfahrungen und die Erfahrungen einer der normalen sinnlichen Wahrnehmung transzendenten Wirklichkeit.
Nach Immanuel Kant² ist das menschliche Erkenntnisvermögen und damit auch die theoretische Vernunft begrenzt durch die auf Raum und Zeit beschränkte Erfahrung. Eine Erkenntnis »transzendenter«, der sinnlichen Erfahrung entzogener Wirklichkeiten ist nicht möglich, also auch keine (wissenschaftliche) Erkenntnis darüber, ob es z.B. Gott oder eine unsterbliche Seele und ein Leben nach dem Tode gibt. Kant setzte sich zu seiner Zeit mit dem schwedischen – wie er ihn nannte – »Geisterseher« E. Swedenborg auseinander, der unter anderem den großen Brand von Stockholm vorhergesagt hatte. Für Kant konnte das nur ein »Zufallstreffer«, aber keine Vorhersehung sein. »Schauungen«, auch solche mystischer Art, und andere Weisen der Erfahrung »transzendenter Wirklichkeiten« kann es daher nicht geben. Sie sind nur subjektive Bewusstseinszustände und damit Illusionen. Daher können die entscheidenden Aussagen des Glaubens, wie z.B. der Glaube, dass es einen Gott gibt, nicht durch die theoretische Vernunft erforscht und bewiesen werden.
Man hat die Meinung vertreten, dass Kant mit dieser Erkenntniskritik nicht nur die Reichweite der Vernunft begrenzt, sondern in einer von den aufkommenden empirischen Wissenschaften bestimmten, rein empiristischen Weltsicht auch Freiraum für den christlichen Glauben geschaffen habe, indem er darlegt, dass und warum die entscheidenden Inhalte des Glaubens und der Religion der sinnlichen Erfahrung und der theoretischen Vernunft unzugänglich sind. Zu bedenken ist aber, dass die »Gottesidee« für Kant nur ein Postulat der praktischen Vernunft, eine »regulative« Idee ist. Sie ist denknotwendig, um eine »sittliche Weltordnung«, um die es Kant in seiner praktischen Philosophie vor allem ging und auf die er die Relevanz der Religion im Grunde beschränkte, und ein ihr entsprechendes sittliches Handeln zu garantieren. Im Bereich der sinnlichen Erfahrung kann aber nicht bewiesen werden, dass dieser Idee auch eine unempirische geistige Wirklichkeit entspricht. Dennoch war Kant kein Materialist und auch kein Monist. Er vertrat keinen »physikalischen« oder biologistischen Reduktionismus, der von der Hypothese ausgeht, dass nur dem sinnlich Fassbaren Wirklichkeit zukommt und die gesamte Wirklichkeit sich entsprechend mit den Methoden der empirischen Wissenschaften hinlänglich beschreiben und erklären lässt. Kant dachte vielmehr dualistisch. Nicht das Gehirn schafft Erkenntnis, sondern der Geist (bzw. die Vernunft), der sich des Gehirns bedient. Entsprechend vertrat Kant nur einen das Vermögen der menschlichen Vernunft begrenzenden erkenntnistheoretischen Reduktionismus.
Aber es lag im Zuge von Kants Erkenntniskritik, dass man zu der Schlussfolgerung gelangte, dass alles Erleben, welches Raum und Zeit zu transzendieren vorgibt, nichts anderes ist als ein innerpsychisches Geschehen ohne realen Inhalt außerhalb dieses innerpsychischen Erlebens, also Phantasie, Illusion, Halluzination oder ein sonst wie psychopathologisch bedingtes Erleben. Von Kant aus war der Schritt nicht weit zum reinen »Immanentismus« eines empiristischen Weltbildes und zu der Behauptung, dass wir »transzendente Wirklichkeiten« nicht nur nicht sinnlich erfahren und mit der Vernunft erfassen können, sondern, dass es sie außerhalb des Bewusstseins und damit des Gehirns überhaupt nicht gibt und dass daher alle behaupteten Erfahrungen einer »transzendenten Wirklichkeit« nichts anderes als vom Gehirn erzeugte Illusionen seien.
Zunächst richtete sich dieser Illusionsverdacht vor allem auf die Inhalte der Religionen. Für die Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts sind die wesentlichen Vorstellungen der Religionen »nichts anderes als« Projektionen der menschlichen Seele. So behauptete der Philosoph Ludwig Feuerbach³, dass Gott nur eine Projektion des Menschen sei, der an seiner Unvollkommenheit und Endlichkeit leide und sich deshalb in der Gottesvorstellung die Fiktion eines vollkommenen und unendlichen Wesens schaffe, an dessen Vollkommenheit und Unendlichkeit (Unsterblichkeit) er Anteil zu bekommen wünsche. Die religiösen Inhalte seien demnach »nichts anderes als« Projektionen dieser Sehnsüchte an den illusionären Himmel. Sie würden nur etwas über die Bedürfnisse der Seele, aber nichts darüber aussagen, ob diesen Sehnsüchten eine eigene Wirklichkeit außerhalb der Seele entspricht, auf die sie sich auszurichten wähnen. Diese Wirklichkeit sei eine Illusion.
Von der Antike bis zur Neuzeit und auch noch im deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts ging man davon aus, dass die Materie und mit ihr der Körper im Geist ihr sie formendes und lenkendes Prinzip haben (anima forma corporis bei Thomas v. Aquin), dass also die materiellen Formen des Daseins nicht aus sich heraus, sondern durch dieses belebende Prinzip organisiert und auf ein Ziel hin gelenkt werden. Der Geist hat demnach den seinsmäßigen Vorrang vor der Materie. Dies trifft – mit Unterschieden – auch auf die Sicht der Bibel zu. Die Schöpfung gründet im »geistigen« Wort Gottes. Sie ist Schöpfung kraft des Wortes Gottes. Im Wort Gottes hat die Schöpfung ihren Anfang, ihren schöpferischen, das empirisch fassbare Werden ermöglichenden Grund (1Mo 1). Kraft des Wortes Gottes, das die Schöpfung ermöglicht, hervorbringt und trägt, ist ein geordnetes Werden und eine sinnvolle Ordnung des Geschaffenen, also eine Schöpfung, erst möglich. An die Stelle des Wortes tritt in den weisheitlichen Schriften des Alten Testaments die vor aller Schöpfung existierende »göttliche Weisheit« (Spr 8,22ff; Weish 7,24ff), durch die und in der alles geschaffen ist und durch die das sinnvolle Werden und die Ordnung der Schöpfung ermöglicht wird. Als unsichtbare geistige Grundlage und Struktur durchwaltet und trägt sie die Schöpfung. Nach dem Neuen Testament ist Christus der »Schöpfungsmittler«. Er ist von allem Anfang an bei Gott, ist der »Logos«, durch den Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt geschaffen wird, der alles trägt (Joh 1,2ff; Kol 1,15ff; 1Kor 8,6; Hebr 1,3) und das erst ermöglicht, was sich dann im Werden der Schöpfung aus diesem Wort (»Logos«) heraus konkret entfaltet. Die Vorstellung ist schon im ersten Schöpfungsbericht (1Mo 1) weniger die, dass Gott wie ein Architekt oder ein »Designer« einen Bauplan entwirft, der dann durch Handwerker genau ausgeführt wird, als vielmehr die, dass Gott im Wort, in der Weisheit, im »Logos« der Schöpfung eine kreative Potenz einstiftet, die ein Sein und zugleich ein sinn- und planvolles Werden zu einer geordneten Schöpfung erst ermöglicht, die Welt also trägt und das Werden der Schöpfung zugleich auf ein Ziel ausrichtet, das wiederum der »Logos« oder Gott selbst ist. »Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge (Röm 11,36; vgl. Kol 1,15f).«
Diese Sicht kommt einer platonischen Ideenlehre und vor allem der Vorstellung stoischer Philosophen von der das All durchwaltenden »Weltvernunft« nahe. Sie ist jedoch von letzterer dadurch unterschieden, dass jede Form des Pantheismus und der Einheit von Gott und Welt vermieden wird. Der Kosmos hat nämlich keine Ewigkeit und gründet nicht in sich selbst. Er ist Schöpfung des Gottes, der ihr als freier Herr gegenübersteht, auch wenn er als der »Logos« in diese Welt eingeht, sie durchdringt, durchwaltet und sie so ermöglicht, trägt und lenkt. Insofern sind diese biblischen Aussagen unverzichtbare Grundlage einer christlichen Schöpfungslehre⁴ und nicht zuletzt auch der hier zur Debatte stehenden Vorstellungen zum Verhältnis von Geist und Gehirn. Weder der Kosmos noch das Gehirn sind Größen, die sich selbst hervorbringen und sich selbst lenken. Sie sind auf einen Schöpfer und einen sie ermöglichenden und lenkenden »Logos« angewiesen. Nach christlicher Sicht hat also auch die von Gott geschaffene sichtbare Schöpfung eine sie durchdringende, sie so in ihrem Werden ermöglichende, erhaltende und entfaltende unsichtbare, daher in der Bibel auch »Himmel« genannte Dimension. Am Anfang schuf Gott »Himmel und Erde« (1Mo 1,1), also die unsichtbare und die sichtbare Schöpfung, die zusammen die eine und ganze Schöpfung eines ihr frei gegenüberstehenden und von ihr unterschiedenen Gottes bilden.
In der Bibel wird die Seele als das belebende Prinzip des Körpers verstanden. Sie ist aus dem Körper selbst nicht ableitbar, sondern wurde ihm vielmehr von Gott »eingehaucht«: Das lässt ihn zu einer beseelten und damit lebendigen Leiblichkeit